Sprechstunde – die Sprachkolumne
Fragmente und Liebe

Illustration: Eine Person mit kubistisch übereinander platzierten Augen, dazu eine längliche Sprechblase, die vier Herzen enthält
Die Sprache der Liebe ist die Sprache der Erwartung, der Unsicherheit | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

In ihrem letzten Beitrag kreist Jagoda Marinić um die besondere Sprache der Liebe und der Liebenden. So viele Erwartungen und Unsicherheiten, so viele Fragmente statt lückenloser Geschichten. Aber hier bleibt auch Raum, etwas zu finden, was noch nicht da ist.

Von Jagoda Marinić

Ein Buch, das unvergessen in meinem Kopf schwirrt, heißt Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes. Der bedeutende französische Philosoph und Semiotiker kreist um das Phänomen Liebe: Liebe denken, ihre Fragmente denken, sie in Sprache denken, sie in einer Sprache denken, weil sie nur eine von vielen möglichen sein kann, immer. Jedes Lieben ist auch das Erlernen einer Sprache zwischen zwei Menschen. Es ist ein in sich geschlossener Wortschatz, mit seinen eigenen Bedeutungen. So gibt es Szenen einer Liebe, die eher einem Bild gleichen als einem Satz und sich doch in einem Satz greifen lassen müssen, als gäbe es einen Zwang. Woher die Sehnsucht, das Fühlen in Sprache zu fassen, und woher die Stille, die eintritt, wenn diese Sprache gefunden wird, als sei sie der Zugang zum Erlebnis und nicht etwas, das aus diesem Erleben entsteht?

Worte in die Stille legen

Wie wenige andere Bücher zeigte mir dieses zeitlose Werk von Barthes, dass es Worte sind, die wir in die Stille legen. Oder war es doch andersherum: Legt die Atmosphäre sich in die Worte und schafft die Sprache? Der Moment, den es damals noch gab, als ich dieses Buch las: Man sitzt im eigenen Zimmer, geht nicht aus dem Haus, weil das Telefon klingeln könnte. Niemand lief herum mit klingelnden Begleitkörpern auf Dauerempfang. Die Erwartung der Liebenden als ein sprachloser Raum, der bewohnt wird von Gedanken, Erwartungen, Enttäuschungen, Fragen, Ängsten. Dazu die Stille des Telefons, das nicht klingeln will. Wäre das erste Wort am Telefon ein anderes, wenn man vier Stunden still wartet, statt nur eine halbe Stunde und nebenbei aufgeräumt hätte? In diesem Buch von Barthes ist die Sprache, die Liebe, die Literatur eine Suche. Es geht um den unerfüllten Raum, der Erfüllung sucht, Angst aushält, Enttäuschung ermöglicht, Verlassensein und Nähe. Es ist die Sprache, in der menschliche Verletzlichkeit spürbar wird – insofern braucht es doch die Sprache für die Erfahrung und nicht nur die Erfahrung, um etwas zur Sprache zu bringen.

Das Wörterbuch der Liebenden

Liebe bedeutet auch: Es gibt den Zweifel zwischen mir und dem Möglichen, zwischen dir und mir, weil unsere Worte gleich und doch andere sind. Milan Kundera widmete dem einzigartigen Wörterbuch, das zwischen Liebenden entsteht, ein eigenes Kapitel in seinem Klassiker Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Wie fügen Liebende ihre Worte und deren Bedeutungen zusammen, bis sie die Wörter des anderen verstehen? Dem einen Liebenden ist etwa ein Friedhof eine touristische Attraktion, angesichts derer man darüber sinniert, wie Menschen die letzten Stätten ihrer Toten anlegen. Für den anderen ist der Friedhof ein Ort, an dem er vielleicht schon vor Jahren im Regen stand und einen Menschen in die Erde entließ, den er gerne länger geliebt hätte. Etwas aus jemandem herauslieben, oder etwas in jemanden hineinlieben – geschieht das über das Verstehen der Sprache des anderen, auch der Sprache jenseits des Sprachlichen? Was fängt man mit den Worten an, die man vom anderen verstanden hat, nachdem er gegangen ist?

Möglichkeiten des Fragmentarischen

Die Sprache der Liebe ist die Sprache der Erwartung, der Unsicherheit. Wir haben es mit Fragmenten zu tun, obwohl die meisten Menschen sich einreden, ihr Leben wäre eine Kontinuität aus Geschichten, ein geradliniger Lauf mit einem Vorher und einem Nachher. Das Fragmentarische ist schwerer zu ertragen, gleichzeitig ermöglichen seine losen Enden aber das ständige Suchen nach dem, was noch nicht da ist. Das Lieben. Das Ersehnen. Die Würde der Leerstelle zwischen zwei Worten, zwischen zwei Menschen.
 
In den unzähligen Ratschlägen, die uns aktuell über die unterschiedlichen Medien und Kanäle erreichen, als gäbe es nichts Lebensnotwendigeres als Fragmente zu sortieren und ihnen dabei das Fragmentarische zu nehmen, liest man häufig, wie Menschen und Momente sein sollten, damit sie als normal oder gut gelten könne. Kaum mehr erträglich scheint vielen das Beschreiben und Betrachten zu sein. Verschwindet jemand, ohne weitere Nachrichten zu schreiben oder sich zu erklären, so heißt es heutzutage, dies sei ghosting: Jemand verschwinde wie ein Geist, als ob er nie da gewesen wäre, Liebende bleiben geghostet zurück, liest man, als wäre das Verlassenwerden ein Zustand, der mit solch einer Sprache zu greifen wäre und als hätte der Verlassene keine andere Wahl als das Verlassensein nur zu akzeptieren. Dabei füllt der Verlassene die Stille, die durch das Gehen entsteht.

Eine Sprache für die unvollkommenen Momente

Für viele Zustände, Gefühle, Ereignisse gibt es heute eine Sprache, die Kategorien schafft, die normativ sein will. Nur noch selten erträgt man Fragmente. Dabei ginge es auch anders. Wir könnten so sein: Zärtlich, suchend, tastend, bis die einzigartige Schönheit eines unvollkommenen Moments preisgegeben wird – durch die Sprache, nach der zu suchen man gezwungen war, als etwas nicht da war, als sei es Liebe.

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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