Das Erblühen des Hinterhofs– Teil I
Die indische Dichtung marginalisierter Gemeinschaften emanzipierte sich im Zuge eines umfassenderen Demokratisierungsprozesses, in dem fortschrittszugewandte modernistische und feministische Dichter an die Öffentlichkeit traten.
Die demokratische Tradition in der indischen Dichtung lässt sich auf die Stammeserzählungen und mündliche Überlieferung in eine ferne Vergangenheit zurückverfolgen, in der Wahrnehmungen, Anliegen und Träume der Gemeinschaften in einfachen, einbildungsstarken und tönende Versen ihren Ausdruck fanden. Aus ihnen sprach ein großer Respekt gegenüber der kosmischen Ordnung, ein tiefgehendes Mitempfinden für menschliches Leid und eine mythopoetische Einbildungskraft, die der Natur und dem Leben gleichermaßen einem merkwürdigen Sinn für das Mystische und das Surreale verlieh. Die Epen, die Sangam-Dichtung in der tamilischen, bhaktischen und sufistischen Dichtungstradition und die Dichtung zur Zeit des indischen Unabhängigkeitsstrebens bereicherten diese Tradition, da sie von einem starken reformistischen Geist getragen waren und den bestehenden Status Quo von verschiedenen Standpunkten aus in Frage stellten.
Die neue Blüte
Seit den 1970-er Jahren fand diese Tradition wie nie zuvor zu neuer Blüte – im Zuge der Demokratisierungsbewegungen und einem Erstarken verschiedener bis dahin unterdrückter Teile der Gesellschaft. Diese Dichtung entsprang jenen ‚transversalen Kämpfen‘, von denen Michel Foucault sprach, in denen um Themen wie die Dezentralisierung, das Recht auf kulturelle Differenz, die Kasten- und Gender-Rechte, das ökologischem Gleichgewicht und das Recht der Stammesbevölkerung auf Landbesitz, Sprache und Kultur gestritten wurde. In diesen Kämpfen ging es auch darum, dem Eindringen des Marktes in alle Gesellschaftsbereiche etwas entgegenzusetzen und die daraus entstandenen Reduktion von Freiheit auf Konsumentenrechte, die durch kapitalistische und lokale Kräfte erzwungenen Gleichschaltung der Kultur, die Aufwertung des Wettbewerbs, die Unterdrückung von Autonomie zu bekämpfen, wie eben auch den unterschwelligen Imperialismus in einer einpoligen Welt als Folge der Globalisierung und jener kulturellen Amnesie, der sich das indische Volk mit seiner strahlenden intellektuellen und künstlerischen Tradition und seinem einzigartigen Wissensbeständen und Haltungen zur Welt ausgesetzt sah. Der Modernismus der 60-er Jahre mit seinen individualistischen Tendenzen wurde zunehmend in Frage gestellt, als neue kollektive Identitäten entstanden und sich in beinahe allen indischen Sprachgruppen eine neue oppositionelle Literatur und Widerstandsästhetik herauszubilden begann. Die neuen Kollektive kann man als „imaginierte Gemeinschaften“1 bezeichnen und als „alternative Nationen“, da diese Schriftsteller eigene Vorstellungen von Gemeinschaft und Nation entwarfen und umzusetzen versuchten, durch die die zuvor zum Schweigen gebrachten und unterdrückten Stimmen hörbar gemacht und wahrgenommen werden sollten, um ihnen so ein Mitspracherecht am Großen und Ganzen im Schicksal des Landes zuzusprechen. Jede und jeder Einzelne wie auch jede Gemeinschaft besitzt hiernach das Recht, sich ihre eigene Nation zu konstruieren. In dem Moment nämlich, in dem man diese Nation zu bestimmen versucht, ihr einen Namen gibt und sie in eine religiöse, kulturelle oder kulturelle monolithische Einheit zu verwandeln versucht, löst sich die Idee der Nation in Luft auf und Trennendes wird wirkmächtig. Der indische Pluralismus hat einer behaupteten vorgeblichen Einheit, wie sie von den hinduistischen Rechten propagiert wurde, stets widerstanden, wie auch der Idee, dass Hindi die alleinige ‚offizielle‘ Nationalsprache des Landes sei. Diejenigen, die dies fordern, sind schlicht Feinde der Vielfalt und somit auch unser Demokratie. In den letzten 25 Jahren sind diese Bewegungen im Mainstream angekommen, hauptsächlich aufgrund von Übersetzungen ins Englische und Hindi.
Die fortschrittlichen Modernen
In der Dichtung spiegeln sich diese entstehenden kollektiven Identitäten durch vielzählige Idiome und Artikulationsweisen. Eine der Kollektivgemeinschaften besteht aus solchen Dichtern, die eine soziale Agenda haben, auch wenn sie unterschiedliche ideologischen Standpunkte vertreten mögen. Es gibt ein weites Spektrum von Abweichlern mit einer demokratischen Grundüberzeugung, auch wenn sie das gegebene System nicht in der Lage sehen, die Bedürfnisse der einfachen Leute zu erfüllen. Zu ihnen zählen die Gandhians, die Anhänger von Ram Manohar Lohia und M.N.Roy – eine leider immer kleiner werdende Gruppe –, die Kommunisten verschiedener Richtungen sowie liberale Humanisten unterschiedlichster Couleur. Sie alle teilen die Überzeugung, dass Klassenungleichheiten herrschen, und träumen von einer gerechteren Gesellschaft. Von den alten progressiven Schriftstellern unterscheiden sie sich durch ihre neuen Schreibweisen, deren Ausdrucksmittel sie zum Teil von den Modernisten übernommen haben – Ironie, schwarzer Humor, freie Versformen, Prosa in verschiedenen Tonfällen und Ausdrucksweisen, neue Bildlichkeit, surreale Metaphern, neue Formen wie sequentielle Gedichte, poetische Kreise, das Langgedicht, ausschweifende Lyrik und so weiter. Kurz gesagt, sie verbinden die sozialistischen Ansichten der Progressiven mit der Gegenwartsästhetik der Modernisten.In ihrer Dichtung kommt auch eine ausgesprochene Aufmerksamkeit für die Komplexität und Paradoxien des Lebens in unser Gegenwart und im urbanen Raum zu Ausdruck. Stellvertretend für die Hindi-Dichtung kann man Namen wie Kunwar Narain, Kedarnath Singh, Vinod Kumar Shukla, Manglesh Dabral, Rajesh Joshi, Arun Kamal, Riruraj, Asad Zaidi neben weiteren aus einer jüngeren Generation anführen. Für die anderen Sprachen wären Namen zu nennen wie Surjit Pather für Punjabi, H. S. Shivaprakash für Kannada, Joy Goswami für Bengali, Kedar Mishra für Oriya, Chandrakant Patil für Marathi, Jayant Parmar für Urdu, K. G. Sankara Pillai für Malayalam oder Varavara Rao und Gaddar für Telugu, um nur die Bekanntesten zu erwähnen. Einige dieser Dichter haben alte volkstümliche Traditionen wiederentdeckt und mit neuen Nuancen versehen, während einige maoistische Dichter einen neuen Symbolismus geprägt haben, der die Ankunft einer neuen revolutionären Romantik markiert. Viele dieser Dichter bevorzugen eine klare, unsentimentale und konkrete Sprache, um ihrer Abscheu gegenüber dem System Ausdruck zu geben, das ganz in der Tradition von Dhoomils Gedichten wie „The Cobbler“ and „The Night of Language“ steht.
Der Aufstieg der Dichterinnen
Eine weitere imaginierte Gemeinschaft bilden die Dichterinnen, von denen in den letzten drei Jahrzehnten eine ganze Reihe in diversen indischen Sprachen mit einer starken feministischen Agenda auf sich aufmerksam gemacht hat. Gibt es in Indien durchaus eine Tradition von weiblichen Dichterinnen, die bis zu den buddhistischen Nonnen ins 6. vorchristliche Jahrhundert zurückreicht, so ist eine solche Dichtung, die sich ganz ausdrücklich der weiblichen Emanzipation verschrieben hat und Genderfragen zum zentralen Anliegen macht, doch eine Erscheinung der jüngeren Zeit. Zunächst waren da Dichterinnen wie Kobita Sinha, Nabaneeta Dev Sen, Amrita Pritam and Kamala Das, nun gibt es eine Reihe von Vertreterinnen von Eunice de Souza und Sujata Bhatt für das Englische über Mallika Sengupta und Mandakranta Sen für Bengali, Pravasini Mahakud und Ranjta Nayak für Oriya, Pratibha Nandakumar und Mamta Sagar für Kannada, Tarannum Riaz für Urdu, Manjit Tiwana für Punjabi, A. Jayaprabha oder Kondepudi Nirmala für Telugu, Kutty Revathy, Sukirtharani oder Salma für Tamil, Anuradha Patil oder Aruna Dhere für Marathi, Anamika oder Gagan Gill für Hindi oder Vijayalakshmy, Savitri Rajeevan, V.M. Girija, Dona Mayoora oder Anitha Thampi für Malayalam neben weiteren Dichterinnen, die in beliebten Anthologien wie Arlene Zides In Their Own Voice (Penguin, 1993) und der von Susie Tharu und K. Lolita herausgegebenen Sammlung Women Writing in India: 600 B.C. to the Present (in zwei Bänden, Feminist Press, NY, 1991, 1993) neben weiteren Zusammenstellungen und Anthologien in verschiedenen Sprachen publizierten. Diese Dichterinnen fordern die Normen eines phallozentrischen Diskurses heraus, stellen den patriarchalen Kanon in Frage und versuchen stimmige Sprechweisen zu entwerfen, um der besondere weibliche Empfindung von Schmerz, Einsamkeit, Verlangen und Lust ihren Ausdruck zu geben. Doch weibliche Dichtung selbst ist nicht etwas Einheitliches, sondern umfasst ganz verschiedene Traditionen und ein breites Spektrum von Formen und Erfahrungsweisen. Die Dichtung von urbanen Muslima wie Amar Sheikh oder Imtiaz Dharker, Exilantinnen wie Panna Naik oder Meena Alexander oder Dalits wie Jyoti Lanjewar, Pradnya Lokhande und Hira Bansode reflektieren Erfahrungen in einer je eigenen Gemeinschaft innerhalb eines größeren Spektrum von weiblicher Dichtung.Man findet dies in einem auf Marathi verfassten Gedicht von Jyoti Lanjewar wie folgt ausgedrückt: Die unmenschlichen Gräueltaten haben Höhlen
in den Fels meines Herzens gegraben.
Ich muss den Wald mit vorsichtigen Schritten behandeln,
die Augen fest auf die sich wandelnden Zeiten gerichtet
Die Gewichte haben sich verschoben
Widerstand glimmt auf
jetzt hier, jetzt hier.
Ich war die Tage über stumm
hörte auf die Stimme von Richtig und Falsch.
Jetzt möchte ich die Flammen anfachen
der Menschenrechte.
Wie gelangten wir an diesen Ort,
in dieses Land, das für uns nie zur Mutter wurde?
Das uns nicht einmal
ein Leben wie Hunde und Katzen erlaubt?
Ich werde zum Zeugen ihrer unverzeihlichen Sünden und
verwandle mich, hier und jetzt,
in eine Rebellin
(Höhlen, nach der Übersetzung ins Englische von Shanta Gokhale.)
Verweise
- In seinem zum Klassiker gewordenen Buch „Die Erfindung der Nation“ entwickelte Benedict Anderson eine solche Theorie des Nationalismus und die Vorstellung der Nation als einer sozial konstruierten Gemeinschaft, die von einer Gruppe von Menschen erdacht wird.
K Satchidananda ist ein indischer Dichter und Kritiker, der in Malayalam und Englisch schreibt. Er gilt als Pionier der modernen Dichtung in Malayalam. Er ist zweisprachiger Kritiker, Literaturkritiker, Bühnenautor, Herausgeber, Übersetzer und Kolumnist. Er war Herausgeber der Zeitschrift für Indische Literatur (Indian Literature Journal) und Schriftführer bei der Sahitya Akademi. Satchidanandan hat 60 Bücher in Malayalam veröffentlicht, darunter 21 Gedichtbände, ebenso viele Gedichtübersetzungen, Bühnenstücke, Essays, Reiseberichte und vier literaturkritische Essaybände in englischer Sprache. Er hat 32 Literaturpreise erhalten, unter anderem den Sahitya Akademi Award. Von der italienischen Regierung wurde er in den Ritterstand erhoben.