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Rosinenpicker
Eine Kindheit im Krieg

Sepp Malls neuer Roman erzählt ein Südtiroler Familienschicksal während des Zweiten Weltkriegs. Er tut das aus der gleichermaßen unschuldigen wie erschütternden Perspektive eines Kindes.

Von Holger Moos

Mall: Ein Hund kam in die Küche (Buchcover) © Leykam Mehrere Optionen zu haben, klingt zunächst einmal gut. 1939 handelten das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland eine so genannte Option aus. Damals wurde die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Italiens, also hauptsächlich die Bevölkerung des heutigen Südtirols, vor die Wahl gestellt. Sie sollten entweder die Option für das Deutsche Reich mit anschließender Emigration ziehen oder in Italien bleiben. Doch mit individueller Selbstbestimmung hatte dies wenig zu tun. Denn durch die Italianisierungskampagne auf der einen Seite und die nationalsozialistische Propaganda für die Umsiedlung ins Deutsche Reich auf der anderen war die Entscheidung sehr konfliktträchtig, einschließlich gewaltsamer Übergriffe und Terrorakte von „Optanten“ auf „Dableiber“. Bis 1943 emigrierten etwa 75.000 Menschen nach Hitler-Deutschland, von denen nach Kriegsende nicht wenige in die alte Heimat zurückkehrten.

Das ist der historische Hintergrund von Sepp Malls Roman Ein Hund kam in die Küche, in dem 1942 eine Familie ins Deutsche Reich auswandert. Während der von der Nazi-Propaganda infizierte Vater diese Entscheidung fällt, der sich die die resignierte Mutter beugt, ahnen die beiden Söhne Ludi und Hanno nicht, was ihnen bevorsteht. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des elfjährigen Sohnes Ludi. Sein jüngerer Bruder Hanno ist körperlich und geistig beeinträchtigt.

Total deitsch

Auf der ersten Station ihrer Reise, in Innsbruck, wird die Familie von Ärzten untersucht. Diese entscheiden, dass Hanno in einer dortigen Heil- und Pflegeanstalt bleiben muss. Wir wissen heute, was das bedeutet. Ludi ist erschüttert, dass die Restfamilie die Reise ohne seinen geliebten Bruder fortsetzt, doch er glaubt, dass Hanno nur für eine begrenzte Zeit dort bleiben muss.

Man reist also weiter in den Reichsgau Oberdonau, das heutige Oberösterreich, der Vater wird kurz darauf in die Wehrmacht eingezogen. In der neuen Umgebung merkt Ludi schnell, dass ein Unterschied gemacht wird zwischen den Reichsdeutschen und zugewanderten Volksdeutschen wie ihnen. Ein Junge fragt ihn in österreichischem Dialekt, ob er und seine Familie „deitsch seien… Kane Italiener?“ Ludi weiß, was er antworten muss, und imitiert die Sprache des Jungen: „Na, kane Italiener… Total deitsch“, betont er. Damit steht der Freundschaft mit diesem Jungen namens Siegfried nichts mehr im Wege.

Hanno wird unterdessen in die bayerischen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee verlegt, aus der die Familie bald ein amtliche Mitteilung vom Tod des Sohnes erhält. Diagnose: Lungenentzündung. Für Ludi wird sein verstorbener Bruder anschließend zum imaginären Begleiter. Er erscheint ihm nicht nur in seinen Träumen, sondern auch im Wachzustand.

Keine Worte für den Abschied

Eine Geschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, ist kein neuer erzählerischer Kniff, aber auch kein leichtes literarisches Unterfangen. Sepp Mall ist dies vollauf gelungen. Die Reduziertheit der Sprache und das fehlende Wissen um das, was in der Welt gerade vor sich geht, schaffen einen unschuldigen Resonanzraum. Die kindliche Diktion klingt zunächst verharmlosend. So wird etwa zu Beginn aus der Auswanderung in Ludis Sprache eine schlichte „Wanderung“, das klingt wie ein kleiner Ausflug und nicht so endgültig. Aus geflüchteten Sudetendeutschen werden „Schwedendeutsche“. Als der Vater „im Feld steht“, denkt Ludi an einen Rübenacker. Auch das Wort Euthanasie fällt im gesamten Roman nicht einmal, doch durch das Unausgesprochene erscheint das Menschenverachtende sogar noch erschütternder.

Ein wichtiges Thema ist auch die Sprachlosigkeit. Das wird gleich zu Beginn des Romans deutlich: „In unserer Familie gab es keine Worte für den Abschied. Mein Vater hatte keine und meine Mutter auch nicht.“ Sepp Mall erzählt überzeugend von dieser Sprachlosigkeit, von dem Ungesagten, von dem, worüber die Erwachsenen nicht reden wollen. Unter diesen Bedingungen bleibt Ludi nur die traurige Zwiesprache mit seinem verstorbenen Bruder, der sich nun mit dem Sprechen viel leichter tut. Mit dem Kriegsende verschwindet Hanno aus Ludis Vorstellungswelt, als sei seine Seele, und vielleicht auch die von Ludi, nun etwas zur Ruhe gekommen.

Die Geschichte endet schließlich für Ludi und seine Mutter – wie bei dem titelgebenden Endloslied Ein Hund kam in die Küche (in Deutschland bekannt unter dem Titel: Ein Mops kam in die Küche) – wieder dort, wo sie begann: Eines Morgens „wandern“ sie mithilfe eines Schleusers, wie man heute sagen würde, über die grüne Grenze zurück nach Südtirol. Doch die vertraute Umgebung hat sich verändert, auch wenn die „Inschriften für den Duce und seine Partei“ noch durchschimmern. Als der durch Krieg und Gefangenschaft schwer traumatisiert heimgekehrte Vater einen Zusammenhang zwischen seiner Schuld und Hannos Tod herstellt, stößt auch Ludi an die Grenze des Sagbaren: „All das hätte ich Hanno nicht gesagt, nicht sagen können.“
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche. Roman
Graz: Leykam, 2023. 192 S.
ISBN: 978-3-7011-8286-2
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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