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Rosinenpicker
Nicht zu kitten

In ihrem neuen Buch arbeitet Angelika Klüssendorf nochmals die schmerzhafte Kindheit und Jugend des Mädchens aus ihrer Roman-Trilogie auf.

Von Holger Moos

Klüssendorf: Risse (Buchcover) © Piper „Das Mädchen ist zurück“, so kündigte der Piper Verlag das neue Buch von Angelika Klüssendorf an. Damit bezieht er sich auf die autobiografisch grundierte Roman-Trilogie Das Mädchen (2011), April (2014) und Jahre später (2018), in der die Autorin die Lebensgeschichte einer weiblichen Hauptfigur erzählt, die eine Leidensgeschichte ist. Eine Leidensgeschichte, die auf einer ganz und gar schrecklichen Kindheit zu Zeiten der DDR basiert.

Klüssendorfs neues Werk Risse arbeitet diese Geschichte nun nochmals auf. Wie der Titel ahnen lässt, wird auch in diesem Buch nichts gekittet. Risse sind und bleiben Risse. Und noch in anderer Hinsicht handelt es sich um eine Wiederaufarbeitung. Denn die versammelten Episoden aus der Kindheit des Mädchens entstammen dem Erzählband Aus allen Himmeln, erschienen  bereits 2004. Klüssendorf hat die zehn Geschichten leicht überarbeitet, so angeordnet, dass sich eine Chronologie ergibt, und ihnen jeweils am Ende kursiv gesetzte Kommentare hinzugefügt: Erinnerungen, Erläuterungen, Ergänzungen, manchmal auch Widersprüche aus der Perspektive der Verfasserin, die etwas zu der beschriebenen Realität hinter den Figuren preisgeben.

Korrumpierbar für ein wenig Zuneigung

Risse beginnt mit einem, ebenfalls kursiv gesetzten Text, in dem die Ich-Erzählerin sich an ihre alte, mittlerweile verstorbene Mutter erinnert, die sie über 30 Jahre lang nicht gesehen hatte. Ein Telefonat nach Erscheinen des Erzählbands Aus allen Himmeln steht stellvertretend für die verletzende Art der Mutter. Kühl kanzelt sie ihre Tochter ab: „Du hast schon immer gelogen, sagte sie, mit Abscheu in der Stimme.

Jede der folgenden Geschichten erzählt eine andere Facette menschlicher Grausamkeit. Das Mädchen lebt in einer haltlosen Welt. Die kalte Mutter nötigt beide Töchter, ihre vergehende Schönheit zu bestätigen, sie trinkt, schickt das ältere Mädchen klauen. Der Vater ist suizidgefährdeter, schwerer Alkoholiker, der Frauen vergewaltigt. Auch die Welt der Gleichaltrigen, etwa während der Heimaufenthalte des Mädchens, ist durch Grausamkeiten gekennzeichnet. Klüssendorfs Buch ist ein Reigen menschlicher Abgründe, der Mensch erscheint narzisstisch, verzweifelt, bösartig, verletzend, „ korrumpierbar für ein wenig Zuneigung“.

Annäherung an Leerstellen

Die Erzählperspektive ändert sich stets, manchmal auch innerhalb eines Kapitels. Mal wird aus der personalen Erzählperspektive der Mutter begonnen, um kurz darauf die Sicht des Vaters einzunehmen, um schließlich in der Ich-Erzählung des Mädchens zu enden. Auch andere Personen kommen zu Wort: In einem Kapitel erinnert sich eine junge Erzieherin im Kinderheim an das Mädchen, dann wieder spricht der Freund eines Jungen, der vor vielen Jahren an der Ostsee verschiedene Mädchen zum „Ficken“ in die Heide gelockt hat.

Was Klüssendorf reflektiert und literarisch gekonnt beschreibt, sind Kindheitsverheerungen, bedrückend und niederschmetternd. Gleich zu Beginn schreibt die Ich-Erzählerin zwar, dass es keine Wunden gebe, „die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte“.
 
Angelika Klüssendorf: Risse
München: Piper, 2023. 176 S.
ISBN: 978-3-492-05991-6

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