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Interview
Joachim Retzlaff

Buchcovers: Borgerlig offentlighet , Dilemmat i Kiev och Det vi inte kan råda över
© Arkiv förlag/Bokförlaget Stolpe/Bokförlaget Daidalos

Joachim Retzlaff übersetzt seit Anfang der 1980er Jahre Sachbücher aus dem Deutschen, Englischen und Dänischen. Insbesondere philosophische Texte sind Gegenstand seiner Übersetzungsarbeiten. Kant, Arendt, Habermas und Sloterdijk sind einige der deutschsprachigen Denker*innen, die auf Schwedisch verfügbar gemacht wurden.

Du arbeitest seit mehr als 40 Jahren als Übersetzer, vor allem im Bereich der Sachliteratur. Erinnerst du dich an deinen allerersten Übersetzungsauftrag? 
 
Das war eine Einführung in meinen damaligen Lieblingsphilosophen Ernst Bloch, teils von ihm selbst geschrieben, teils von Detlef Horster – Bloch zur Einführung. (Utopi och materialsm, Röda Bokförlaget 1981). 
 
Wie kam es, dass du Übersetzer von deutscher Sachliteratur wurdest? 
 
Der Hintergrund war, dass ich dem Verlag Röda Bokförlaget (jetzt Daidalos) von Ernst Bloch erzählte, der meiner Meinung nach ins Schwedische übersetzt werden sollte. Der Verlag antwortete mir, dass sie niemanden hätten, der sich mit der Philosophie Blochs auskenne und es machen könne. Wenn ich also eine schwedische Übersetzung sehen wollte, musste ich sie selbst anfertigen. Und so fing es an, mit einem extrem langsamen Tempo. Damals hatte ich die alleinige Verantwortung für eine kleine Tochter, und das Übersetzen war eine Arbeit, die sich gut mit der Erziehung kleiner Kinder vereinbaren ließ. Also dachte ich, ich könnte das ein paar Jahre lang machen, woraus jetzt über vierzig Jahre wurden … 
 
Du hast eine Menge Literatur übersetzt, die viele als ziemlich unzugänglich ansehen würden – von Philosoph*innen wie Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Hannah Arendt bis hin zu Albert Einsteins Relativitätstheorie. Gibt es ein Werk oder eine*n Denker*in, dessen Übersetzung ins Schwedische dir besonders schwergefallen ist? 
 
Alle Texte haben natürlich ihre Probleme. Vielleicht überraschend für diejenigen, die es nicht selbst ausprobiert haben, sind jedoch Mentalitätsunterschiede, oder wie auch immer man es nennen will; ein Problem, das den inneren Dialog zwischen Autor*in und Übersetzer*in knarren lässt, was bedeutet, dass ich vielleicht nicht sofort an Bord bin, noch einmal lesen und mich besonders konzentrieren muss, um dem Gedankengang zu folgen. Das hat also nichts mit politischen Antipathien oder Unterschieden in der Weltanschauung zu tun. Mein schlimmstes Beispiel ist Max Weber, von dessen Wirtschaft und Gesellschaft ich den zweiten Teil übersetzt habe, als Agne Lundqvist anfing müde zu werden (Argos 1987): Trotz meines großen Respekts für Webers enzyklopädisches Wissen und seine Theoriebildung hatte ich das Gefühl, eine Art persönliche Antipathie gegenüber dem Mann zu entwickeln. Ein anderer Denker, mit dem ich keine richtige Kongenialität entwickelt habe, ist Kant. 
 
Was übersetzt du derzeit? 

Im Moment arbeite ich an Hanno Sauers neu erschienenem Buch Moral. Die Erfindung von Gut und Böse, das über 5 Millionen Jahre vormenschlicher und menschlicher Moralentwicklung hinwegfegt. Forschungsergebnisse werden mit anregenden Gedanken vermischt, die sich in viele Richtungen ausbreiten (nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2023).
 
Vor einiger Zeit wurde ich fertig mit der Übersetzung von der Sammlung Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, mit drei kürzeren Texten von Jürgen Habermas. Es ist unglaublich, dass er, der in diesem Sommer 93 Jahre alt geworden ist, immer noch seine Theorien entwickelt und sich an der öffentlichen Debatte beteiligt! Neulich habe ich auch ein sehr interessantes Buch der deutschen Journalistin Ulrike Herrmann, Das Ende des Kapitalismus übersetzt, die argumentiert, dass die Klimakrise, wenn sie nicht zur Zerstörung führen soll, eine radikale Änderung des Wirtschaftssystems erzwingen wird. Damit steht sie natürlich nicht allein, der Club of Rome hat beispielsweise kürzlich eine Reihe weitreichender Vorschläge gemacht – siehe En jord für alla (auf Deutsch: Eine Erde für alle, Natur och Kultur Jan. 2013, ebenfalls von mir übersetzt). Herrmann geht aber auch die Geschichte des Kapitalismus von der ursprünglichen Akkumulation aus durch und befasst sich insbesondere mit dem interessanten Beispiel der britischen Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs, die so stark politisiert war, dass es eine Frage der Definition ist, ob sie kapitalistisch war oder nicht. Und genau diese Art von harter Regierungsführung ist notwendig, um der Klimabedrohung zu begegnen. 
 
Was würdest du sagen, ist die schwierigste Herausforderung beim Übersetzen vom Deutschen ins Schwedische? 
 
Ein*e Übersetzer*in von Belletristik hätte vielleicht die Anrede und den förmlicheren Umgang am Arbeitsplatz und in sozialen Kontexten außerhalb des Freundeskreises erwähnt: Wann fangen die Leute an, sich in verschiedenen Umgebungen zu duzen? Für Fachübersetzer*innen, zumindest von akademischer Literatur, sind es die langen Sätze und der komplizierte Satzbau – mit dem Hauptverb zuletzt, versteht sich. Es dauert wesentlich länger, einen (halbwegs) flüssigen schwedischen Text zu finden, als einige extrem ungewöhnliche englische Glossen nachzuschlagen, mit denen ein*e Oxford-Akademiker*in seine Texte gerne bestreut – um ein Beispiel aus einer anderen akademischen Kultur zu nennen. Ein entsprechender schwedischer Text darf, wenn er mit der schwedischen akademischen Kultur übereinstimmen soll, beides nicht tun, weder Mandarin-Schwedisch schreiben noch halb unverständliche, archaische schwedische Wörter einstreuen, nur um anzugeben – andererseits muss er (zu) viele Anglizismen und den neuesten modischen Jargon enthalten. Und bei der Übersetzung geht es nicht nur um Wörter, sondern auch um Kultur, was bedeutet, dass man ein feines Gleichgewicht zwischen Ausradierung/Trivialisierung und Hervorhebung/Exotisierung kultureller Unterschiede finden muss. 
 
Als Übersetzer*in macht man fremdsprachige Literatur für eine neue Leserschaft zugänglich. Gibt es eine*n Autor*in oder ein Werk, auf das du besonders stolz bist oder dich freust, es schwedischen Leser*innen vorgestellt zu haben? Wenn ja, warum? 
 
Ich bin immer noch stolz auf Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft (Alba 1988), ein anregender 900-seitiger Essay, der auf leichten Flügeln durch die Geschichte fliegt – ich denke, meine Übersetzung würde ich auch heute noch für gültig halten. Eine wichtige, anregende und amüsante Bekanntschaft war Hans-Peter Duerr, von dem ich besonders den dreibändigen Mythos vom Zivilisationsprozess (Symposion 1994-98) und die zweibändige Anthologie Die großen Philosophen, herausgegeben von Otfried Höffe, erwähnen möchte, ein Klassiker, der die Zeit überdauert (Forum 1995). Einer der großen Vorzüge der Anthologie besteht darin, dass sie von Experten über den betreffenden Philosophen geschrieben wird und nicht von einem einzigen, normalerweise analytischen Philosophen, der die gesamte Geschichte der Philosophie durchkämmt.

Ich halte es auch für wichtig, dass einige zeitgenössische deutsche politische Denker*innen und Sozialphilosoph*innen durch mich einem schwedischen Publikum zugänglich sind, wie Jan-Werner Müller, Wolfgang Streeck und Harmut Rosa, insbesondere sein neuestes Werk, das kleine, feine Det vi inte kan råda över (Daidalos 2020, auf Deutsch unter dem Titel Unverfügbarkeit erschienen). Ein besonderer Fall, auf den ich wegen seiner Komplexität stolz bin, ist das Original von Aby Warburgs bemerkenswerten Kunstgeschichtstexten (Faethon 2022), nur für Feinschmecker!

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