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Interview
Jens Christian Brandt

Jens Christian Brandt; Buchcovers: Transit, den svenske ryttaren och Februari 33
© Nillson/Nirstedt Litteratur

Wie ist es, Kritiker und Übersetzer zugleich sein? Jens Christian Brandt kennt beide Seiten des Literaturbetriebs. Hier spricht er über das Dilemma des Kritikers, dem Übersetzer eine faire Rezension zu geben und warum es für einen Literaturkritiker manchmal notwendig sein kann, sich mit Übersetzungen zu beschäftigen.

Du bist in erster Linie Literaturkritiker und Kulturjournalist, hast aber in den letzten Jahren auch viel deutsche Literatur übersetzt, darunter Anna Seghers Klassiker „Transit“ und zuletzt Uwe Wittstocks „Februar 1933“. Wie kam es, dass du angefangen hast, mehr zu übersetzen? 
 

Ich denke, sowohl Kritiker*innen als auch Literaturübersetzer*innen sind leidenschaftliche Leser*innen. Sie beschäftigen sich mit Literatur aus dem Wunsch heraus, in den Text einzudringen, über den passiven Konsum hinauszugehen und stattdessen ein aktiver Mitgestalter oder zumindest ein Interpret zu werden. In den letzten Jahren habe ich eine gewisse Bewegung unter den Kritikerkolleg*innen beobachtet; einige erfahrene Rezensent*innen haben sich dafür entschieden, mehr Zeit auf Übersetzungen als auf die tägliche Kritik zu verwenden. Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten. Es könnte aber auch damit zusammenhängen, dass die Pandemie das Bedürfnis nach Kontinuität weckte, nach dem Wunsch, sich über einen längeren Zeitraum hinweg auf eine sinnvolle Aufgabe zu konzentrieren, und dass die Übersetzung in dieser Situation attraktiv erschien. Möglich wäre auch, dass einige Kritiker*innen gewissen Trends innerhalb der zeitgenössischen Literatur überdrüssig geworden sind. Heute denke ich, dass sich der Trend bereits gewendet hat, aber zuvor haben wir einige Bücher-Saisons mit ungewöhnlich uninteressanten Veröffentlichungen erlebt, Geschichten ohne Komplikationen, journalistische Romane, narzisstische Exzesse (norwegische Männer berichten auf pädagogische Art über ihre Scheidungen), Texte, die mit der Oberflächenschicht identisch sind, Texte, die keine Leser*innen mehr brauchen, um zu entstehen. Als Kritiker*in zu übersetzen ist eine Art Garantie dafür, dass man immer noch qualitativ hochwertige Werke auf dem Schreibtisch hat, unabhängig von der aktuellen Wirtschaftslage. In meinem Fall liegt es wahrscheinlich auch daran, dass ich mit der deutschen Sprache arbeiten will (oder muss), obwohl ich in Schweden lebe. Die deutsche Literatur hat mir unendlich viel gegeben, Deutsch als Sprache vielleicht noch mehr, und wenn ich einen winzigen Bruchteil dessen, was ich erhalten habe, durch Übersetzungen zurückgeben kann, bin ich überglücklich. 
 
Was war dein allererster Übersetzungsauftrag? 

Als junger, armer Mensch in Berlin übersetzte ich Touristenbroschüren, die mittelalterliche Städte in Süddeutschland, vor allem in Bayern, verherrlichten. Da gab es viel Fachwerk und romantische Stimmungen auf irgendeiner Brücke in der Abenddämmerung. Außerdem habe ich mich bei einer großen Übersetzungsagentur mit verschiedenen Handbüchern für wirklich schwere Maschinen herumgeschlagen, deren genaue Funktion ich nie herausfinden konnte, nur dass sie in der Werkstatt verlangt wurden. Ich tat mein Bestes, und eines Tages rief mich der Chef ins Büro und sagte: "Herr Brandt, wir sind alle beeindruckt von Ihren eleganten Formulierungen, aber von Maschinenbau haben Sie eigentlich keine Ahnung." Danach übersetzte ich eine Reihe ostdeutscher Dichter*innen (u. a. Durs Grünbein) für Lyrikvännen, was zu Aufträgen für andere Zeitschriften wie Bonniers litterära magasin und Kris führte. 1998 gab mir Svante Weyler, der damalige Leiter von Norstedts, Ingo Schulzes bahnbrechenden Roman Simple Storys, der auf Schwedisch den gleichen Namen trug, also mit einem abenteuerlichen Plural endete.
Die Kritiker*innen waren entsetzt und viele beschwerten sich darüber, dass ich mir aus kommerziellen Gründen diesen englischen Titel ausgedacht habe und damit gescheitert bin. Im Nachhinein finde ich es amüsant, damals war es ein Dilemma, in das viele Übersetzter*innen früher oder später gerieten: man wird für etwas verantwortlich gemacht, in meinem Fall unzumutbare Grammatik, die ein fester Bestandsteil des Originals ist und daher unverhandelbar.

Ein Teil der Aufgabe eines oder einer Literaturkritiker*in besteht darin, die Übersetzungen anderer zu bewerten. Wie gehst du bei der Rezension von übersetzter Literatur vor? Siehst du einen Vorteil darin, selbst ein Übersetzer zu sein? 

Wenn man einen Fuß in beiden Lagern hat, wird einem klar, wie kompliziert die Situation ist. Ich verstehe die Frustration der Übersetzer*innen, wenn Monate, vielleicht sogar Jahre, engagierter Arbeit zu faden Urteilen wie "reibungslos" oder "ansprechend" führen. In einem kleinen Land wie Schweden, wo jeder jeden kennt, wissen die Übersetzer*innen in der Regel, welche Kritiker*innen die Ausgangssprache kennen (sehr wenige!), was diese Floskeln noch schwerer verdaulich macht (Man denkt resigniert: "Und Sie können das beurteilen ...?"). Gleichzeitig sind die Rezensionen auf schwedischen Kulturseiten recht kurz, in Dagens Nyheter vielleicht fünftausend Zeichen. Wenn man auf diesem Raum eine Art professioneller Übersetzungskritik üben will, kann die Rezension leicht unausgewogen oder parteiisch zugunsten der Branche werden. Ich muss zugeben, dass ich nie eine gute Lösung für dieses Dilemma gefunden habe. Abgesehen von der Unsichtbarkeit der Übersetzer*innen ist meiner Meinung nach der Mangel an Präzision das größte Problem. Bissige Kritiker*innen stürzen sich gerne auf Fehler (oder vermeintliche Fehler), erkennen aber nie die manchmal genialen Lösungen, eine begnadete Interpretation einer Metapher oder auch den im besten Fall konstruktiven Umgang mit einzelnen Begriffen. Was in einer Übersetzung gut war, kommt immer mit dem Storch; für die Schönheitsfehler ist der oder die Übersetzer*in verantwortlich. Aber wenn man das alles ändern will, wenn man eine ambitionierte Übersetzungskritik schaffen will – etwas, das es in Schweden vielleicht nie wirklich gegeben hat –, dann glaube ich nicht, dass das Feuilleton der richtige Ort ist, sondern es braucht neue Kanäle. Vielleicht Online-Zeitschriften, vielleicht Podcasts; vielleicht eine Form von Peer-Reviews, bei denen sich zwei Übersetzer*innen gegenseitig lesen und sich dann vor allem auf positives Feedback konzentrieren, d. h. darauf, hervorzuheben, was schwierig und letztlich erfolgreich war. Mit das spannendste, das ich in den letzten Jahren gesehen habe, sind die Neuübersetzungen von Natalia Ginzburg; im Vorwort des Romans Die Stimmen des Abends (Kvällens Röster) berichtet die Übersetzerin Johanna Hedenberg von den Schwierigkeiten, mit denen sie während des Übersetzens, zum Beispiel von Dialekten, konfrontiert wurde. Auch das ist mit Sicherheit ein möglicher Weg, dass der oder die Übersetzer*in selbst auf die Herausforderungen aufmerksam macht und transparent darüber berichtet, wie mit ihnen umgegangen wurde.

Dein jüngstes übersetztes Buch, Uwe Wittstocks „Februar 1933 – Der Winter der Literatur“, hat in Schweden hervorragende Kritiken erhalten und ist auf mehreren Bestenlisten erschienen. Wie fühlst du dich als Übersetzer, wenn ein Werk eine so große Wirkung hat? 

Für mich war das unerwartet, auch wenn ich spürte, dass das Thema zur rechten Zeit kommt. Es wird ein wenig schwindelerregend, wenn das Buch anfängt, sich zu verselbständigen; man schlägt das große Sonntagsinterview von DN mit Thåström auf und dann kommt es darin vor. Es ist wie Elternschaft im Zeitraffer: Eben war da noch nichts, nur die pränatalen Wehen, der Stress des Abgabetermins, die Erleichterung, wenn der Verleger ein Bild des ersten druckfertigen Exemplars auf Insta postet, die Freude, wenn eine Freundin verkündet, dass das Buch im Schaufenster des Söderbokhandels ausgestellt wird. Und die ganze Zeit ist das Buch noch so klein, ein Säugling, vorgestern erschienen, noch nicht rezensiert – und ein paar Monate später ist es plötzlich erwachsen, lebt in Berlin, läuft mit einer Mütze herum, und ja, braucht keine Eltern mehr. Februar 1933 ist eine Liebeserklärung an die Literatur der Weimarer Zeit und voller zärtlicher, tief bewegender Beschreibungen von Menschen, die unendlich viel weniger über die Ereignisse wissen, in die sie hineingeworfen wurden als wir, die modernen Leser*innen – und es hat mir viel bedeutet, mit Alfred Döblin dabei zu sein, wenn er es schafft, seine Nazi-Verfolger in einem nächtlichen U-Bahnhof abzuschütteln und einen Zug weg von Berlin zu nehmen, oder die richtigen schwedischen Worte für Klaus Manns chaotisches Liebesleben oder Brechts Sorge um seine Kinder zu finden. Ich freue mich also aufrichtig über die Wirkung. Gleichzeitig, und das schwöre ich, hätte man mir (hinter dem Rücken von Uwe Wittstock und dem schwedischen Verleger Gunnar Nirstedt) eine Art Teufelspakt angeboten – keine Rezensionen, siebzehn oder einunddreißig verkaufte Exemplare und als Gegenleistung eine vernichtende Niederlage der Parteien des Tidö-Abkommens bei den Parlamentswahlen –, ich hätte unterschrieben. Ohne zu zögern und mit Blut. Große Ambivalenz meinerseits; Wittstock kann bestenfalls als Kompass in der entstandenen Situation dienen, aber es wäre besser gewesen, wenn die Situation nie entstanden wäre. 
 
Übersetzt du derzeit etwas? 

Und wie! Arthur Schnitzlers postum erschienener Später Ruhm erschien vor einigen Wochen im Nilsson Verlag. Gleichzeitig schließe ich gerade Leo Perutz' Roman Der Meister des Jüngsten Tages für denselben Verlag ab. Er wird wohl im Herbst 2023 erscheinen. Perutz ist einer meiner Favoriten, ein Bestseller in der Zwischenkriegszeit, gleichzeitig gelobt von Walter Benjamin und anderen sparsamen Kritikern, dann vergessen, fast aus der Literaturgeschichte getilgt, bis es Daniel Kehlmann gelang, eine bescheidene Renaissance zu starten. Sie sind irgendwie verwandt, Schnitzler und Perutz. Oder besser gesagt, der letztere bewunderte den ersteren – und vielleicht könnte man sagen, dass Der Meister an Schnitzlers Traumnovelle erinnert, die die Grundlage für Kubricks Film Eyes Wide Shut bildete – es ist die gleiche Stimmung, Vorkriegs-Wien, nächtliche Straßen, dunkle Geheimnisse und ein (zerstörerischer) Wunsch, diese Geheimnisse aufzudecken. Ich genieße den Film, weiß aber immer noch nicht so recht, was ich von dem Wiener Dialekt halten soll. Er ist unglaublich effektiv, ein Crescendo von Wörtern und Sätzen, die an mir vorbeiziehen, und mir ist klar, dass ich als Nächstes ein schwedisches Pendant finden muss.  
 
Wie siehst du die Situation der deutschen Literatur in Schweden heute? Gibt es Perspektiven, Themen oder Autorenschaft, die du im schwedischen Verlagswesen vermisst? 

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie ich das wunderbare deutsche "Jammern auf hohem Niveau" übersetzen soll. 'Gnäll på hög nivå', aber es ist nicht festgelegt und hat vielleicht zu sehr den Beigeschmack von Google Translate? Ich glaube, wenn man sich der deutschen Literatur verschrieben hat, ist man nie zufrieden. Nicht mit der Gegenwart, und auch nicht mit der Vergangenheit. Es kursieren viele bittere Legenden, Mythen über ein vergangenes goldenes Zeitalter, als es mehr Interesse, mehr Übersetzungen, mehr Vielfalt gab. Die Wahrheit ist, dass die Importe aus dem Süden immer unbeständig waren. Es dauerte ewig, bis Kafkas Verwandlung übersetzt wurde, und bis es soweit war, hatte sich der Protagonist – auf Deutsch "ein Ungeziefer" – egoistisch und ohne Rücksicht auf das Original in einen Käfer verwandelt. Die Dinge waren also in der Vergangenheit nicht besser. Und wenn man nur das vergangene Jahr, 2022, betrachtet, war das Ergebnis jenseits aller Erwartungen. Jenny Erpenbecks Kairos erhielt glühende Kritiken und schaffte es auf die DN-Bestenliste, wo auch Christa Wolf, Christian Kracht und Saša Stanišić wochenlang geparkt waren. Clemens Meyer, lange Zeit ohne schwedischen Verlag, wurde wieder aufgenommen, ebenso wie das rätselhafte Pseudonym Jens Rehn. Und das ist nur ein Auszug aus der Gesamtzahl der Veröffentlichungen. Es stimmt auch, dass die Globalisierung (oder wie auch immer man sie nennen will) die Welt schrumpfen lässt. Laut den großen Verlagen und Kulturseiten wird die Literatur, die wirklich zählt, ausschließlich in drei Ländern produziert: England, Schweden und Norwegen. Aus der Sicht des Marktes ist alles, was anderswo produziert wird, ein bisschen peripher. Was weiß das Ausland schon über Hypothekenzinsen! An einem schlechten Tag kann ich also feststellen, dass die Rezeption deutscher Literatur in Schweden zu flüchtig ist und dass es vor allem an Kontinuität fehlt: Erpenbeck wird in den höchsten Tönen gelobt, aber schon in der nächsten Woche ist sie wieder in der Kategorie der "weniger bekannten ausländischen Autor*innen". Die deutsche Literatur, das ist mein subjektiver Eindruck – dem die Top-Listen widersprechen –, schafft es nie, wirklich Fuß zu fassen, und auch in der schwedischen Debatte macht sie keinen Eindruck. Ich selbst war enttäuscht, dass Kairos hier wie in Deutschland "nur" als Roman gelesen wurde und nicht mit dem schwedischen Narrativ um 'den Kulturmann' verknüpft wurde, was zu brisanten Diskussionen hätte führen können. Aber wie gesagt, das ist "Jammern auf hohem Niveau". Mir blutet das Herz, wenn ich das kompakte (skandalöse! obszöne!!) Desinteresse an beispielsweise italienischer Literatur sehe, und im Vergleich dazu geht es der deutschen Literatur in Schweden gut. Natürlich kann man sich immer eine größere Breite wünschen, eine bestimmte Autorenschaft einfordern, sich fragen, warum bestimmte Trends unbeachtet bleiben. Aber im Großen und Ganzen bin ich heute optimistischer als vielleicht vor fünf oder zehn Jahren. 
 
Zum Schluss eine Frage, die nicht direkt mit dem Übersetzen zu tun hat. 
Du hast mehrfach am Kulturprogramm des Goethe-Instituts teilgenommen und mitgewirkt, zuletzt im Literarischen Quartett. Hast du eine besondere Erinnerung an das Goethe-Institut, die du gerne teilen möchtest? 


Manchmal habe ich moderiert, und es hat sich immer gut angefühlt, auf dieser Bühne zu sitzen. Ich mag das Publikum, die Konzentration des Publikums. Vor vielleicht etwas mehr als zehn Jahren war Clemens Meyer da, und ich erinnere mich, dass die Atmosphäre sehr dicht war. Wir sind auf ziemlich wunde, persönliche Dinge gekommen, das Gespräch war sehr weit weg von vorgefertigten Schablonen, und Elisabeth Geiger-Poignant, die den Abend gedolmetscht hat, hat eine großartige Leistung erbracht. Wahrscheinlich habe ich meine Erinnerungen ein wenig verfälscht, aber ich glaube, dass draußen eine Art Ausnahmezustand herrschte, oder zumindest viel Schnee, und dass alle so lange wie möglich in Goethes Bibliothek verweilten, bevor eine ziemlich große Gruppe von Leuten durch die arktische Landschaft zur nächsten Kneipe ging, wo Clemens Meyer eine fast bellmaneske Rede auf Joachim Löw improvisierte, den damaligen deutschen Fußballnationaltrainer und laut Meyer eine... absolute Null. 

 

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