Webradios | DJ Livestreams
Live aus der Nasszelle

Shift Radio
Shift Radio | © Shift Radio / SAT

Während der Pandemie trieb es Tanzwütige ins Internet. Findige Clubbetreibende, DJs und Radiomacher*innen etablierten kurzerhand ein neues, multimediales Radioformat.
 

Von Laura Stretz

Auch das älteste elektronische Massenmedium, das Radio, erfindet sich immer wieder neu und erweist sich als äußerst wandlungsfähig. Es entwickelt sich mit den Trends der Zeit, passt sich den Bedürfnissen der Menschen an und definiert sich neu. Als die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung während der Coronapandemie von einem Tag auf den anderen das Nachtleben einer ganzen Generation weltweit lahmlegten, vereinten Clubbetreibende, DJs und Radiomacher*innen ihre Kräfte und streamten die Sets der DJs kurzerhand online.

Mittelpunkt einer Gemeinschaft

Auf Plattformen wie YouTube fingen kleine Radiosender mit simplen Konzepten und wenig Budget an, DJ-Auftritte direkt aus einer leerstehenden Bar, einem Schiffscontainer oder einem Kiosk im Park zu streamen. So erlebte das Broadcasting von DJ-Sets während der Pandemie neuen Aufschwung als Antwort auf die Sehnsucht nach Tanz und Musik. Einigen Kanälen gelang es, sich beim Publikum zu etablieren. Und aus einzelnen Veranstaltungen wurde ein neues multimediales Radioformat. Dabei legen die unabhängigen Online-Radios besonderen Wert auf ihre Funktion als Verknüpfer der Online- und Offline-Welt, als Mittelpunkt einer Gemeinschaft und als Alternative zu kommerziellen Radiosendern.

Hier stellen wir eine kleine Auswahl dieser neuen Stationen aus aller Welt vor.

Hör Berlin (Berlin, Deutschland)

Ein kleiner Raum mit weißen Fliesen an den Wänden, grünem Neonlicht und vor dem Fenster ein DJ-Pult – der Livestream aus dem „Badezimmer“ hat Wiedererkennungswert und ist mittlerweile nicht nur innerhalb der elektronischen Musikszene bekannt. Die unabhängige Musikplattform Hör Berlin wurde Mitte 2019 von einem DJ- und Produzentenduo aus Tel Aviv, TV.OUT (Ori und Charly), gegründet. Zuerst hörten hauptsächlich Freund*innen und Bekannte dem Livestream zu, der noch nicht auf den Radar des Algorithmus gerückt war. Doch als zu Beginn der Pandemie Berliner Techno-Fans nur noch online mit der Szene in Verbindung bleiben konnten, ermöglichte HÖR ihnen die ersehnte Dancefloor-Stimmung in der eigenen Wohnung. Mittlerweile folgen ihnen über 700.000 Personen auf YouTube, und auf Instagram sind es mehr als 420.000 Abonnent*innen. Auch wenn die Klicks vor allem den Auftritten bekannter DJs zu verdanken sind, bewahren die lokalen Künstler*innen das Konzept des Webradios: die Möglichkeit, neue Talente zu entdecken und entdeckt zu werden.
 

The Lot Radio (New York, USA)

Eine „kleine Insel”, auf der sich DJs, Künstler*innen und Zuhörer*innen ungestört und zwanglos austauschen können, wollte der belgische Multimedia-Produzent François Vaxelaire erschaffen. In einem leerstehenden Schiffscontainer in Brooklyns Williamsburg richtete er eine gemeinnützige Radiostation mit DJ-Booth und Kaffeetheke ein. Im Hof stehen zusammengewürfelte Stühle, gestapelte Palettentische, Sonnenschirme und eine mobile Toilette. Die Location bietet DJs und Fans die Möglichkeit, sich außerhalb des Clubs auszutauschen und schafft einen Sinn von Gemeinschaft. Der 24/7 Livestream des unabhängigen Radios dient als Verbindungsmedium zwischen der Online- und Offline-Welt und als Verstärker für New Yorks immer weiter wachsende Musikszene.
The Lot Radio
© Francois Vaxelaire/The Lot Radio

Kiosk Radio (Brüssel, Belgien)

In einem kleinen Holzkiosk mitten in Brüssels Park ist das Kiosk Radio zu Hause. Das Online-Community-Radio streamt rund um die Uhr und legt seinen Fokus dabei vor allem auf Brüssels lokale Künstler*innen, Musiker*innen und kulturelle Organisationen, um die pulsierende Musikszene der Stadt zu fördern. Inspiriert vom hybriden Konzept von The Lot, wollten die vier Gründer auch in Brüssel mehr als eine Streamingplattform bieten – „We are basically a bar, radio and a public toilet.“ – und gibt Besucher*innen so die Möglichkeit, sich auch vor Ort zu verlinken und gemeinsam die Musik zu genießen. Besonders während der Pandemie hat dies die Menschen angelockt und zum Erfolg des Kiosk Radios beigetragen. Das Geschehen im Studio kann nicht nur von Zuhörer*innen online verfolgt werden, sondern auch von Spaziergänger*innen im Park durch die großen Fenster des Kiosks. 

Kiosk Radio
Kiosk Radio | © City of Brussels

Oroko Radio (Accra, Ghana)

Oroko
© Oroko
Oroko Radio ist ein unabhängiges, gemeinnütziges Radio aus Accra, Ghana. Das Ziel des Senders ist es, sich durch die Förderung von Diskussion, Zusammenarbeit und Gemeinschaft gegenseitig zu bestärken („Empowering through conversation, collaboration and community.“). Dabei fungiert das Online-Radio auch als Verbindungsmedium zwischen afrikanischen und diasporischen Künstlergemeinschaften. Es soll die Narrative dieser Gemeinschaft zurückzugewinnen, neu zentrieren und dabei einen besonderen Fokus auf lokale Perspektiven Accras legen. Im Bestreben, die Tanzmusik und den Dancefloor zu dekolonialsieren, lenkt das Radio Aufmerksamkeit auf alternative Klänge, die ihre Inspiration vom afrikanischen Kontinent beziehen und sich abseits des Mainstreams positionieren. Durch Communityprojekte, Workshops und Kollaborationen wirkt die Arbeit von Oroko auch über das Radio hinaus.

Shift Radio (Montréal, Kanada)

Der Trend des Radio-Livestreams inspirierte auch Shift Radio, welches 2021 in Montreal gegründet wurde. Dabei folgt Shift Radio einem bekannten Modell: Die DJs werden immer vor dem gleichen bunten Hintergrund gefilmt (in diesem Fall eine Bar) mit möglichst wenig Ablenkung und nur dem nötigsten Equipment. Genau dies hatte in der Montrealer Szene der elektronischen Musik noch gefehlt. Der Radiosender, der nun wöchentlich live aus der Bar der Société des Arts téchnologiques streamt, möchte lokalen künstlerischen Talenten eine Plattform zur Verfügung stellen, auf der sie sich präsentieren und entdeckt werden können. Wie der Name Shift erahnen lässt, soll die Station auch dazu beitragen, den Fokus des Algorithmus zu verschieben – weg vom Mainstream und ausgerichtet auf elektronische Musik, die noch wenig in kommerziellen Radios stattfindet. 

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