Brasilien
Einfach das Mikrofon einschalten

Einfach das Mikrofon einschalten
Einfach das Mikrofon einschalten | © Caspar Rae / Unsplash

Im Fall eines elektrischen oder technologischen Zusammenbruchs wird das einzige Gerät, das noch funktioniert, das gute alte batteriebetriebene Radio sein. „Deshalb habe ich immer eins zu Hause“, sagt die brasilianische Journalistin Waleska Falci, die dem Medium, das gerade hundert Jahre alt geworden ist, treu geblieben ist.

Von Waleska Falci

Seit meiner frühesten Erinnerung prägt Musik aus dem Radio mein Leben. Ende der 1970er-Jahre, als ich mit der Familie im Volkswagen Variant unterwegs im brasilianischen Landesinneren war, sah ich zu Akkorden des Songs Travessia von Milton Nascimento die Sonne aufgehen. Das Erste, was ich als Jugendliche tat, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, war das Radio einzuschalten, meine Lieblingsmusik zu hören und Radiosendungen auf Kassette aufzunehmen. Ich war schon dabei, meine eigene Playlist zusammenzustellen!

Niemals hätte ich mir damals vorstellen können, irgendwann beruflich genau das zu tun, was ich am liebsten tat, dass meine Arbeit eine Fortsetzung meines jugendlichen Hobbys sein würde. Mit ungefähr 20 Jahren, noch als Studentin in Belo Horizonte, hatte ich das große Glück, beim damals neuen unabhängigen Sender Geraes angenommen zu werden. Geraes war in den Anfangsjahren ein Phänomen an Experimentierfreude und Zuspruch. Der Sender entzog sich dem Mainstream und unterschied sich dadurch von allen anderen in der Stadt. Dort lernte ich wie man alle möglichen Aufgaben übernimmt: Moderation, Produktion, Musikzusammenstellung, institutionelle Zusammenarbeit, Berichterstattung und Interviewführung für das Radio.

Spontane Verbreitung

Damals gab es noch keine technischen Mittel, um Content über Streaming oder Social-Media zu verbreiten. Wir arbeiteten mit Vinyl, CD und DAT-Kassetten. Unser Publikum wuchs organisch und entwickelte sich durch spontane Verbreitung der Informationen in den sozialen Kreisen der Zuhörer*innen.

Das Konzept eines kulturell und auf Bildung ausgerichteten Privatsenders hielt ein paar Jahre, musste sich dann aber dem Mangel an Werbekunden geschlagen geben. Etwas mehr als zehn Jahre später erhielt ich 2005 eine Stelle bei einem öffentlichen Radiosender mit Pioniercharakter in Brasilien. Rádio Inconfidência wurde 1936 gegründet mit dem Auftrag, das Landesinnere abzudecken. In den 1940er-Jahren besaß es ein Orchester ausschließlich aus Frauen und ein Newcomer*innen-Programm, in dem Namen wie die sehr bekannte Sängerin Clara Nunes (1942–1983) erstmals vorgestellt wurden. Im Jahr 1979 gründete Inconfidência den Kanal Brasileiríssima, der zur Verbreitung der nationalen Kultur geschaffen wurde und seit 44 Jahren ausschließlich brasilianische Musik sendet.
  • Album 25 Jahre des Rádio Inconfidência Foto (Detail): © Archiv Rádio Inconfidência

    Album 25 Jahre des Rádio Inconfidência

  • Frauenorchester 1940 Foto (Detail): © Archiv Rádio Inconfidência

    Frauenorchester 1940

  • Porträt von Milton Nascimento Foto (Detail): © Marcos Hermes/Archiv Rádio Inconfidência

    Milton Nascimento

  • Porträt von Toninho Horta Foto (Detail): © Archiv Radio Inconfidência

    Toninho Horta

Diverse Akzente und unterschiedliche Orte

In den 18 Jahren, die ich dort inzwischen arbeite, hatte ich die Gelegenheit und das Privileg, die Geschichte Brasiliens über die Musik zu erkunden: Ich habe mich mit den Ursprüngen von Samba, Chorinho und Bossa Nova vertraut gemacht, habe indigene Musik und Afro-Rhythmen gehört und gespielt sowie die unterschiedlichen Akzente und Regionen Brasiliens kennengelernt.

Es gab auch einige unvergessliche Momente, zum Beispiel als ich ein Interview mit dem Komponisten Toninho Horta, der als einer der einflussreichsten Gitarristen in der Welt des Jazz im 20. Jahrhundert gilt, führte und eine Überraschungsgeburtstagsfeier für ihn plante. Die Feier mit mehreren Gästen war eine Live-Jam-Session und die Sendung wurde später zu einer Mini-Dokumentation verarbeitet.

83 Prozent der brasilianischen Bevölkerung als Publikum

Eins der Dinge, die ich am Medium Radio am meisten schätze, ist die Spontaneität und Geschwindigkeit, mit der wir Information verbreiten können. Beim Fernsehen braucht es dazu ein Team für Licht, Kamera, Maske, Ausstattung und Text für den Teleprompter. In der gedruckten oder digitalen Presse muss Text getippt und redigiert werden, bevor er veröffentlicht wird. Beim Radio genügt es, das Mikrofon einzuschalten und die Nachricht ist „on air“. Es kam oft vor, dass ich Eilmeldungen allein durch das Drücken des „on“- Knopfs am Mikrofon verkündete, während das redaktionelle Team an Hintergrundtexten arbeitete. Diese Unmittelbarkeit wird von keinem anderen Kommunikationsmittel übertroffen.

Nachdem es schon zwei Mal verdrängt wurde – zum ersten Mal, als das Fernsehen aufkam und dann mit dem Aufkommen von CD, Internet und Streaming – erneuert sich das Radio ständig und geht auch im hundertsten Jahr seinen Weg weiter. Und es ist weiterhin eins der wichtigsten Medien im Alltag: Laut einer Untersuchung des Meinungsinstituts Kantar Ibope Media hören 83 Prozent der brasilianischen Bevölkerung regelmäßig Radio.

Täglicher Übung in Widerstand

Leider gibt es in Brasilien immer noch kein System der unabhängigen Finanzierung von Radio und Fernsehen, wie etwa in einigen europäischen Ländern. In Brasilien sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf Mittel angewiesen, die direkt von der Regionalregierung kommen, was es den politischen Parteien und der Regierung ermöglicht, sich in die redaktionelle und künstlerische Ausrichtung der Sender einzumischen. Es ist schon eine große Herausforderung für einen Kultur- und Bildungssender in der heutigen Informationsflut relevante Inhalte zu produzieren, so muss bei öffentlichen Sendern zusätzlich darauf geachtet werden, dass die redaktionelle Arbeit nicht irgendwann die politischen Interessen der regierenden Parteien bedient. Bei einem öffentlichen Sender in Brasilien zu arbeiten ist also eine tägliche Übung in Widerstand und ein Kampf um redaktionelle Unabhängigkeit um die Existenz des Radios an sich – des mächtigsten Kommunikationsmediums, das bis zum heutigen Tag geschaffen wurde. Eines der Dinge, die ich immer gerne erwähne, wenn mir jemand sagt, dass „das Radio überflüssig wird“, ist, dass im Falle eines elektrischen oder technologischen Zusammenbruchs im Land oder weltweit, das einzige Gerät, das noch funktioniert, um die gesamte Bevölkerung mit Informationen zu versorgen, das gute alte batteriebetriebene Radio sein wird. Deswegen habe ich auch immer eins mit neuen Batterien zu Hause!

 

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