Urban Legends – wie aus Geschichte Geschichten wurden


Wohl jeder Berliner hat schon einmal davon gehört, wie in den letzten Kriegstagen der Nord-Süd-Tunnel der Berliner S-Bahn gesprengt und geflutet wurde. Aber wann und wie war das eigentlich genau passiert? Handelte es sich dabei um einen tragischen Unfall oder einen skrupellosen Anschlag? Und wie viele Menschen sind dabei ums Leben gekommen? Als Karen Meyer und ihre Kollegen diese Hintergründe recherchieren wollten, stießen sie auf unzählige Geschichten, die rund um das historische Ereignis entstanden waren. Ihre Nachforschungen gaben deshalb zwar nur unzureichende Antworten auf ihre eigentlichen Fragen. Dafür zeigen sie aber auf faszinierende Weise ein Beispiel dafür auf, wie moderne Märchen der Großstadt entstehen können.
Die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Kreuzberg hatte 1989 beschlossen, eine Gedenktafel für die Opfer der Tunnelsprengung zu errichten – man hatte an eine künstlerisch gestaltete Treppenstufe auf Höhe des damaligen Wasserstands gedacht. Doch die genauen Empfehlungen zur Herstellung und Anbringung eines Gedenkzeichens wollte man von den genauen Hintergründen um die Sprengung und Flutung des Berliner Nord-Süd-Tunnels abhängig machen, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs stattgefunden haben soll. Karen Meyer und ihre Kollegen vom Kreuzberg-Museum für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte wurden beauftragt, die offenen Fragen zu klären.
Wilde Thesen und „grausige Gerüchte“

Ein Nebenprodukt der Recherchearbeit sind die Erkenntnisse darüber, wie aus einem historischen Ereignis eine neue Geschichte – eine Art modernes Märchen der Großstadt – entstehen kann. Manche Zeitungen haben laut Meyer „der Verbreitung grausiger Gerüchte“ Vorschub geleistet, indem sie Erlebnisberichte mit zweifelhaften Informationen druckten, die wiederum von offiziellen Stellen bestätigt wurden. Später sei das Thema auch in der Belletristik und der populärwissenschaftlichen Literatur behandelt worden. Alle schriftlichen Quellen und Publikationen zur Sprengung und Flutung des Tunnels stützen sich – so Meyer – mehr oder weniger direkt auf Berichte von Augenzeugen, die wiederum ihre Erlebnisse „erst im Nachhinein in ein Gerüst von Ereignissen und Abläufen hineingeordnet und Verknüpfungen geschaffen“ haben, „um die Erinnerungen erklärbar zu machen.“
Ganz wie die Grimmschen Märchen?

Weniger offensichtlich ist die Grenze zwischen realem historischen Ereignis und erfundenen Geschichten, wenn es um die Berliner Tunnelflutung geht. Auch Karen Meyer und ihre Kollegen konnten nach ihren umfangreichen Recherchen nur eines mit Gewissheit sagen: Es hat überhaupt eine Sprengung der Tunneldecke unter dem Landwehrkanal gegeben und die S- und U-Bahn-Schächte wurden geflutet. Sie gehen zwar mit ziemlicher Sicherheit davon aus, „dass diese Sprengung professionell durchgeführt wurde und es sich nicht um einen Unfall oder einen Bombentreffer gehandelt hat“, dass sich die Zahl der Opfer „mit ein- bis zweihundert realistisch umgrenzen“ lässt und „dass die Flutung nicht vor dem Morgen des 2. Mai stattgefunden haben kann.“ Unklar bleibt dagegen, „warum sich niemand an eine Detonation oder Druckwelle erinnern kann“, „ob und von wem es einen Befehl zur Sprengung gegeben hat“ und „welches Interesse dahinter gestanden haben könnte.“ Weil den Forschern schon ziemlich früh klar war, „dass sich hundertprozentige, eindeutige und unumstößliche Aussagen über das Geschehen kaum noch treffen lassen würden“, hat die Kreuzberger Bezirksverordnete damals auch schon früh ihre Pläne geändert und den Gedanken an die geplante Gedenktafel fallengelassen. Statt die offenen Fragen endgültig klären zu können, haben Karen Meyer und ihre Kollegen den Verlauf ihrer Recherche dokumentiert. So entstand eine spannende Broschüre – für Eisenbahnkenner wie Märchenliebhaber.
hat Linguistik, Ethnologie und Neuere deutsche Literatur studiert und arbeitet als freie Journalistin in Köln.
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März 2012
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