Schriftsteller & Journalist Arpád Soltész  „Die Rückkehr aus Deutschland war die dümmste Entscheidung meines Lebens“

Schriftsteller und Journalist Arpád Soltész Illustration: © Vladimír Holina

Der Schriftsteller und Journalist Arpád Soltész wurde 1969 in Košice geboren, doch zum Feind des Regimes wurde er bereits vor seiner Geburt . In seinen Büchern spiegeln sich Árpads profundes Wissen über das organisierte Verbrechen sowie die Politik in der Slowakei wider, was in einigen Fällen synonym ist.

Dein Lebenslauf ist turbulenter als bei slowakischen Autoren üblich. Sehr interessant ist deine Emigration nach Deutschland kurz bevor im November 1989 das totalitäre kommunistische Regime endete. Wie kam es dazu?

Diese Geschichte begann, noch bevor ich geboren wurde. Meine Mutter stammte aus einer jüdischen Familie. Die Großeltern flohen während des Krieges aus dem slowakischen Staat nach Ungarn, weil dort die antijüdischen Gesetze weniger hart waren. In Budapest gibt es das Mahnmal Schuhe am Donauufer mit vielen Schuhen aus Metall. Nur wenige Tage vor der Eroberung Budapests durch die Sowjets wurden genau an dieser Stelle Juden erschossen, die dann in die Donau fielen. Mein Großvater ist dort ums Leben gekommen. Meine Großmutter, die mit meiner Mutter schwanger war, überlebte und kehrte zu ihren Eltern nach Košice zurück. Also hat meine Mutter ihren Vater nie gekannt.
 
Als die Russen im August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, beschlossen mein Vater und einer seiner Freunde, der Fotograf war, die Invasion zu dokumentieren und es wurde auf sie geschossen. Der Freund wurde in den Kopf geschossen, aber er überlebte, saß jedoch seitdem im Rollstuhl. Er hieß Tibor Kováč und seine Fotografien wurden später auch ausgestellt. Mein Vater erlitt einen Beinschuss, meine Mutter hat ihn gepflegt und so sind sie zusammengekommen. Sie heirateten und zeugten mich, aber im August 1969 begriff mein Vater, der Künstler war, dass er in diesem Regime keine Chance hat, und emigrierte. Meine Mutter befand sich mit mir in einer Risikoschwangerschaft und deshalb ist sie geblieben. Mein Vater floh am 16. August 1969 und ich wurde im Dezember geboren. Also habe auch ich meinen Vater nie gesehen. Er brach sämtliche Kontakte ab, sie ließen sich aus der Ferne scheiden, und wir hörten nie wieder von ihm.

Hat er das aus Rücksicht getan, um euch nicht zu schaden?

Das wussten wir damals nicht. Später erfuhr ich, dass es genauso war. Er hätte uns einem extremen Risiko ausgesetzt, wenn er mit uns in Kontakt geblieben wäre. Ich bin auf den Tag genau 20 Jahre nach ihm emigriert, am 16. August 1989, als wir noch nicht ahnten, dass das Regime bald fallen würde. Die normalen Leute wussten das nicht. Unsere Familie waren Kapitalisten, also Klassenfeinde, mein Vater war Emigrant, also Klassenfeind, also waren wir ebenfalls als Feinde des Regimes eingestuft. Ich durfte nicht aufs Gymnasium gehen. Meine Mutter konnte es irgendwie organisieren, dass sie mir erlaubten, auf die Berufsbildende Schule für Textilwesen in Svit zu gehen, wo ich mein Fachabitur als Mechaniker für Strickmaschinen machte. Das war auch nicht vollkommen sinnlos, denn ein Cousin meiner Mutter hatte in Sydney eine Fabrik für Strickwaren.

Und an diesen Zusammenhang hat deine Mutter schon damals gedacht?

Ich auch und ihr Cousin ebenfalls. Er war nämlich in der ersten Hälfte der 80er Jahre hier zu Besuch und als er sah, wie die Situation war, sagte er meiner Mutter, dass er mich adoptieren und mitnehmen würde. Ich war 14 Jahre alt und sagte Nein. Meine Mutter zurückzulassen und mit einem Mann mitzugehen, den ich erst seit ein paar Stunden kannte, war in dem Moment für mich völlig undenkbar. Ich sagte, ich würde zuerst die Schule beenden und dann gehen. Deshalb haben wir uns das mit der Textilschule so ausgedacht. Am 25. Mai 1988 habe ich mein Abitur gemacht und am 26. Mai um sechs Uhr morgens meine erste Frühschicht bei Tatrasvit in Košice angetreten. Meinen nächsten Urlaub konnte ich erst ein Jahr später im Sommer nehmen und dann ging ich sofort.
 
Meine Route wurde von den Anwälten des Cousins meiner Mutter in Sydney geplant. Sie sagten, ich müsse nach Deutschland, nach München gehen, weil dort die besten Bedingungen herrschten und dort politisches Asyl beantragen. Denn australisches Asyl konnte in Australien nicht beantragt werden. In Deutschland sollte ich den Antrag stellen und Asylbewerber werden, damit ich nicht in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik zurückkehren musste. In der Zwischenzeit sollten ich dann den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen um eine „Note of concern“ bitten, mit welcher offizielle Bedenken hinsichtlich der Rückkehr des Flüchtlings in sein Heimatland zum Ausdruck gebracht wurden, wo er möglicherweise verfolgt wird. Auf der Grundlage dieses Dokuments gewährte Australien politisches Asyl von außen. Das war der Plan.
 

In der alleruntersten Position eines Asylbewerbers ist mir zum ersten Mal im Leben bewusst geworden, dass ich irgendwelche Rechte habe, irgendeine Würde.“

Wie bist du ganz konkret über die Grenze gekommen?

Mit dem Zug, ganz legal. Damals brauchte man einen Ausreisevermerk und eine Devisenzusage. Mit Ersterem war die Zustimmung zur Ausreise gemeint – von einer Organisation der Kommunistischen Partei in dem Betrieb, in dem man arbeitete, einer Jugendorganisation, einem Handwerksmeister, eine Bescheinigung der Polizei oder der Staatssicherheit. Diese ganzen Genehmigungen reichten jedoch immer noch nicht und man brauchte eine Devisenzusage, also ein Versprechen, dass der Staat einem einen kleinen Betrag in einer Fremdwährung zum Wechseln für diese Reise zur Verfügung stellt. Eine Devisenzusage hätte ich nie bekommen, aber man konnte das umgehen, indem jemand für einen Bürger der Tschechoslowakei bei einer Staatsbank ein Konto eröffnet und darauf Geld eingezahlt hat. Einen Teil dieses Geldes konnte derjenige dann für die Reise verwenden, der Rest war einfach futsch. Mutters Cousin hat das so gemacht und ich reiste nach München. Dort bin ich aus dem Zug gestiegen, direkt zur Polizei gegangen und habe politisches Asyl beantragt.

Arpád Soltész

Der Schriftsteller und Journalist Arpád Soltész Foto: © privat Nach 25 Jahren als Investigativjournalist und Kommentator begann Arpád Soltész Belletristik zu schreiben. Bisher erschienen die Bücher Mäso (Fleisch, 2017), Sviňa (Schwein, 2018) und Hnev (Wut, 2020). Alle drei erfreuten sich eines enormen Interesses und auf der Grundlage von Sviňa entstand im Jahr 2019 der gleichnamige Film. Sviňa wurde ins Tschechische und Französische übersetzt, Mäso erschien ebenfalls in Frankreich.

Wie sah das Leben in Deutschland aus?

Ich landete unter sehr glücklichen Umständen in Garmisch-Partenkirchen, wo ich zusammen mit anderen Asylbewerbern in einer kleinen, familiären Pension untergebracht war. Diese wurde von Sonia Müller geführt, einer sehr angenehmen Dame, die sich unglaublich um uns gekümmert hat.

Bis in Bonn der Antrag des Hohen Kommissars bearbeitet wurde, war es November. Bei der formalen Anhörung wurde mir gesagt: „Jetzt ändern sich bei euch langsam die Umstände, also warten wir, wie das ausgeht.“ Das Regime fiel, aber ich brauchte noch eine ganze Weile, bis ich glauben konnte, dass der gesamte sowjetische Block auseinanderbrach, dass die Zustände nicht wiederhergestellt werden und ich nicht für 20 Jahre im Gefängnis lande. Bis Ende 1990 war ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, zurückzukehren. Meine Mutter, die ich für eine der besten politischen Analytikerinnen halte, sagte mir im Dezember 1989: „Wage es ja nicht, zurückzukommen, die alten Volksparteiler kommen unter den Steinen vorgekrochen und das erste, was sie tun werden, ist die Tschechoslowakei auseinanderzureißen.“ Es war nämlich auch möglich, in Deutschland zu bleiben, auch wenn die Gründe für das politische Asyl nicht mehr gegeben waren. Wenn man in der Lage war, Arbeit zu finden, bekam man auch eine Aufenthaltsgenehmigung.

Ich habe nicht auf meine Mutter gehört und bin zurückgegangen. Ich wollte kein Mechaniker für Strickmaschinen in Deutschland sein, ich wollte zurückgehen und den Saustall aufräumen, der in unserem Land seit der Gründung des faschistischen Staates herrschte, nachdem eine Diktatur die nächste abgelöst hatte. Ich wollte mit dabei sein, beim Aufbau eines wunderbaren Landes.

Du hast also fast eineinhalb Jahre in Deutschland gelebt. Was hat dir dieser Aufenthalt gebracht?

Der Aufenthalt in Deutschland hat mir in dem Sinne geholfen, dass ein Asylbewerber dort das letzte Glied in der Nahrungskette ist. Und in dieser alleruntersten Position ist mir zum ersten Mal im Leben bewusst geworden, dass ich irgendwelche Rechte habe, irgendeine Würde, dass die Beamten dazu da sind, mir zu helfen, und nicht dazu, mich zu schikanieren, dass sie mich höflich und mit Freundlichkeit behandeln, auch wenn sie das nicht müssten, aber das einfach als normal ansehen. Im Grunde genommen wurde dort aus mir ein großer Verfechter der Freiheit, der Demokratie und insgesamt ein Germanophiler. Und das aus einem Nachfahren einer jüdischen Familie, von der 90 Prozent durch die Schornsteine in Auschwitz gejagt worden ist.
 
Wenn jedoch jemand meine Großeltern, seit mehreren Generationen ungläubige Juden, eher Agnostiker, gefragt hätte, als was sie sich selbst sehen, dann hätten sie wahrscheinlich gesagt, in erster Linie als Bürger der Tschechoslowakei und erst als zweites vielleicht, dass sie Deutsche sind. Mit den Eltern hatten sie Deutsch gesprochen, das Kindermädchen war immer aus Frankreich, in der Schule lernten sie Ungarisch und auf der Straße sprachen sie Slowakisch. Meine Oma lehnte es als Holocaust-Überlebende ab, mir Deutsch beizubringen. Aber sie hat mir nie einen Hass gegen Deutsche anerzogen. Sie erklärte mir immer, dass das eine unglaubliche Nation sei, die der Welt Wissenschaft, Kultur, Philosophie, Musik, Kunst, Physik und wunderbare Sachen geschenkt habe und sie sagte, ich solle darauf achtgeben, dass auch eine solche Nation innerhalb sehr kurzer Zeit und sehr fundamental dem Wahnsinn verfallen könne. Ich bin zurückgekehrt und heute denke ich, dass das die dümmste Entscheidung meines Lebens war.

Seit wann denkst du das?

Schon ungefähr seit 1994.

Das war ja auch eine Zeit, in der solche Gedanken durchaus angebracht waren. Jedenfalls bist du zurückgekehrt und hast angefangen zu studieren.

Ganz logisch habe ich mich natürlich für die Studiengänge Germanistik, Dolmetschen und Übersetzen beworben, die gerade in Prešov neu eingerichtet wurden und wo ich sofort angenommen wurde. Ich hatte zwar schlechteres theoretisches Hintergrundwissen als meine Kommilitonen, aber im Unterschied zu allen anderen konnte ich fließend Deutsch sprechen. In Deutschland hatte ich mir die deutsche Sprache sehr schnell angeeignet. Am meisten hat dabei geholfen, dass mir das Lesen ein essentielles Bedürfnis war. Und man nimmt ja nicht seine Bibliothek mit, wenn man emigriert, das wäre ja an der Grenze sehr auffällig. Ich hatte also keine andere Möglichkeit, als deutsche Bücher zu lesen. Damals stellte die Stadt Garmisch-Partenkirchen zweimal im Jahr riesige Container auf die Straße und da warf jeder das rein, was er nicht mehr brauchte. Diese Container waren immer voller Bücher. Ich begann zu lesen, idealerweise ohne Wörterbuch, um aus dem Kontext heraus zu verstehen, ich habe auch viel ferngesehen, um mich die Sprache einzuhören.
 
Nach ungefähr einem halben Jahr hat die Polizei meine Hauswirtin furchtbar erschreckt. Eines Abends standen sie vor der Tür und fragten nach mir. Ich sah schon vor meinem inneren Auge, wie sie mich abschieben, aber sie kamen, weil irgendein ungarischer Tourist einen Autounfall hatte und sie ihn befragen wollten. Sie hatten gehört, dass ich Ungarisch spreche und auch ganz gut Deutsch und baten mich höflich, ob ich nicht dolmetschen kommen könnte. Wunderlich war, dass sie mir nach dem Dolmetschen ein relativ hohes Honorar zahlten. Ich sagte, dass ich Asylbewerber sei und nicht arbeiten dürfe. Die Polizisten lachten und sagten: „Für uns schon“. Dann riefen sie mich manchmal an, wenn es um irgendeinen Tschechen, Ungarn oder Slowaken ging.  

Wie war es an der Hochschule?

Das interessierte mich und es lief gut. Das sozialistische Bildungssystem hatte ja die faszinierende Fähigkeit, einem die Bildung für das ganze Leben zu verleiden. Ich hatte viel gelesen, aber im Grunde keinen schulischen Lehrstoff. Erst an der Hochschule habe ich verstanden, dass mir das Spaß macht und Sinn hat. Dann kam das Jahr 1994 und die Regierung von Vladimír Mečiar. Als Student begann ich, mich zu engagieren.
 
Noch bevor ich anfing zu studieren, musste ich meiner Mutter versprechen, mich an keinerlei politischen Aktivitäten zu beteiligen. Gleich am ersten Tag begrüßten uns die älteren Studenten und erklärten uns, wie es an der Uni so läuft. Ich hatte einige kritische Bemerkungen dazu, deshalb nahmen sie mich sofort beiseite und sagten, dass auch ein Studienanfänger für die Studentenkammer des akademischen Senats kandidieren sollte. Dass ich der einzige war, der eine Meinung hatte und dass ich kandidieren würde – das sagten sie mir. Sie haben mich dann auch gewählt.

Dann kam das Jahr 1994 und die Nacht der langen Messer (Noc dlhých nožov) am 3. und 4. November [Gemeint ist die Eröffnungssitzung des Parlaments, in der die neue Koalition die Regel „Der Gewinner nimmt alles“ verkündete und alle staatlichen Spitzenpositionen im parlamentarischen, öffentlich-rechtlichen und wirtschaftspolitischen Bereich mit eigenen Kandidaten besetzte, Anm.d.Aut.]. Mečiar hatte die Demokratie in der Slowakischen Republik de facto abgeschafft. Wir organisierten eine Studentenpetition und sammelten eine Reihe von Unterschriften gegen die Praktiken der neuen Regierung. Auch vom Dekan erhielten wir ordentlich Unterstützung und in größeren Städten gab es Proteste.

Ich musste nach Košice, um die Unterschriften dem Rektor zu übergeben. Das war damals war der Mathematiker Lev Bukovský, ein toller Mensch. Die Sprecher des Treffens in Košice hielten Reden auf dem Balkon der Wissenschaftlichen Staatsbibliothek in Košice und der Balkon war Teil des Arbeitsraums des Goethe-Instituts, in dem ich fast täglich saß. Ich kam dorthin, um die Unterschriftenlisten zu übergeben. Sie schickten mich auf den Balkon, sagten, dass alle da draußen wären. Ich zeigte dem Rektor die Listen, und er schleifte mich auf dem Balkon vor das Mikrofon: „Erzählen Sie ihnen etwas.“ Unten war eine große Menschenmenge. Der Balkon der Wohnung, in der meine Mutter wohnte, war genau gegenüber dem Balkon der Wissenschaftsbibliothek. Ich sah also nur die alte Frau Soltész, die ihren Sohn ansah, der versprochen hatte, sich nicht in die Politik einzumischen. Unmittelbar danach ging ich mit hängenden Ohren nach Hause, wo meine Mutter mir sagte, ja, ich hätte mein Versprechen gebrochen, aber dass sie sich für mich schämen würde, wenn ich es gehalten hätte.
 

Ich sah nur die alte Frau Soltész, die ihren Sohn ansah, der versprochen hatte, sich nicht in die Politik einzumischen.“

Du hast das Studium nicht beendet, sondern angefangen, bei der Zeitung zu arbeiten.

Diese Zeit war für mich auch finanziell sehr schwierig. Meine Mutter konnte nicht studieren, sie wurde schließlich Lagerarbeiterin und arbeitete sich allmählich bis zur Restaurantleiterin hoch. Nach 1989 wurden die Restaurants auf unschöne Weise privatisiert, so dass sie umschulte und als Buchhalterin arbeitete. 1994 war das schlimmste Jahr, nur gelegentlich konnte ich mit Dolmetschen oder Übersetzen etwas Geld dazuverdienen, aber sehr viel gab es noch nicht. Ich bekam ein Angebot, in Russland in Rostow am Don zu arbeiten. Die deutsche Regierung baute dort Wohnungen für sowjetische Offiziere, die aus Deutschland ausgewiesen wurden. Gebaut wurden diese von einer slowakischen Baufirma, sie brauchten viele Übersetzungen und auch Dolmetscher und man konnte dort gut Geld verdienen. Also musste ich kurz vor den Abschlussprüfungen einen Antrag stellen, diese zu verschieben. Ein paar Tage später riefen sie mich an und sagten, dass der deutsche Investor dem slowakischen Bauunternehmen den Vertrag gekündigt hat, alles fiel ins Wasser, aber da hatten die Abschlussprüfungen bereits begonnen.

Ich musste mich beim Arbeitsamt melden, aber dort wussten sie nicht, was sie mit mir machen sollten, weil ich ja die Hochschule nicht verließ, nicht unterbrach oder exmatrikuliert wurde. Vorerst sollte ich am Schwarzen Brett schauen und dort hing ein Zettel, dass die Abendzeitung Košice nach Fotografen suchte. Ich ging eigentlich nur mit einem Freund hin, der gern Fotos machen wollte. Sie sagten: „Fotografen haben wir schon, wir suchen Redakteure. Und Sie, junger Mann, möchten Sie nicht bei der Zeitung arbeiten?“ Sie brachten mich zum Chefredakteur, das war damals Miki Jesenský, und tatsächlich riefen sie mich ungefähr eine Woche später an, dass ich am Montag anfangen könnte. Und seitdem bin ich Journalist. Ich habe das Studium nicht mehr beendet, weil ich bei der Zeitung gemerkt habe, dass das genau das ist, was ich machen möchte.

In der Redaktion der Abendzeitung, um 1996 In der Redaktion der Abendzeitung, um 1996 | Foto: © privat

Ist die „Abendzeitung“ genau der Schauplatz der verschiedenen Geschichten, die die Leute in deinen Büchern lesen können?

Nicht wirklich. Dort habe ich viel von den alten Hasen gelernt. Als ich anfing, gab es keine Handys, man schrieb auf Schreibmaschinen, gedruckt wurde mit Blei. Das Problem war, dass die Mečiar-Oligarchen die Medien wie die Verrückten aufkauften, unter anderem auch die Abendzeitung und so bin ich von dort weg und zur direkten Konkurrenz, die sie dann auch kauften – das war der Korzo, und so entstand der Korzár.

Diese Geschichte kann man im Roman „Hnev“ („Wut“) lesen.

Genau. Bei der Abendzeitung war ein Chefredakteur, der die neuen Eigentümer vollkommen ignorierte, aber er hatte einen hässlichen Verkehrsunfall, nach welchem sie ihn von seinem Posten entfernten und kurz darauf reichte ich die Kündigung ein.

Als Journalist hast du beide grundlegenden Formen, wie Journalisten eliminiert werden können, selbst erlebt. Dies sind einerseits physische, andererseits juristische Angriffe. In deinem Buch beschreibst du den Lesern auch einen physischen Angriff, der sehr authentisch wirkt.

Es ist eine mehr oder weniger genaue Beschreibung dessen, was passiert ist. Ich erhielt einen Tipp, dass es in Prešov ein Fleischkombinat gibt, das privatisiert wurde, finanziell geplündert, aus dem nachts heimlich Maschinen und Geräte herausgeschleppt wurden. Ein Fotograf und ich haben die ganze Nacht draußen geparkt, nichts ist passiert. Am Morgen packten wir zusammen, in der Annahme dass es ein schlechter Tipp gewesen war. Anschließend hatte ich einen normalen Arbeitstag und am Abend eine Familienfeier, ein Abendessen in einer Brauerei mit ausgezeichneter Küche. Als ich auf die Toilette ging, kam jemand hinter mir herein und schlug mich ziemlich zusammen. Ich hatte keine Ahnung, warum. Als ich wieder arbeiten gehen konnte, rief mich ein Mann vom slowakischen Geheimdienst an, der die Nase gestrichen voll hatte. Er erklärte mir, dass ich bei einer Firma herumgelungert hätte, über die der SIS die Mafia für schmutzige Arbeit bezahlte.

Jetzt müssen wir unseren jüngeren und auch den ausländischen Lesern erklären, was der Geheimdienst, also der SIS damals machte.

In den Jahren 1994 bis 1998 managte der Geheimdienst direkt das organisierte Verbrechen. Eine Mafia als solche gab es nicht wirklich, das waren primitive Straßengangs, die sich mit kleinen Raubüberfällen, Autodiebstählen oder auch nur dem Ausrauben von Autos über Wasser hielten. Aus diesem Nährboden für Verbrechen zog sich der Geheimdienst organisierte Gruppen heran, die dann die Drecksarbeit für die damaligen Oligarchen erledigten, die mit der Politik gemeinsame Sache machten, und im Gegenzug erhielten sie irgendwelche slowakischen Straßen als feudales Lehen, wo sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Nur die Vertreter des Regimes sollten sie in Ruhe lassen, ansonsten konnten sie Geschäfte abfackeln, vergewaltigen, rauben, morden, und das alles ungestraft, weil sie vom Geheimdienst gedeckt wurden.

Und wir müssen ein weiteres schlimmes Trauma unseres Landes ansprechen, und zwar die durch den SIS organisierte Entführung des Sohnes von Präsident Kováč nach Österreich und die damit zusammenhängende Ermordung des ehemaligen Polizisten Remiáš. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wann die Verbindung der Oligarchen zur Politik in unserem Land eigentlich tatsächlich aufhörte.

Das hat doch nie aufgehört. Hier läuft noch immer das von Vladimír Mečiar installierte Betriebssystem, das die reinste Kleptokratie ist. Niemand hat das je geändert. Mikuláš Dzurinda [konservativ-liberaler slowakischer Premierminister von 1998 bis 2006, Anm.d.Red.] schloss die Lücken, Robert Fico [sozialdemokratischer slowakischer Premierminister von 2006 bis 2010 und von 2012 bis 2018, Anm.d.Red.] hat ein Upgrade vorgenommen, damit es scheinbar mit der Europäischen Union kompatibel ist. Die Einzige, die Interesse daran hatte, dieses Betriebssystem auszutauschen, war Iveta Radičová und nach zwei Jahren wurde sie nicht nur von den Koalitionspartnern fallen gelassen, sondern auch von den Leuten aus ihrer eigenen Partei.

Arpád Soltész mit einem Bär Foto: © privat

Du hast auch einen juristischen Angriff erlebt, mit dem du ausgeschaltet werden solltest. War das eine Zivilklage?

Ja, im Grunde im Zusammenhang mit der ikonischen Causa des Mečiarismus, aber das erhielt in den Medien nicht so viel Aufmerksamkeit, da es sich nicht in Bratislava abspielte. Es ging um den Fall Tatravagónka (Waggonwerke Poprad), über den man ein ganzes Buch schreiben könnte.
 

Arpád Soltész schildert in eigenen Worten den Fall Tatravagónka:

„Tatravagónka Poprad war ein großes Industrieunternehmen, das Güterwagen herstellte und bis heute existiert. Der Besitzer war ein gewisser Vladimír Bachleda, gleichzeitig auch Leiter des Bezirksamtes, also ein Lokalpolitiker. Eines Tages kam eine Gruppe zu ihm, die Tatravagónka übernehmen wollte, indem sie die restlichen Anteile vom Staatsfonds aufkauft, aber Bachleda hatte das Vorkaufsrecht dafür. Natürlich lehnte er es ab, sich Leute in die Firma zu holen, von denen bekannt war, dass sie Dutzende von Firmen in der Ostslowakei unterwandert und ausgeplündert hatten. Er wurde einmal zu einem Treffen eingeladen, bei dem die obersten Bosse der slowakischen Mafia anwesend waren, Gangster, die vom slowakischen Geheimdienst hochgepäppelt worden waren: Holub, Žaluď und alle großen Namen der slowakischen Unterwelt. Sie erklärten ihm, wenn er ihnen Tatravagónka nicht gebe, würden sie ihn ‚runter‘ bringen. Er kapierte den Mafia-Jargon nicht und wurde noch wütend darüber, was sie sich erlaubten, da nur der Minister ihn absetzen könne. Die Leute, die an seinen Aktien interessiert waren, initiierten noch ein letztes Treffen irgendwo in der Tatra, wo ihn sein Geschäftsfreund hinfuhr. Er behauptete, ihn auch zu seinem eigenen Auto zurückgebracht zu haben und er war der Letzte, der Vladimir Bachleda lebend gesehen hat.“

Der damalige Chef der Kriminalpolizei im Bezirk Prešov hat mir einige Jahre später vor einem Notar seine Aussage unterschrieben, dass bei den Ermittlungen zu Bachledas Verschwinden ein Anruf von Bachledas Freund im Mafia-Hotel aufgezeichnet worden war, dass Bachleda auf dem Weg sei. Am nächsten Tag kam der Chef der Spionageabwehr Jaroslav Svěchota, eigentlich der zweite Mann im Geheimdienst, und entwendete ihnen diese Anrufaufzeichnung und weitere Ermittlungsergebnisse. Er gab bekannt, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien und Bachleda tot. Das ließ mich der Polizist schreiben und unterschrieb vor dem Notar, dass er mir dies zum Zweck der Veröffentlichung in jedweden Medien gegeben habe, die in der Lage seien, diese Geschichte zu bringen.
 

Ich glaube immer noch, dass zwei Drittel der Richter, Staatsanwälte und Polizisten keine korrupten Gauner sind.“

Wie ging es dann mit diesem Material weiter?

Das Material blieb bei mir, weil alle Nachrichtenredaktionen, in denen ich arbeitete, sich vor Angst in die Hose machten, und das lange nach dem Ende der Ära Mečiar. Denn der Geheimdienst versuchte noch lange nach dessen Regierungszeit, Einfluss auf das Geschehen bei Tatravagónka zu nehmen, und das war ein Schlamassel, an dem Regierungen mindestens zweier politischer Lager beteiligt waren. Niemand war auch nur bereit, da mit einem langen Stock drin herumzustochern, da selbst die Polizisten, die an den Ermittlungen beteiligt waren, ihren Job verloren und ähnliches. Schließlich hatte Peter Višváder, der Chefredakteur der Zeitung Národná obroda den Mut, einen Teil darüber zu veröffentlichen, dass Pavol Ovšonka Bachleda zu dem Treffen gefahren hatte, was der frühere Polizeichef behauptete – wir haben seine Aussage. Ovšonka verklagte Národná obroda wegen Rufschädigung. Dann ist die Zeitung in der Zwischenzeit Bankrott gegangen, aber das Gericht hatte mich als Autor ebenfalls als Angeklagten mit hinzugezogen. Und so war ich dann in diesem Rechtsstreit völlig auf mich allein gestellt.
 
Ich erhielt ein sehr obskures Urteil, dass ich zwar die Fakten veröffentlicht, aber damit den guten Ruf von Herrn Ovšonka geschädigt hatte, und so musste ich zahlen. Zunächst waren das in erster Instanz fünf Millionen Kronen, das Bezirksgericht hat das dann zusammen mit den Prozesskosten auf eine halbe Million Kronen festgesetzt. Das entsprach meinem Gehalt von mehreren Jahren und war genau die Obergrenze meines Kreditrahmens bei der Bank. Ich habe einen Konsumkredit aufgenommen. Wenn ein rechtsgültiges Urteil eingeht, ist der Betrag innerhalb von vier Tagen zu zahlen, aber da sie mir nicht einmal die Kontonummern gegeben haben, habe ich es telegrafisch per Post geschickt. Ich reichte beim Verfassungsgericht eine Beschwerde ein, das sehr schnell zurückgewiesen wurde, sodass mir dann die Tür zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg offen stand, wo so etwas Jahre dauert. Nach ungefähr sechs Jahren stellte der EGMR fest, dass mein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden war. Der slowakische Steuerzahler zahlte das zurück, was ich hatte zahlen müssen, plus etwas Schadensersatz für immaterielle Schäden, was in etwa den Bankzinsen entsprach. Viele Anwälte gratulierten mir dann, dass dies ein Präzedenzfall für die Slowakische Republik sei, und unsere Gerichte haben in derartigen Fällen seitdem etwas vorsichtiger geurteilt.

Ich hatte damals, wie jetzt auch im Fall Havran das starke Gefühl, dass das die Journalisten kaum interessiert. Wenn es nicht gerade um Mord geht, gibt es keine Solidarität unter den Kollegen.

Damals hatte ich null Unterstützung von außen. Ich arbeitete jedoch bereits für den Fernsehsender JOJ und J&T Media Enterprises [Betreiber des Privatsenders TV JOJ] schalteten ihre Anwälte ein und möglicherweise ist das der Grund, warum ich nur eine halbe Million Kronen zahlen sollte und nicht eine oder zwei, denn das wäre mein kompletter Ruin gewesen und ich wäre auf der Straße gelandet.
Arpád Soltész zwischen den Grenzsteinen auf der grünen Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine. Das Foto entstand in genau dem Moment, als der damalige slowakische Innenminister Vladimír Palko die hermetische Schließung der Grenze kontrollierte. (ca. 2005) Arpád Soltész zwischen den Grenzsteinen auf der grünen Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine. Das Foto entstand in genau dem Moment, als der damalige slowakische Innenminister Vladimír Palko die hermetische Schließung der Grenze kontrollierte. (ca. 2005) | Foto: © privat

In diesem Jahr wurde die slowakische Justiz auf bisher nie dagewesene Art und Weise von Skandalen erschüttert und einige ihrer hochrangigsten Vertreter sitzen in Untersuchungshaft. Das heißt noch lange nicht, dass sie verurteilt werden und vielleicht sollte man sich nicht zu früh freuen. Wie wird sich das deiner Meinung nach weiterentwickeln?

Ich würde das mit einer Frage beantworten: Wenn ich den Chef der Sonderstaatsanwaltschaft, den Polizeipräsidenten, den Staatssekretär des Justizministeriums und die Richter des Obersten Gerichtshofs in Untersuchungshaft sehe, sollte dann mein Vertrauen in diese Institutionen zu- oder abnehmen? Ich selbst bin mir darüber auch nicht im Klaren. In der Slowakei gibt es seit den 1990er Jahren ein Phänomen, das wir als „Polizeikrieg“ bezeichnen. Ich weiß nicht, ob es sich bei dem, was wir heute sehen, um einen Säuberungsprozess oder um einen Kampf zwischen zwei Gruppen handelt, den Kampf um eine Vorherrschaft, in dem eine Gruppe gerade die Oberhand bekommt. Es wird noch einige Jahre dauern, bis das geklärt ist. Bis zu einem gewissen Grad glaube ich, dass der enorme Druck der Öffentlichkeit nach den Morden an Ján Kuciak und Martina Kušnírová den Menschen freie Bahn verschafft hat, die nur ihren Job machen wollen. Ich glaube immer noch, dass zwei Drittel der Richter, Staatsanwälte und Polizisten keine korrupten Gauner sind. Sie waren keine Helden im Widerstand gegen das System, aber ein Held kann nur auf eigene Rechnung ein Held sein, daher ist es sehr schwierig, ihnen das vorzuwerfen.
 
Es ist viel gefährlicher, dass die jetzige Regierung die Wahlen mit Antikorruptionsrhetorik gewonnen hat, aber das, was Igor Matovič eigentlich versprochen hat, war Rache. Die Menschen wollen die Verbrecher im Gefängnis sehen. Noch lieber würden sie sie auf dem Markplatz sehen, angekettet am Pranger, wie man sie vierteilt, häutet und an Pfähle nagelt, aber wir sind in der Europäischen Union, also muss das Gefängnis für sie ausreichen. Und das ist das einzige Versprechen, das Matovič halten kann. Und das wird er auch um den Preis halten, dass er die Grundprinzipien von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit umgeht. Ich denke, die Haftanstalten sind bereits jetzt sehr überfüllt, weil es den Leuten gefällt, wenn jemand in den Knast wandert, und sie verstehen nicht, dass das noch keine Bestrafung und die entsprechende Person aus juristischer Sicht immer noch unschuldig ist. In der weiteren Beweisführung müssen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit strikt eingehalten werden, und ich befürchte, dass diese Regierung sie gezielt schwächen wird, damit sie das Verlangen des Volkes nach Rache stillen kann. Und wenn die Feinde dann irgendwann fehlen, kommen die Journalisten und jegliche Opposition an die Reihe.

Aktuell ist unser großes Trauma der Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten. Hätte irgendjemand das vorher gedacht, dass hier Journalisten getötet werden?

Nein. Für mich war das schrecklich. In meinem ersten Buch Mäso (Fleisch) geht es genau um das Ende der 90er Jahre, um die Übergangsphase, als es in der Unterwelt ebenfalls auf sehr grobe Art und Weise zu Säuberungen kam, und in diesem Sinne war diese Übergangsphase schlimmer als der Mečiarismus. Bei Signierstunden und öffentlichen Diskussionen haben mich die Leute sehr oft gefragt, wo ich den Unterschied zwischen den 1990er Jahren und der Gegenwart sehe. Ich habe immer gesagt, dass das Verbrechen heute nicht mehr das vulgäre, primitive, gewalttätige ist. Dass ich keine Angst mehr haben muss, auf die Straße zu gehen, dass mich jemand schlägt oder aus dem Auto schießt, nur weil er meine Frisur nicht mag, was in den 90ern hätte passieren können. Und ich sagte auch, dass heute Journalisten nicht mehr zusammengeschlagen werden, sondern man ihnen Anwälte in maßgeschneiderten Anzügen mit Seidenkrawatten auf den Hals hetzt, die diese viel zuverlässiger entsorgen. Und das hatte ich damals gesagt, ungefähr eine Woche bevor Ján und Martina ermordet wurden. Für mich war es ein unverständlicher Exzess irgendeines Psychopathen, der komplett ausgetickt sein muss. Selbst der dümmste Verbrecher würde nicht auf die Idee kommen, einen Journalisten töten zu lassen, weil er weiß, dass sich die gesamte Energie des Staates auf diese Sache richten wird und man den Krieg gegen den Staat nicht gewinnen kann. Ich behauptete, dass es unmöglich sei, einen Journalisten anzugreifen, es wäre nutzlos, dumm und kontraproduktiv. Und am Ende ist es ja auch so gewesen. Denn dieser Jemand hat in dem Zuge gleich sich selbst und auch die gesamte politische Riege, die ihn gedeckt hat, mit abgeschossen.
 

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