Künstler*innen in Quarantäne  In Zeiten von CoronArt

© Erik Šille © Erik Šille

Der bekannte argentinische Geschichtenerzähler und Psychotherapeut Jorge Bucay schrieb einmal eine wunderschöne Geschichte mit dem Titel „Das Blatt“. Sie spielt im Jahr 1900 am Beginn eines harten Winters irgendwo in Frankreich in einem alten Häuschen, in dem die 11-jährige Marie mit ihrer Mutter lebt. Eines Morgens spürte das Mädchen starke Schmerzen im Brustkorb. Die Diagnose des Arztes lautet: Tuberkulose. Eine Krankheit, die zur damaligen Zeit für viele den Tod bedeutete.

„Bleiben Sie Marie nahe. Wenn sie bis zum kommenden Frühjahr träumen kann, wird sie wieder gesund“, sagte der Arzt der traurigen Mutter. Bis zum Frühjahr waren es jedoch noch zwei lange Monate. Deshalb beschloss die Mutter, die Möbel im Haus umzustellen und rückte das Bett der Tochter an Fenster, damit sie hinausschauen konnte.

„Mama, Mama“, rief Marie eines Morgens. „Schau dir diesen Baum an. Vor einiger Zeit war er voller bunter Blätter, aber jetzt ist er fast kahl. Wenn das letzte Blatt abfällt, geht auch mein Leben mit ihm zusammen zu Ende“, sagte das Mädchen zur Mutter, die es gleich darauf umarmte. „So darfst du nicht denken. Die Blätter fallen zwar ab, aber dann wachsen neue“, redete ihr die Mutter zu. Als sie eines Morgens ins Zimmer kam, sah sie ihre Tochter gespannt aus dem Fenster blicken. Regungslos beobachtete sie einen jungen Künstler, der seine Erinnerungen an Paris auf Leinwand malte.

Das Mädchen und der Maler wurden Freunde. Er war es, der ihr alle Farben des Lebens zeigte. Eines Tages begann Marie jedoch zu weinen. „Warum weinst du?“, fragte der Maler. „Heute habe ich die Blätter am Baum gezählt und es sind nur noch 25. Ich weiß, was es bedeutet, wenn alle abfallen“, antwortete ihm das Mädchen traurig. Der Maler beugte sich zu ihr hinunter und umarmte sie. Eines Tages musste er jedoch wegen seiner Ausstellung auf einen anderen Kontinent reisen. Marie war betrübt, aber der Maler versprach, dass er ihr nach seiner Rückkehr im Frühjahr das Malen mit Ölfarben beibringen würde.

Hoffnung in Zeiten der Unsicherheit

„Ich weiß nicht, ob ich noch hier sein werde, wenn du zurückkommst“, sagte Marie niedergeschlagen. Tag für Tag beobachtete sie weiter die Bäume mit Schmerzen im Brustkorb. „Mama, Mama! Schau, am Baum sind nur noch drei Blätter“, sagte sie zu ihrer Mutter. Bis zum Beginn des Frühlings waren es nur noch zwei Wochen, aber Marie litt weiter unter Krankheit und Angst. Eines Nachts zog ein ungeheurer Sturm auf. Es schneite und ein starker Wind blies, der wie eine Peitsche zerstörerisch über alles hinwegfegte.

„Mama, deck mich zu, mir ist sehr kalt“, bat das fiebernde Mädchen. Als es am Morgen erwachte und aus dem Fenster sah, bemerkte es, dass nur noch ein einziges kleines Blatt an einem Zweig des Baumes hing. „Mama, wahrscheinlich sterbe ich“, sagte Marie leise. Aber das Blatt blieb wie durch ein Wunder weiter an dem Baum hängen. Nach und nach bemerkte das Mädchen, wie an dem Baum neue, grüne Blätter wuchsen. Sein Gesundheitszustand begann sich zu bessern. Der Frühling kam und endlich konnte Marie wieder auf die Straße hinausgehen.

„Er ist noch nicht zurück, aber er hat etwas für dich dagelassen“, sagte der Nachbar dem Mädchen und gab ihr einen Brief des Malers. „Liebe Marie, bald beginnen wir unseren gemeinsamen Malunterricht. Solange ich weg bin, geh zur Haushälterin und bitte sie um die Schlüssel für meine Wohnung. Geh hinein, nimm dir, was du brauchst und male“, schrieb er ihr. Marie ging in das Atelier, nahm die Farben des Künstlers, öffnete das Fenster und plötzlich sah sie am Baum das Blatt, das sie den ganzen Winter lang beobachtet hatte. Es war so nah, dass sie es plötzlich mit der Hand berühren konnte.

Kunst, die Wir brauchen

Die Geschichte von Jorge Bucay erzählt auch davon, wie wichtig Kreativität und Kunst in unserem Leben sind. Vielleicht waren sie uns noch nie so nahe, wie in Zeiten der Corona-Stille, als sich die Welt verlangsamte. Die Kunst tritt plötzlich mit einer noch größeren Intensität an uns heran und erfüllt unseren persönlichen Raum. Vollgeschriebene Buchseiten, starke Liedtexte, Musik, rezitierte Gedichte oder Fotografien von Gemälden, die wir von Künstlern bekommen, geben uns die Möglichkeit, das zu reflektieren, was sie uns mit ihrem Blick auf die Welt sagen wollen. Viele haben sogar begonnen, etwas von ihren Werken online zu teilen.

Wie erleben eigentlich Künstler diese Tage? Haben sie die Möglichkeit, weiterzuarbeiten wie bisher? Wovon leben sie eigentlich und worüber denken sie nach? Erschaffen sie ihre eigene CoronArt? Was verändert sich ihrer Meinung nach in unseren Leben?

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