Psychologie des Tastsinns  Berührung mit uns selbst durch andere

Berührung mit uns selbst durch andere Foto: Liz Fitch via unsplash | CC0 1.0

Sie sind ein natürlicher Bestandteil des Lebens, bereits bei unserer Zeugung spielen sie eine Rolle. Die einen mögen und suchen sie, andere scheuen sie und halten sie für verzichtbar. Für den Menschen sind sie jedoch äußerst wichtig und nützlich. Berührungen.

Berührungen sind bereits bei der Zeugung eines Kindes essentiell, wenn die Körper der Liebenden sich vereinigen. Berührung ist also ganz natürlich, sogar auf zellulärer Ebene, im neu geborenen Leben.

Während der Entwicklung in der Gebärmutter reagiert der Embryo sehr sensibel auf mentalen und auch taktilen Kontakt mit der Mutter und seiner Umwelt. „Das heranwachsende Baby sucht aktiv diese Nähe. Es ist in ständigem Kontakt mit der Gebärmutterschleimhaut, es kann die Umgebung berühren, die Plazenta, die Nabelschnur, es kann am Daumen lutschen oder mit der Zunge die Umgebung ablecken“, beschreibt die Doula [Schwangerschafts-, Geburts- und Wochenbett­begleiterin, Anm.d.Red.] Zuzana Bajkaiová, die seit langem mit Frauen und Neugeborenen arbeitet, die ersten Berührungen.

Doula Zuzana Bajkaiová Doula Zuzana Bajkaiová | Foto: © privat

Die Bedeutung der ersten Berührungen

Menschlichkeit, tiefe Ehrfurcht und Respekt – das vermittelt auch das Bild des Babys, das unmittelbar nach der Geburt auf die Brust der Mutter gelegt wird, wo es ihren Herzschlag spüren kann. „Zärtliche Berührungen und viel gemeinsame Zeit helfen dem Neugeborenen, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen. Der Tastsinn ist ein immens entwickelter Sinn. Berührungen zwischen Mutter und Kind sind in der Biologie des Kindes angelegt und sehr wichtig“, erklärt Bajkaiová. Ihr zufolge ist es für beide Seiten sehr frustrierend, wenn Babys nach der Geburt von ihren Müttern getrennt werden. Sie erklärt, dass verschiedene Probleme, mit denen manche Erwachsenen zu kämpfen haben, ausgerechnet durch unerfüllte kindliche Bedürfnissen entstanden sein könnten.

Ich fühle, also bin ich

Berührungen sind im Grunde die erste Sprache, durch die eine Bindung aufgebaut wird, und zwar meist zur Mutter. Sie beeinflussen menschliche Entscheidungsfindungen und unser Verhalten, oft ohne dass der Einzelne sich dessen bewusst ist. Manche Emotionen, wie Mitgefühl oder Liebe, lassen sich viel leichter durch Berührungen als durch Mimik ausdrücken.

Jede Berührung erfolgt über die Haut und kann nur dank ihr wahrgenommen werden. Die Haut und ihre Rezeptoren sind das größte Sinnesorgan. Ein erwachsener Mann hat etwa 18.000 Quadratzentimeter Haut, was etwa 16 bis 18 Prozent seines Gesamtgewichts ausmacht.

„Mit den Tastsinnrezeptoren des Körpers sind wir in der Lage, uns nicht nur physisch, sondern auch psychisch von der Außenwelt abzugrenzen. In diesem Sinne können wir mit Descartes nicht nur sagen ‚Ich denke, also bin ich‘, sondern vielmehr ‚Ich fühle, also bin ich‘“, sagt die klinische Neuropsychologin und Psychotherapeutin Lenka Krámská aus Tschechien.
Neuropsychologin Lenka Krámská Neuropsychologin Lenka Krámská | Foto: © privat
Der Tastsinn schützt den Menschen vor potenziellen Gefahren, da er dank ihm schnell reagieren kann. „Sanfte Berührungen stimulieren wiederum die afferenten Nerven, die sensorische Reize an Rückenmark und Hirn weiterleiten. Neurotransmitter wie Oxytocin und Dopamin, die bei angenehmen Empfindungen eine ausschlaggebende Rolle spielen, werden stimuliert. Zudem werden durch den Körperkontakt Signale an Gehirnregionen gesendet, die für Belohnungen zuständig sind (orbitofrontaler Kortex), wodurch die Ausschüttung von Oxytocin ausgelöst wird. Dies führt zu Gefühlen wie Freude, Glück und Zuversicht“, erklärt die Dozentin Lenka Krámská.

Berührungen sind wie Energieübertragung. Sie haben eine tiefgreifende Wirkung auf den menschlichen Organismus. Viele Studien weisen auf ihren positiven Einfluss bei der Ausschüttung von Hormonen hin. Berührungen senken den Blutdruck und die Herzfrequenz, den Spiegel des Stresshormons Cortisol, stimulieren den Hippocampus (den Bereich, der für das Gedächtnis zuständig ist) und setzen eine Reihe von Hormonen und Neuropeptiden frei, die mit positiven Emotionen verbunden sind. Außerdem verringern sie die Intensität von Schmerzen, fördern das Wachstum bei Kindern, senken den Blutzuckerspiegel und verbessern die allgemeine Funktion des Immunsystems.

Und das Wichtigste: Sie beruhigen.
 

Oxytocin

Das „Liebeshormon“ Oxytocin ist für das Beziehungsverhalten von Säugetieren verantwortlich. Es hilft Paaren, langfristige Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Der Oxytocinspiegel steigt während einer Geburt deutlich an und trägt dazu bei, die Bindung zwischen dem Neugeborenen und der Mutter herzustellen.

Berührung ist nicht gleich Berührung

Wir kennen verschiedene Arten von Berührungen. Es gibt sie in verschiedenen Variationen und mit ihnen drücken wir unsere emotionale Haltung gegenüber anderen aus. Sie sind für alle Altersgruppen wichtig, von Kindern bis hin zu älteren Menschen.

„Durch Berührung finden wir heraus, welche Haltung andere uns gegenüber haben und welche Haltung wir ihnen gegenüber haben. Gerade diese nonverbalen Signale funktionieren oft viel zuverlässiger als Worte allein“, sagt die Beziehungs- und Lebensberaterin Janette Šimková.

Berührungen und ihre Häufigkeit zeigen auch, wie tief wir mit anderen verbunden sind, nicht nur physisch, sondern auch psychisch und sozial. „Bereits bei Kleinkindern, die körperlicher Deprivation ausgesetzt sind, lassen sich pathologische Anzeichen von Berührungsmangel beobachten. Dazu gehören beispielsweise ein erheblich reduzierter Ausdruck in Mimik und Stimme oder seltsame stereotype Bewegungen. Außerdem kommt es zu Störungen des Bindungsverhaltens, der kognitiven, emotionalen und psychosozialen Entwicklung, einschließlich künftiger Störungen der sozialen Interaktion“, sagt die Psychotherapeutin Krámská.

Ohne Umarmungen?

Je älter wir werden, desto weniger berühren wir einander. Manche akzeptieren jedoch ab ihrer frühen Jugend keine Berührungen mehr. Wenn wir jemandem erlauben, uns zu berühren, bringen wir ihm großes Vertrauen entgegen. Aber sicherlich kennt jeder von uns Menschen, die sich bei Berührungen unwohl oder bedroht fühlen. Sie haben das Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein. Daraus entstehen Beklemmungen und Existenzangst.

Manchmal vermeiden wir Berührungen auch absichtlich. Das gibt uns ein Gefühl von Individualität und Unabhängigkeit von anderen Menschen. „Der Mangel an Berührung führt aber auch zu erheblichem psychischen Unbehagen und einem Gefühl von Einsamkeit, das man sich nicht einmal erklären kann. Die Pandemie hat uns dies ganz unmittelbar, ja sogar in aller Härte gezeigt. Wir können nicht ohne einander und die Nähe zueinander“, sagt die Beraterin Šimková aus Erfahrung.

Einigen Autoren zufolge kann Einsamkeit dazu führen, dass das Gehirn in eine Art Selbsterhaltungsmodus „umschaltet“. „Das Hirn wird hypervigilant, aufmerksamer und empfindlicher gegenüber Bedrohungen. Dies führt zu einer verstärkten Abwehrhaltung und in der Folge zur Entstehung von Depressionen, Angstzuständen, Schlaf- und Essstörungen. Befriedigung suchen viele Betroffene dann oft in kompensatorischem Verhalten. Auf gesunde Art und Weise wäre dies Sport, Massage, Tanz oder künstlerische Betätigung. Die pathologische Form bedeutet, dass diese Menschen ihre Bedürfnisse entweder unterdrücken oder sie im Gegenteil mit Suchtmitteln stimulieren“, erklärt die Neuropsychologin Kramská.

Berührungen erhalten und annehmen

Kleine Kinder und Haustiere sind die besten Lehrmeister dafür, wie natürlich Berührungen sein können. Sie verlangen oft nach Streicheleinheiten und Kuscheln und sind gleichzeitig in der Lage, die Aufmerksamkeit auf eine aufrichtige und angenehme Weise zurückzugeben.

Wenn man sich ein wenig besser fühlen möchte und nicht gerade einen Welpen zum Streicheln hat, können zum Beispiel Massagen helfen. „Ich biete meinen Klienten beispielsweise als Lösung auch an, sich selbst zu beobachten, wie sie sich eincremen, ihre Haare kämmen, sich die Zähne putzen oder sich anziehen. Dadurch zeigt sich, ob sie sanft oder angemessen mit sich selbst umgehen oder ob sie sogar Feindseligkeit sich selbst gegenüber verspüren“, so Janette Šimková.

Lebens- und Beziehungscoach Janette Šimková Lebens- und Beziehungscoach Janette Šimková | Foto: © privat

Nähe bringt Erleichterung

Das heilende Potenzial von Berührungen sowohl bei Heil- als auch bei Entspannungsmassagen ist unbestreitbar. Umarmungen hingegen sind ein Ausdruck von Akzeptanz, Liebe, Zuneigung, Nähe, Menschlichkeit und Freude.

„Berührung nährt die ‚Wurzeln‘, aus denen eine gesunde und ausgeglichene Persönlichkeit wachsen kann, die sich geliebt fühlt, die fähig ist, Liebe und Empathie für andere Wesen zu empfinden, die sensibel ist für Fauna und Flora und nie daran zweifelt, dass sie am richtigen Platz ist“, schließt Zuzana Bajkaiová.
 

Mgr. Zuzana Bajkaiová SEP (Somatic Experiencing Practitioner) begleitet Einzelpersonen und Familien in Krisen und auf dem Weg des Lebens. Sie konzentriert sich auf die langfristigen Auswirkungen von Geburt und frühkindlichen Erfahrungen auf das Leben eines Menschen, sowie auf die Themen limbische Prägung, Rehabilitation von Geburtserfahrungen, Heilung des inneren Kindes, Geburtsvorbereitung und Inhalte der bewussten Elternschaft, die Arbeit mit Stress und Traumata sowie Craniosacral-Therapie.

Assoc. PhDr. Mgr. Lenka Krámská, Ph.D. ist Psychotherapeutin und registrierte klinische Psychologin mit Spezialisierung auf klinische Neuropsychologie. Sie lehrt an der Prager Karlsuniversität und am Institut für postgraduale medizinische Bildung IPVZ (klinisch-neuropsychologische Themen), ist zudem Vorsitzende des Fachbereichsausschusses für Doktoranden in klinischer Psychologie und Gesundheitspsychologie an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität und betreut Doktoranden. Sie ist Mitbegründerin der Tschechischen Neuropsychologischen Gesellschaft, Mitglied des Wissenschaftsausschusses der INS (International Neuropsychological Society) und des Ausschusses der F-ESN (Federation of the European Societies of Neuropsychology). Sie widmet sich hauptsächlich Patienten mit neurologischen und neurochirurgischen Problemen und Diagnosen und ist als klinische Neuropsychologin im Klinikum Na Homolce (NNH) in Prag tätig, wo sie auch die Abteilung für klinische Psychologie leitet. Ihre derzeitigen klinischen und Forschungsinteressen umfassen neuropsychologische Untersuchungen, kognitive Rehabilitation und Psychotherapie bei Patienten mit ZNS-Erkrankungen (Epilepsie, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Hirntumore, degenerative Erkrankungen und so weiter).

Mgr. Janette Šimková ist Lebens- und Beziehungscoach und ermutigt Menschen, nach einem tieferen Sinn zu suchen. Sie unterstützt sie dabei, nicht zu einem bestimmten Punkt zurückzugehen und zu versuchen, einen neuen Anfang zu machen, sondern dort anzufangen, wo sie aufgehört haben, um dann ein neues Ende zu schaffen. Die Autorin hat vier Bücher veröffentlicht, ihr aktuelles, eine Anleitung für seelisches Wohlbefinden mit dem Titel Takto sa to podarí (So gelingt es) erschien 2021 bei Slovart.

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