Absolutes Gehör  Ein D ist kein F

Foto von Lukáš Kuta.
Lukáš Kuta hat ein absolutes Gehör. Foto: © privat

Menschen mit absolutem Gehör können Tonfrequenzen unterscheiden wie andere Farbschattierungen. Dass diese besondere Begabung auch eine Last sein kann, weiß Lukáš Kuta. Denn auch er hört „absolut“.

Kinder mit absolutem Gehör geraten oft in ungewöhnliche Situationen, die alle eine Gemeinsamkeit haben: Andere Leute können nur schwer verstehen, was mit diesen Kindern vor sich geht. Ein typisches Beispiel: Bei den Pfadfindern gibt es eine Anweisung. „Kinder, wenn ihr die Trompete hört, läuft alle ins Versteck“, und der Anschaulichkeit halber wird einmal zur Probe geblasen. Der Leiter der Gruppe nimmt das aber nicht so genau, und wenn er dann später das Signal gibt, spielt er oft einen anderen Ton als vorher. Der Ton erklingt und die Kinder laufen ins Versteck. Ein Kind mit absolutem Gehör ist in diesem Moment verwirrt. Es zögert, ob es loslaufen soll oder nicht, denn dieser Ton war doch ganz anders als der vorherige.

Fifty Shades of Sound

Kommt euch das komisch vor? Gut, versuchen wir uns eine analoge Situation vorzustellen: Wie würde es aussehen, wenn es heißt, dass als Signal eine rote Fahne geschwenkt wird. Wie würdet ihr euch verhalten, wenn zwar eine Fahne geschwenkt wird, diese jedoch grün ist? Ihr würdet vermutlich zögern. Stellt euch jetzt eine ähnliche Situation in euren Ohren vor – genau das ist das absolute Gehör: die Fähigkeit, unterschiedene Tonhöhen zu erkennen, genauso wie das Auge verschiedene Farben unterscheiden kann. Der Ausdruck „absolut“ ist hier als Gegensatz zu „relativ“ gemeint – um eine Farbe zu erkennen, brauchen wir keinen Vergleich mit einer anderen. Wir betrachten absolut.

Wir alle hören, dass jeder Ton einen bestimmten Klangcharakter hat, aber dass eine bestimme Frequenz oder Tonhöhe dann auch noch so etwas wie eine „Nuance“ – im Grunde genommen ein Gefühl – in sich birgt, wissen nur die wenigsten. So wie wir alle aber den klaren Unterschied zwischen Rot und Grün wahrnehmen, vernimmt ein Mensch mit absolutem Gehör bei jedem Ton ganz klar dessen konkrete Klangfrequenz. Grün ist nunmal Grün, und nicht Rot, genauso wie die Tonfrequenz „D“ nun mal „D“ ist und nicht „F“. So funktioniert das absolute Hören.

Kinder mit absolutem Gehör begreifen noch nicht, dass die Anderen etwas so Natürliches wie die Wahrnehmung von Frequenzen gar nicht kennen. Wenn wir nämlich die Welt um uns betrachten, setzen wir von Anfang an voraus, dass die Anderen alles ganz ähnlich sehen wie wir selbst. Was die Tonhöhe als selbstständige Qualität betrifft, so funktionieren absolutes und relatives Gehör ganz anders, aber ein Kind mit absolutem Gehör weiß das noch nicht. In solchen Situationen kommt es oft vor, dass man diese Kinder fälschlicherweise als weniger lernfähig einstuft. Genauso könnte man aber auch argumentieren, alle anderen wären taub. Erst wenn den „absolut“ Hörenden klar wird, dass sie im Gegensatz zu den anderen Menschen mehr wahrnehmen, werden sie zu erklären versuchen, worum es da eigentlich geht.

Jeder hört die Welt auf eine andere Weise

Meist haben Menschen mit absolutem Gehör Schwierigkeiten, sich in die Wahrnehmungsweise von Menschen mit relativem Hörsinn hineinzuversetzen – und umgekehrt. Gefühle und Emotionen sind für gewöhnlich nicht übertragbar, und es ist notwendig, sie so detailliert wie möglich zu vermitteln. Erst dann kommt es zu gegenseitigem Verständnis. Falls ein Kind jedoch schwer mitteilbare Erlebnisse hat, kann es problematisch werden. Der Mensch ist nunmal ein soziales Wesen, dessen Bindung mit Anderen dadurch entsteht, dass man etwas Gemeinsames sucht und teilt. Ein Kind mit absolutem Gehör muss früher oder später einsehen, dass es immer etwas erleben wird, worüber es sich nicht mit der Umwelt austauschen kann.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass völliges Verständnis in diesem Fall gar nicht möglich ist. Man kann annähernd etwas vermitteln, aber dazu sind immer eine ganze Reihe an Vergleichen nötig. Und diese verzerren auf eine gewisse Art immer, etwa wenn wir es mit der Physik zu erklären versuchen: Die Farben des Regenbogens entstehen durch Frequenzen, die das Auge später als konkrete Farben auswertet. Ganz ähnlich hört ein Mensch mit absolutem Gehör eine Klangfrequenz als bestimmte „Nuance“. Darüber hinaus gibt es nicht viele wissenschaftliche Artikel über Untersuchungen des absoluten Hörsinns. Der Grund liegt darin, dass Neurologen, Psychiater, Psychologen, Chirurgen, Pathologen – also alle, die das Gehirn jener „absolut“ Hörenden untersuchen – meist selbst kein absolutes Gehör haben. Und noch eine Analogie: Kürzlich las ich, dass Vögel über ein breiteres Farbspektrum als der Mensch verfügen. Nicht einmal mithilfe von Computern ließe sich dem menschlichen Auge auch nur annähernd simulieren, wie ein Vogel die Welt sieht.

Klang als Temperatur?

Wie könnte man das Gefühl des „Absoluten“ beim Hören noch beschreiben? Vor uns stehen zwei Tassen mit unterschiedlich warmem Wasser. Wenn wir einen Finger hineinhalten, stellen wir sofort fest, in welcher Tasse das Wasser wärmer ist. Die Temperatur bestimmen wir jedoch nicht auf der Basis eines relativen Vergleichs der beiden Gefäße, sondern indem wir sie mit unserer eigenen Körpertemperatur vergleichen. Wir gehen davon aus, dass uns Wasser kühlt, brennt oder angenehm wärmt. Deshalb erscheint uns auch zum Beispiel die Angabe, dass das Wasser im Schwimmbecken 26 Grad hat, als sinnvoll. In Bezug auf das absolute Gehör ist es von genau derselben Wichtigkeit, dass eine Band ihre Instrumente nach dem Ton A der Frequenz441 Hz gestimmt hat. Auch der absolute Hörsinn muss sich, was die „Temperatur“ eines Tones angeht, nach irgendeinem Maßstab richten.

Es stellt sich die Frage, wo dieser Maßstab zu finden ist. Im Gedächtnis, im Gehirn, oder womöglich in einem anderen Körperteil? Wir wissen, dass das absolute Gehör in einigen Fällen eine Belastung darstellen kann. Neurologen und Psychiater beobachten das absolute Gehör mithilfe magnetischer Resonanzen. Es zeigt sich, dass das Gehirn von Menschen mit absolutem Hörsinn bei Schallimpulsen zu bestimmten Zeiten deutlich stärker „leuchtet“ als es gewöhnlich. Dies signalisiert einen höheren Verbrauch von Sauerstoff und Glukose – mit anderen Worten, das Gehirn arbeitet mehr, wenn es Töne hört (und nicht etwa das Rauschen des Waldes). Und wenn das Gehirn mehr arbeitet, wird der Träger durch das Hören schneller müde. Musikalischer Smog ist heute allgegenwärtig… Das Problem ist, dass das absolute Gehör nicht „ausgeschaltet“ werden kann, genauso wie niemand das Erkennen von Farben einfach „ausschalten“ und auf einmal alles nur mehr schwarz-weiß sehen kann.

Mythen widerlegen

Den Mythus, dass jeder Eigentümer eines absoluten Gehörs ein Mensch ist, der besser hören kann und musikalisch begabt ist, möchte ich gerne widerlegen. Ja, natürlich erleichtert einem das zum Beispiel, Töne im Aufnahmestudio oder beim Einstellen von Mikrofonen zu analysieren – doch auch jemand mit absolutem Hörsinn kann schwerhörig sein oder einen Hörfehler haben. Darüber hinaus ist absolutes Gehör genauso wenig an musikalische Begabung gekoppelt wie die Wahrnehmung von Farben automatisch bedeutet, dass jemand Maler wird, oder Chemiker, der sich mit der Herstellung von Farben befasst. Hervorragende Komponisten und Musiker haben oft kein absolutes Gehör. Und doch muss erwähnt werden, dass der absolute Hörsinn bei Musikern in der Regel häufiger auftritt als bei den übrigen Menschen, und dass er Musikern durchaus einen guten Dienst leistet.

Ich erinnere mich an eine Diskussion, in der darüber gesprochen wurde, ob man durch Übung ein absolutes Gehör bekommen kann. Das geht nicht. Und ob diese Eigenschaft angeboren ist? Man weiß nicht, ob sie von Geburt an bei allen vorkommt und wir sie kurz danach verlieren, oder ob niemand sie von Geburt an besitzt und man sie im Kleinkindalter erwerben kann, später aber nicht mehr. Viele Fragen, wenige Antworten. Absolutes Hören ist jedoch keine intellektuelle Fähigkeit, sondern eine sehr emotionale. So fühle ich das, als ein „absolut“ Hörender.
 

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