Polnisch-belarusisches Grenzgebiet  Das Sterben im Wald – ein europäisches Dilemma

Ein anonymes Grab auf dem muslimischen Friedhof in Bohoniki – ein erstes Denkmal für die humanitäre Krise im polnisch-belarusischen Grenzgebiet
Ein anonymes Grab auf dem muslimischen Friedhof in Bohoniki – ein erstes Denkmal für die humanitäre Krise im polnisch-belarusischen Grenzgebiet Foto: © Peggy Lohse

Im polnisch-belarusischen Grenzgebiet verdursten, verhungern und erfrieren Menschen. Wochenlang werden sie von bewaffneten Uniformierten beider Seiten hin und her gejagt. Private Initiativen und NGOs wollen die Not der Menschen lindern. Sie helfen dort, wo die Europäische Union seit Jahren keine Lösung findet. Allgegenwärtige Staatsgewalt und trübe Zukunftsperspektiven belasten sie zusätzlich.

„Ruhe in Frieden“ sagt das kleine weiße Schild. Hier, auf dem Friedhof der muslimischen Gemeinde Bohoniki in der ostpolnischen Wojewodschaft Podlachien, liegt ein Mensch begraben, der am 22. Oktober 2021 tot in der Sperrzone an der Grenze zu Belarus gefunden wurde. Es ist ein Grab ohne Namen. Die Gerichtsmedizin fand nur heraus: NN – ein Mann, etwa 30 Jahre alt, mit dunkler Hautfarbe – war an Flüssigkeitsmangel und Unterkühlung gestorben.

NN ist einer von vier hier nach muslimischer Tradition begrabenen Opfern der humanitären Krise an der ostpolnischen EU-Außengrenze. Hinter der Friedhofsmauer beginnt der letzte Urwald Europas. Bis zur Grenze sind es knapp zehn Kilometer. Neben NN liegt Halikari Dhaker – geboren und gestorben am 14. November 2021, beerdigt am 23. November. Da kämpfte seine Mutter Avin Ifran Zahir im Kreiskrankenhaus Hajnówka noch um ihr Leben. Am 3. Dezember starb die 38-jährige Kurdin aus dem Irak dort – an den Folgen der Fehlgeburt, von Hypothermie und Trinkwassermangel. Ihr Mann und ihre fünf weiteren Kinder befinden sich in einer Aufnahmestelle und werden psychologisch betreut.

Niemand soll sehen, was an der Grenze geschieht

NN, Halikari Dhaker und Avin Ifran Zahir sind drei von bisher rund 20 bekannten Todesopfern. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Denn die polnische Regierung hat Anfang September entlang der Grenze zu Belarus eine drei Kilometer breite Sperrzone eingerichtet, die nur Ansässigen und Uniformierten den Zutritt erlauben: keine humanitäre Hilfe, keine Rechtsberatung, keine medizinische Notversorgung durch nichtstaatliche Initiativen, auch keine unabhängige Presse. Niemand soll sehen, was dort passiert. Niemand soll sehen, wie der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko Warschau und Brüssel vorführt.

NN war einer von Tausenden, die dem verlockenden Ruf des belarusischen Regimes gefolgt waren, auf dem scheinbar ungefährlichen Landweg in die Europäische Union zu kommen. Lukaschenko rächt sich so für die EU-Sanktionen gegen sein Land, eingeführt wegen Menschenrechtsverletzungen, brutalen Repressionen gegen die Opposition und der Entführung eines Ryanair-Fliegers im Mai. Dafür lässt er Menschen aus Krisengebieten vor allem in Syrien und im Irak mit Extra-Flügen nach Minsk holen. Von da werden sie an die Grenze gebracht. Dort zur Erstürmung des Grenzzauns gezwungen.

Wenn sie das schaffen, sind sie in Polen – aber „illegal eingereist“, was als Straftat gilt. Zehntausende Uniformierte von Grenzschutz, Armee und Polizei suchen nach ihnen, um sie wieder nach Belarus zu bringen. Die in der EU verbotenen Pushbacks hat Warschau hier offiziell zur Strategie der „Verteidigung“ Europas gegen den „hybriden Krieg“ Lukaschenkos erhoben, das Menschenrecht auf Asyl ausgesetzt. Die Menschen sitzen in der Falle.
 

„Unglaublich, wie schnell sich vernünftige Menschen finden“

Das „No-Name-Grab“ in Bohoniki ist schon jetzt ein Symbol: „Mit dem Friedhof gibt es schon ein Denkmal, das später Angehörige und Gedenkende besuchen werden, um an die Krise hier zurückzudenken“, erzählt Anka* aufgebracht. „Ich hoffe, die Leute werden sich dann nicht nur an die Angst vor Uniformierten erinnern, sondern auch an die Hilfe, die sie vor Ort erlebt haben.“ Anka betreibt seit 18 Jahren ein mittelständisches Textilunternehmen in einem Vorort von Białystok. Sie war nie Aktivistin, aber seit zwei Monaten lebt sie in ständiger Alarmbereitschaft: „Ich bin schockiert. So etwas haben wir alle noch nie erlebt. Das ist wie im Krieg.“ Sie unterstützt die Stiftung Ocalenie („Rettung“). Sie stellt Lagerräume für Spendensammlungen zur Verfügung, ließ in der Firma schon wasserdichte Schlafsackhüllen nähen. Ihr Sommerhaus in Grenznähe ist ein Basislager für Hilfsteams aus ganz Polen, die jeweils für mehrere Tage anreisen und per Notruf rund um die Uhr für Bedürftige erreichbar sind.

Seitdem klingelt ihr Telefon ständig: „Wir kennen uns nicht persönlich, sind nur per Telefon vernetzt – aber es ist unglaublich, wie schnell sich solidarische und vernünftige Menschen zusammengefunden haben, um hier zu helfen!“ Wie Anka leisten die meisten Menschen vor Ort individuell Hilfe, angetrieben von christlicher Nächstenliebe und sozialem Verantwortungsbewusstsein. „Keine Mutter kann es ertragen, wenn im Wald vor der Haustür Kinder sterben!“, sagt Anka.
  Seit dem Spätsommer suchen Anwohner*innen nahe und in der Sperrzone nach hilfsbedürftigen Menschen im Wald. Sie bringen Essen und Trinken, trockene und warme Sachen. Manche stellen grüne Lampen ins Fenster – als Willkommenszeichen für Bedürftige. Notrufnummern werden an Bäume gepinnt und in sozialen Netzwerken geteilt. Auch Plastiktüten mit Lebensmitteln und warmer Kleidung werden im Wald aufgehängt. Mehr können sie nicht tun: Denn wer „Illegale“ transportiert oder zuhause aufnimmt, kann als „Schleuser“ mit bis zu mehreren Jahren Gefängnis bestraft werden. In Michałowo haben Freiwillige Feuerwehr und Gemeinde einen Hilfepunkt eingerichtet. In Białowieża und Krynki betreibt die Caritas solche Zelte. Diese können praktisch aber auch nur Helfende nutzen, denn „Illegale“ würden hier sofort vom Grenzschutz aufgegriffen. Und das hieße wieder Pushback.

Als sich NGOs aus ganz Polen einklinkten, wuchs die Hilfestruktur weiter. Neben der Stiftung Ocalenie, die Anka unterstützt, organisiert auch Grupa Granica („Gruppe Grenze“) Bereitschaftsdienste außerhalb der Sperrzone im Grenzgebiet. Es ist ein Netzwerk aus 14 Vereinen: Sie koordinieren und dokumentieren Hilfseinsätze, veranstalten Informationstreffen zur humanitären Lage für Freiwillige und Medienvertreter*innen. Sie sind explizit politisch: „Wir wollen unseren Staat dazu zwingen, die eigenen Gesetze einzuhalten“, betont Natalia Gebert vom Granica-Hauptsitz in Warschau. Anfang Dezember erschien der erste Granica-Lagebericht Humanitäre Krise im polnisch-belarusischen Grenzgebiet (Humanitarian crisis at the Polish-Belarusian border).
 

Mit politischen Forderungen haben die lokalen Initiativen indes wenig am Hut. Für Anka zum Beispiel erscheint der Bau einer Grenzmauer, wie ihn sich Polens rechtspopulistische PiS-Regierung in Warschau wünscht, ebenso als mögliche Lösung der Krise wie eine geordnete Aufnahme und Bearbeitung der Asylanträge. Letzteres bevorzugt sie als Unternehmerin: „Viele von uns sind doch auch weggegangen, um es besser zu haben… Wir haben jetzt ein würdiges Leben. Aber jeder Mensch verdient doch das Recht darauf!“ Außerdem fehlten ihrer Firma ständig Arbeitskräfte. Sie würde gern künftig Geflüchtete anstellen, auch selbst ausbilden. Der Bürgermeister von Michałowo verfasst im November einen Offenen Brief an die polnische Regierung, in dem er einerseits katholisch argumentiert und die humanitäre Notlage der Geflüchteten im Wald kritisiert. Gleichzeitig prangert er aber auch die Belastung für die Einsatzkräfte sowie langfristige Image-Schäden für seine Gemeinde und die Region an. Der Vorsteher der Muslimischen Gemeinde in Bohoniki bringt nicht nur Geflüchteten, sondern auch Einsatzkräften Suppe in den Wald.

Überall nehmen Soli-Aktionen für den Grenzschutz zu: Schulklassen schicken selbstgemalte Postkarten. Improvisierte Schilder und professionell gedruckte Poster voller „Dank den Verteidigern Polens“ säumen die Straßen und sogar eine Autobahnbrücke bei Łódż. Forstamt und Grenzschutz sind die größten Arbeitgeber der Region, beide sind in die „Verteidigung“ der Grenze involviert. Oft sind die Uniformierten auch Nachbarn, Familie und Freunde. Und nicht alle sind gleich: „Ich habe von Geflüchteten gehört, die Grenzschützer seien die Schlimmsten. Nicht so brutal wie die Belarusen, aber auch sie schlagen. Andere erzählen, sie geben den Menschen Essen und Trinken, bevor sie sie dann doch zurück nach Belarus bringen“, erzählt Małgorzata Linkiewicz von der Granica-Regionalgruppe in Białystok. Manche Beamte hielten aber auch im Verborgenen Kontakt zu den Freiwilligen, überbrachten Informationen aus der Sperrzone.

„Vor unseren Augen verfällt die Demokratie!“

Seit einigen Wochen vermittelt Grupa Granica auch psychologische Beratung für Freiwillige: Denn nicht nur die emotional schwer zu verarbeitenden Erlebnisse und die weitgehende Machtlosigkeit belastet die Helfenden sehr. Auch Einschüchterungsversuche durch Einsatzkräfte, die rechtlichen Beschränkungen der Sperrzone, unvorhersehbare Taktikwechsel seitens Lukaschenkos in Minsk und fehlende politische Perspektiven in Polen und der EU machen ihnen zu schaffen. So breitet sich Ende November unter vielen Freiwilligen eine lähmende Müdigkeit aus, als die Hilfsteams plötzlich über mehrere Tage keine Notrufe mehr erhalten. Immer weniger Menschen und Informationen drängen aus der Sperrzone heraus. Alle sprechen von einer „seltsamen Ruhe vor dem Sturm“, aber niemand kann sich den Sturm vorstellen.

In Ankas Lager stapeln sich die Spendenkisten. Ocalenie-Freiwillige müssen neue Lagerräume suchen. Die Koordinatorin Agata Ferenc aus Wrocław sitzt mit ihren Mitstreiterinnen in der angemieteten Team-Wohnung in Sokółka. Ihre Gesichter sind matt, ihre Stimmung gedrückt. Unzählige Presseinterviews haben sie schon gegeben, hunderte Menschen im Wald versorgt. Ansässige vor Ort, die den Menschen im Wald helfen, würden immer öfter bedroht, sagt sie. Die mediale Öffentlichkeit lehnen sie darum immer öfter ab. Hilfsaktivitäten gehen im Verborgenen weiter. Der Druck der Staatsgewalt rund um die Sperrzone wirkt: Der Informationsfluss versiegt. Es bleiben die Tweets des Grenzschutzes darüber, wie viele „Illegale“ wieder des nachts die Grenzen Polens und der EU angegriffen hätten und wie viele abgewehrt werden konnten. Es bleiben nur Zahlen von den Menschen.

Aber statt internationaler Protestwellen reagiert die westeuropäische Öffentlichkeit weitgehend mit Solidarität für Polens harten Grenzverteidigungskurs. Die Aktivistinnen vor Ort verstehen die Welt nicht mehr: „Vor unseren Augen verfällt die Demokratie, die wir uns über Jahrzehnte hart erarbeitet haben“, ist Ferenc entsetzt. „Dabei ist das doch erst der Anfang, Migration in Richtung Europa – das ist doch unsere Zukunft!“
 

Wo bleibt die Suche nach einer europäischen Lösung?

Auf dem muslimischen Friedhof in Bohoniki ist noch Platz. Die meisten Todesopfer sind noch nicht beerdigt. Die EU hat weitere Sanktionen gegen Belarus beschlossen. In Deutschland wird für einen humanitären Korridor demonstriert, während Deutschlands neue Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Antrittsbesuch in Warschau nur fordert, dass humanitäre Hilfe im Grenzgebiet zugelassen wird. Gleichzeitig betont sie „Deutschland stehe in voller Verantwortung und Solidarität an der Seite Polens“. Tschechien bietet seinen nördlichen Nachbarn wiederholt militärische Unterstützung beim Grenzschutz an. Eine grundsätzliche Beschäftigung mit der Frage, wie die Europäische Union künftig einvernehmlich und geschlossen, menschlich und pragmatisch mit Migration und Flucht umzugehen gedenkt, steht weiter aus.

Im ostpolnischen Grenzwald wird derweil seit dem 6. Dezember ein vierjähriges Mädchen vermisst, deren Eltern von Grenzschützern im polnischen Grenzstreifen aufgegriffen und zurück nach Belarus gebracht worden sein sollen. Am 7. Dezember fanden polnische Soldaten nahe Narewka die Leiche eines Mannes mit Rucksack und nigerianischem Pass. Die Überlebenschancen für die Menschen im Grenzwald sinken. Natalia Gebert von Grupa Granica warnt: „Wenn jetzt im Winter weiter Menschen hier an die Grenze kommen, dann wird das ein riesiges Sterben.“

* Der volle Name wird auf Wunsch der Protagonistin aus Sicherheitsgründen nicht genannt, liegt der Redaktion aber vor.

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