Synästhesie  Das G ist grün und die Fünf rot

Synästhesie Foto: Liam Seskis via unsplash | CC0 1.0

Wenn ich erzähle, dass ich Musik sehen, Geräusche fühlen und Farben schmecken kann, werde ich oft überrascht angeschaut. Doch für mich sind meine erweiterten Sinne völlig normal: Ich bin Synästhetikerin.

„Warte mal bitte“, sage ich zu meiner Freundin, mit der ich an einem warmen Sommerabend vor einer Bar sitze; „Warte, kannst du kurz aufhören zu sprechen? Ich kann unser Gespräch nicht mehr sehen – es ist zu laut!“ Nebenan hatte ein Kellner damit begonnen, die Bierbänke und -tische des Außenbereichs mit lautem Knirschen und Knarren zusammenzuklappen – und vor meinem inneren Auge zuckten dicke Balken und spitze Striche in Neonfarben vorbei. Wie soll man sich da noch auf eine Unterhaltung konzentrieren, die für gewöhnlich wie ein Untertitel durch mein Sichtfeld läuft, jetzt aber von flimmernden geometrischen Figuren verdeckt wird? Ganz zu schweigen davon, dass sich das schrille Quietschen der Bänke für mich wie kleine Dolchstöße ins Brustbein anfühlt?
 
Zu beschreiben wie es ist, Synästhetikerin zu sein, fühlt sich immer ein bisschen komisch an und kommt gelegentlich sogar einem Outing gleich: Ich gebe zu, deutlich aus der Reihe zufallen. Erwähne ich vor fremden Menschen, dass mir ihr Name gefällt, weil er eine schöne Farbe hat oder dass ich Hip Hop nicht mag, weil diese Musikrichtung für mich sehr hässlich aussieht, ernte ich in den meisten Fällen erstmal Erstaunen. Ob ich Drogen nehmen würde?
 
Nein, die brauche ich gar nicht: In meinem Gehirn sind nämlich die Sinnesmodalitäten miteinander verknüpft; auch jene Sinnesmodalitäten, die sich im Gehirn an weit auseinandergelegenen Stellen befinden und – in den Köpfen von Nicht-Synästhetikern – nichts miteinander zu tun haben. Bei mir sind vor allem Hören und Sehen, Hören und Tasten sowie Tasten und Sehen dicke Freunde. Und diese Sinne reagieren nicht aufeinander, sondern agieren von Anfang an gemeinsam: Geräusch und Farbklecks erscheinen gleichzeitig vor meinem inneren Auge und in meinem Ohr. Ich kann nichts dagegen tun.


„Mama, die Farben stimmen alle gar nicht!“ „Mama, die Farben stimmen alle gar nicht!“ | Foto: © privat

Angeboren oder erlernt?

Wie sich Synästhesie entwickelt und wie viele Menschen diese Form der Wahrnehmung besitzen, konnte bis heute nicht vollständig entschlüsselt werden. Ist sie angeboren oder wird sie in den ersten Lebensjahren erlernt? Sieht man Zahlen und Buchstaben in einer bestimmten Farbe, weil man als Kind etwas damit assoziierte, oder geschieht es willkürlich? Und ist diese Form der Wahrnehmung womöglich die ursprünglich „normale“ und wurde im Laufe der Evolution von den Menschen nur verlernt, weil sie nicht wichtig für das Überleben unserer Spezies ist? Zwar hat die Wissenschaft das Phänomen in den letzten Jahren verstärkt erforscht und schätzt, dass ungefähr vier Prozent der Bevölkerung Synästhetiker*innen sind, doch gibt es eine große Dunkelziffer. Wie soll man auch wissen, ob die eigene Art des Sehens, Fühlens und Hörens sich von anderen Menschen unterscheidet? Wer fragt Freunde und Familie schon, ob sie ebenfalls einen großen braunen Fleck sehen, wenn ein Ballon platzt oder ob die Zahl fünf für sie rot ist?
 
Ich tat es, im zarten Alter von sechs Jahren, kurz vor der Einschulung. Meine Eltern hatten mir die in den 80er Jahren so modernen bunten Buchstabenmagneten für den Kühlschrank geschenkt, mit denen ich lernen sollte, erste Worte zusammenzusetzen. Doch auf Fotos aus der damaligen Zeit schaue ich irritiert: Ein M in Grün, ein B in Blau, ein L in Rot – bitte was? „Mama, die Farben stimmen alle gar nicht“, beschwerte ich mich, doch meine Mutter verstand nicht, wovon ich redete. Anders mein Vater: Er schnappte sich die Kiste mit meinen Buntstiften und malte die Zahlen eins bis zehn in seinen Farben auf. Ich pinselte, noch ziemlich ungelenk, meine darunter. Es folgten die Wochentage, mein Montag gelb und rund, seiner grün und ein unförmiges Quadrat. Dass es für unseren farbenfrohen Umgang mit Zahlen, Buchstaben und Wochentagen einen Fachbegriff gibt, wusste auch mein Vater damals nicht.

Nicht ohne meine Synästhesie

Über 150 verschiedene Synästhesien soll es geben; manche davon haben noch nicht einmal eine Bezeichnung, weil sie schlicht nicht in Worte zu fassen sind. Die bekannteren Formen reichen von der weit verbreiteten Farbigkeit von Zahlen und Buchstaben (Farb-Graphem-Synästhesie), über das Farbenhören (Musik-Farb-Synästhesie) und das Sehen von Schmerzen als gefärbtes Muster (Schmerz-Synästhesie) bis hin zur Spiegel-Berührungs-Synästhesie, bei der Menschen Berührungen, die sie an anderen Körpern beobachten, an ihrem eigenen fühlen. Meine Recherche ergab, dass ich ungefähr 15 Synästhesien besitze – manche sind dabei mehr, manche weniger stark ausgeprägt.
 
Es ist nicht immer angenehm, mit derart verknüpften Sinnen zu leben. Wenn mir die Sirene eines Rettungswagens für einen kurzen Moment die Luft abschnürt und die Sinne vernebelt oder der Mann im Bett neben mir gemütlich schnarcht und ich nicht nur im sprichwörtliche Sinne, sondern auch vor meinem inneren Auge rot sehe – dann nervt mich meine Synästhesie manchmal. Um das Neuronenfeuer in meinem Kopf zu besänftigen, fahre ich deshalb regelmäßig in den Wald: Mit den kleinen schwarzen Punkten eines klopfenden Spechts oder den dünnen, glitzernden Linien einer piepsenden Meise komme ich schnell zur Ruhe. Oft frage ich mich, ob eine geringere Geräuschempfindlichkeit mein Leben nicht angenehmer machen würde. Und doch kann ich mir nicht vorstellen, keine Synästhesie zu haben. Wäre die Welt ohne sie nicht schrecklich farblos und langweilig?

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