Shnrwe Music School, Halabdscha, Kurdistan/Irak
Neuer Atem für eine reichhaltige Musiktradition
In den 1970er Jahren spielte Kak Azad im Bagdader Orchester, 2018 gründete er die Shnrwe Music School in seiner Heimatstadt Halabdscha in Kurdistan, Irak. Seitdem träumte er davon, dort ein Konzert zu organisieren. Wegen der Corona-Pandemie sah es zunächst so aus, als wäre dieser Traum wieder in weite Ferne gerückt.
Von Schluwa Sama
Am Abend des 15. Oktober 2021 ist es so weit: Im Stadtpark von Halabdscha ist die Bühne für ein Konzert aufgebaut. Familien aus der Stadt, aber auch arabischsprachige Jugendliche, die als irakische Binnenflüchtlinge hier ein neues Zuhause gefunden haben, strömen herbei. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein Konzert besuchen. Und auch die Schüler*innen der Shnrwe Music School feiern an diesem Tag ihren ersten Konzertbesuch und zugleich ihren ersten Auftritt - als Höhepunkt zum Schluss des Programms. Bevor das Konzert beginnt, üben sie noch eifrig auf ihren Instrumenten.
Die Corona-Pandemie stellte vor allem die Kinder und Jugendlichen in der Region Kurdistan-Irak vor große Schwierigkeiten: Das gesamte Schuljahr über verlief der Unterricht online. Auch in der Musikschule konnten die Schüler*innen – die meisten von ihnen zwischen sieben und sechzehn Jahre alt – nicht gemeinsam üben. Dabei hatten einige erst wenige Monate zuvor begonnen, ein neues Instrument zu erlernen. Kak Azad erzählt, dass er Angst hatte, die Musikschule schließen zu müssen, da sie die Miete nicht mehr lange hätten bezahlen können.
Doch die Stadt Halabdscha hat nicht nur mit den Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen, sondern als ländliches Gebiet im Irak auch mit einer schwachen Strukturförderung. Noch heute wird Halabdscha mit dem Giftgasangriff von 1988, den der damalige Diktator Saddam Hussein zu verantworten hatte, in Verbindung gebracht. Auf einen Schlag wurden 5.000 Menschen getötet. Zahlreiche Verletzte leiden noch heute unter den Spätfolgen. In den folgenden Jahren wurde die Region stark vernachlässigt. Islamisch-konservative Parteien gewannen an Einfluss, mit ungünstigen Auswirkungen auf das kulturelle Leben der Stadt. Erst mit Beginn des Irak-Kriegs 2003 konnte dieser Entwicklung Einhalt geboten werden
Dies ist aber nur die eine Geschichte, die die Bewohner*innen Halabdschas erzählen möchten. Ihnen ist es vor allem wichtig, auch an andere Zeiten zu erinnern. Besonders durch die Musikschule und das Konzert hoffe man, an die Zeit anzuknüpfen, „in der Halabdscha eine reiche, progressive Kultur hatte und als kulturelles Zentrum in Kurdistan galt“, so erzählen die Eltern der Musikschulkinder und berichten über die Frauenrechtlerin und engagierte Befreiungskämpferin Hapsa Khan (1892-1953), die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die erste Schule für Mädchen im Irak gründete und die Aufstände gegen die britische Kolonialherrschaft unterstützte. Im Stadtpark von Halabdscha erinnert eine Statue an sie.
Am Konzertabend steht das Orchester bereit. Kak Azad spielt die erste Geige.Sängerinnen und Sänger treten mit verschiedenen Stücken auf, die von der reichen, vielfältigen Musiktradition Halabdschas zeugen, darunter ein Lied im kurdischen Dialekt Hawrami. Es ist ein außergewöhnliches Ereignis, dass die Menschen in Halabdscha ihre eigene Musiktradition auf der Bühne hören können: Die dörfliche Gemeinschafte, die diese Vielfalt an Musikstilen hervorbrachte, gibt es heute so nicht mehr und im kurdischen Fernsehen neigt man zur Vereinheitlichung. Die Konzertbesucher*innen genießen es daher besonders, ihre Musik nicht nur zu hören, sondern sie auch zu fühlen und zu spüren. Der Vater zweier Musikschülerinnen drückt das so aus: „Musik ist die Medizin der Seele“. So viel Anerkennung motiviert Kak Azad und die jungen Musiker*innen sehr, ihre Arbeit fortzuführen und Halabdscha allmählich wieder als Stadt mit einer großen Musikvielfalt bekannt zu machen.
Schluwa Sama hat zur politischen Ökonomie des Irak mit Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer*innen im Irak an der University of Exeter promoviert. Zudem ist sie Autorin und schreibt über die Lebensrealitäten von Menschen im Irak, insbesondere in der Region Kurdistan. Sie interessiert sich vor allem für Agrikultur und ländliche Räume, Krieg, koloniale Kontinuitäten und globalen Kapitalismus. Seit 2021 arbeitet sie als Kommunikationsassistentin und Autorin am Goethe-Institut Irak und schreibt über die aktuellen Diskurse in der irakischen Kulturszene.