Pop und Elektronische Musik 2023
Nostalgie auf dem Dancefloor
Nach drei Jahren pandemischer und postpandemischer Einschränkungen stürmte Gen Z 2023 die Tanzflächen – teils zum ersten Mal. Dabei lotete die neue Generation Rave-Kultur neu für sich aus und mischte Techniken, Sounds und Ästhetiken von Hip-Hop und Elektronischer Musik wild miteinander. Thematisch dominierten Eskapismus und Nostalgie nach einer diffusen vergangenen Zeit die verschiedensten Sparten des Pop generationsübergreifend.
Von Aida Baghernejad
Über Pop 2023 kann man nicht sprechen, ohne über Otto zu sprechen. Ja, genau, Otto, der Comedian, Filmemacher und der Schöpfer der Comic-Maskottchen Ottifanten. Oder über die Siebziger-Rocklegende Udo Lindenberg. Oder über das Eurodance-Sternchen Blümchen. Große Namen der vergangenen Jahrzehnte. Und allesamt Chartstürmer dieses Jahres.
Wie kann das sein?
2023 war für viele Mitglieder der sogenannten Generation Z, also Personen, die zwischen 1997 und 2012 geboren wurden, die erste Gelegenheit, Nachtleben zu erfahren. Nach drei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen, einem ausgebrochenen Krieg in Europa und daraus resultierender wirtschaftlicher Herausforderungen definierte die Generation Z für sich zum ersten Mal, was Ausgehen und Clubkultur für sie bedeuten. Und besann sich dabei sehr oft auf nostalgische Darstellungen aus den Neunziger- und Nullerjahren, aus ihrer eigenen Kindheit und den Jugendjahren ihrer Elterngeneration.
Junge Sterne treffen auf alte Stars
So oder so ähnlich lässt sich vielleicht erklären, warum eine junge Nachwuchssängerin wie die Deutsch-Italienerin Domiziana (Jahrgang 1997) mit Blümchen aka Jasmin Wagner (Jahrgang 1980) für den Song SOS kollaborierte. Oder die brandenburgische Rapperin Badmómzjay (2002) mit der deutschen Hip-Hop-Legende Kool Savas (1975). Oder warum Schlagersängerin Helene Fischer (1984) zum zehnjährigen Jubiläum vom durch die Fußballweltmeisterschaft 2014 bekannten Song Atemlos durch die Nacht Shirin David (1995) als Feature-Partnerin eingeladen hatte.Den Anfang dieses recht unerwarteten Trends hat wohl der aus Ludwigshafen stammende Rapper und Sänger Apache 207 (ebenfalls Jahrgang 1997) gemacht, der mit dem Mitte Januar 2023 erschienenen Rap-Schlager Komet Udo Lindenberg (Jahrgang 1946) nach einer über fünf Jahrzehnte langen Karriere seinen ersten Nummer-1-Hit bescherte. Mit diesen Kollaborationen knüpfen die jungen Künstler*innen nicht nur an eine vermeintlich einfachere, unkompliziertere Zeit an. In Zusammenarbeit – und manchmal auch nur Sampling, wie Rapper Pashanim auf Ms. Jackson – mit Musiker*innen aus vergangenen Jahrzehnten stellt sich der Pop-Nachwuchs bewusst- oder unterbewusst in Traditionslinien des Pop.
Dieses Phänomen der Kollaboration über Generationen hinweg beschränkt sich allerdings nicht nur auf den Rap oder Mainstreampop, wie das Bandprojekt Die Benjamins zeigt. Entstanden ist es aus geteilter Verehrung der Musiker*innen Max Gruber, besser bekannt als Drangsal, Charlotte Brandi, Julian Knoth von Die Nerven und Thomas Götz von Beatsteaks für Annette Benjamin, Sängerin der 1978 gegründeten Punkband Hans-a-Plast. Das Bandprojekt, das im Juli seine selbstbetitelte Debüt-EP veröffentlichte, wird auch als Indie-Punk-Supergroup bezeichnet und ist in erster Linie eine Verneigung vor der Vordenkerin und -kämpferin weiblich interpretierten Deutschpunks.
Eskapismus als Gegenwartsbewältigung
Ähnlich erfolgreich und für das Jahr prägend wie das hymnische Komet war wohl eben nur Friesenjung – für das ein Otto Waalkes (der Vollständigkeit halber: Jahrgang 1948) mit dem 26-jährigen Rave-Rapper Ski Aggu und dessen gleichaltrigem niederländischem Kollegen Joost im Sommer plötzlich auf der Bühne des Hip-Hop-Festivals Splash vor tausenden euphorischen Teenagern auftrat. Ihr gemeinsamer Song Friesenjung, der Ottos gleichnamiges Lied (selbst eine Parodie auf Stings Englishman in New York) von 1993 als Sample mit massiv erhöhter Geschwindigkeit einbaut, dominierte die Charts des Jahres seit seiner Veröffentlichung im Mai 2023. Textlich geht es um wenig Inhaltliches, im Fokus stehen vor allem Wortspiele und Erzählungen von Partyexzessen.Die Erzählung von Exzess, vom Feiern ohne Grenzen und auch vom Konsum diverser Substanzen jenseits von Alkohol ist natürlich kein Novum im Pop. Doch gepaart mit hochgepitchten Songs, die Samples aus den Neunzigern und Nullerjahren verwenden, weisen sie auf ein Bedürfnis nach Eskapismus hin. Dieses Bedürfnis lässt sich vor allem durch die massiven Einschränkungen aufgrund der Pandemie erklären, von der die formativen Jugendjahre der Generation Z geprägt waren. Raveculture wurde beispielsweise weniger vor Ort in Clubs und auf Partys erlernt, die immer wieder monatelang nicht stattfinden konnten, sondern war etwas, das über den Smartphonescreen in Tiktok-Videos als sogenanntes Ravetok erlebt wurde. Dabei wurden beispielsweise Tanzschritte erklärt oder Outfitempfehlungen für den Clubkontext gegeben.
Dieser Eskapismus äußerte sich allerdings nicht nur euphorisch, sondern durchaus auch melancholisch eingefärbt. Dazu zählte beispielsweise das im Januar veröffentlichte Debüt Symba Supermann des Rappers und Schauspielers Symba, bürgerlich Sylvain Mabe. Referenzen zu Spielzeugen wie Tamagotchis und Nerf Guns, Computergames wie Sim City und Kinderserien wie Power Rangers wurden mit Verweisen auf Luxusmarken wie Tesla, Gucci und Porsche und sehnsüchtigen Zeilen wie „Mama, wir sind traurig / warum, weiß ich auch nicht“ kombiniert. Aufstiegsgeschichten vom Kiez in die Bürgerlichkeit sind damit kein Thema mehr, vielmehr thematisiert der Berliner den Verlust einer gewissen kindlichen Sorglosigkeit wie ein postmoderner Marcel Proust.
Eine dezidiert weibliche Perspektive dieser Spannung zwischen Melancholie und Eskapismus liefern Künstlerinnen wie etwa Paula Hartmann oder auch sehr eindrücklich die in Pakistan geborene Berlinerin Wa22ermann. Ihre Erzählungen von späten Nächten und über allem hängender Langeweile wirken wie ein postmodernes „No Future“ einer Generation, deren Jugend von Klimakatastrophe, Pandemie und Kriegen begleitet wird: „Bin seit zwei Tagen wach, es liegt an dem Konsum / In der Stadt, die nicht schläft, doch es gibt nichts zu tun.“ So wie auf sozialen Medien der Algorithmus und nicht Genregrenzen den Inhaltsmix bestimmen, so bedeutungslos scheinen auch für diese Generation an Musiker*innen Genremarker zu sein. Die Grenzen zwischen Elektronischer Musik wie Rave, aber auch Gabber, Techno, HipHop und Rap verschwimmen und verschwinden zusehends, wie Künstler*innen wie Ski Aggu oder eben Wa22ermann in den Soundwelten zu ihren Erzählungen aus dem Inneren von Clubs und Raves beweisen.
Generationsübergreifende Flucht aus dem Alltag
Doch auch in Musik, die nicht von Gen Z-Akteur*innen kommt und sich nicht in erster Linie auch an diese junge Generation wendet, dominierten 2023 Eskapismus und Nostalgie. Das Ende Mai erschienene Album Multi Faith Prayer Room des elektronisch-akustischen Trios Brandt Brauer Frick feierte den Hedonismus der Clubkultur und zeichnete musikalisch den Verlauf einer Nacht nach. Dabei kombinierten sie zutiefst politische Themen – ein langes Gedicht der Performer*in Mykki Blanco handelt zum Beispiel von Klimawandel und Sex, das titelgebende Konzept des interreligiösen Andachtsraums soll ein Beispiel für Orte sein, an denen verschiedene Religionen und Kulturen friedvoll aufeinander treffen – mit der Euphorie eines Dancefloors. Eine ganz andere Richtung schlägt da das 2020 von Francesco Wilking, eigentlich Sänger der Indieband Die Höchste Eisenbahn, gestartete Projekt Crucchi Gang ein. Ursprünglich als Pandemieprojekt gestartet, bei dem deutsche Musiker*innen ihre bekanntesten Stücke auf Italienisch interpretieren, folgten auf den großen Erfolg des Debüts dieses Jahr ein zweites Album mit Mitwirkenden wie der Band Tocotronic und Singer-Songwriterin Antje Schomaker sowie große Konzertabende. Das Projekt spielt mit der alten bundesrepublikanischen Sehnsucht nach dem italienischen Klischee von „Dolce Vita“, wie etwa auch das Bandprojekt Roy Bianco & Die Abbruzzanti Boys. Das so erträumte Italien ist natürlich nicht jenes der Gegenwart mit seiner postfaschistischen Ministerpräsidentin und wirtschaftlichen Herausforderungen, sondern ein von der Sonne ausgeblichenes, sorbetfarbenes Traumland, das Familienurlaube, karierte Tischdecken und lange Tage an Adriastränden evoziert. Gerade in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit scheint es verlockend, sich zumindest für die Dauer eines Albums oder auch nur eines Songs in andere Gefilde zu träumen.Das verspricht auch ein überraschender Rückkehrer im deutschen Pop: 15 Jahre nach seinem Solodebüt Stadtaffe veröffentlichte Seeed-Mitglied, Rapper und Produzent Peter Fox sein zweites Soloalbum Love Songs. Überraschend war das, weil der Künstler nach seiner ersten und einzigen Soloveröffentlichung eigentlich geschworen hatte, nur noch in Bandprojekten und als Produzent tätig zu sein. Doch mit dem Stück Toskana Fanboys, einer Kollaboration mit der italienischen Musikerlegende Adriano Celentano, knüpfte Fox ebenfalls an die Italien-Sehnsucht des deutschen Publikums an, auch die erste Single Zukunft Pink wirkt beim ersten Hören recht eskapistisch: „Hab' Brandenburg entdeckt / Bianchi-Bikes – Future-Flex / Alles wird supergeil, basta“. Beim genaueren Hinhören allerdings spricht der Künstler darin auch politische Themen an, wie zum Beispiel die Initiative Tax Me Now an, bei der Vermögende wie er für höhere Steuersätze plädieren, und zeichnet die Vision einer gerechteren, klimafreundlicheren Zukunft. Derlei Diskurse allerdings wurden bei der Veröffentlichung von einer Diskussion um kulturelle Aneignung überdeckt, da Fox und sein Produzententeam The Krauts die Soundästhetik der südafrikanischen House-Variante Amapiano zitierten. Fox ging mit der Debatte offensiv um, diskutierte mit den oft jungen, meist selbst von Rassismus betroffenen Kritiker*innen und veröffentlichte eine neue Version, bei der er mit schwarzen Künstler*innen zusammenarbeitete. Die Debatte zeigte dabei, wie soziokulturelle Dispute im Pop ablaufen könnten – wenn alle Seiten zu offenen Gesprächen bereit sind.
Leider lieferte das Pop-Jahr auch Gegenbeispiele zu offenem Diskurs, so zum Beispiel Boykottaufrufe gegen das auf Elektronische Musik spezialisierte Videostreaming-Format Hör Berlin im Kontext des Nahostkonflikts. Nachdem Künstler*innen untersagt wurde, Kleidung mit propalästinensischer Symbolik im Stream zu tragen, wurde dazu aufgerufen, die Plattform zu meiden – trotz Erklärungen und Entschuldigungen seitens Hör Berlin. Auch der Umgang mit Vorwürfen von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt gegen Till Lindemann, den Sänger der Band Rammstein, zeigte, dass im deutschen Popbetrieb ein offener Umgang mit Fehlern und Grenzüberschreitungen viel zu oft noch ein fernes Ideal bleibt als gelebte Praxis. Bleibt zu hoffen, dass die Popkünstler*innen und ‑konsument*innen der Gen Z diese Traditionslinien des Popbetriebs nicht übernehmen.