Klassische, Neue und Alte Musik 2023
Klassik im Umbruch

„Parsifal“ | Foto (Ausschnitt): © Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
„Parsifal“ | Foto (Ausschnitt): © Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

2023 zeigte sich, dass viele deutsche Ensembles die Klassik-Krise als Chance begreifen. Neue Orchester, neue Bezahlmodelle, neue Experimente mit virtueller Musik. Von den Bayreuther Festspielen bis zur MaerzMusik: Selten gab es so viel Aufbruch wie in dieser Zeit.

Von Axel Brüggemann

Selten haben die Fundamente der Klassischen Musik so sehr gewackelt wie in diesem Jahr. Stadttheater und Orchester kämpfen um Publikum und Fachkräfte. Selbst ein Parsifal mit dem zukünftigen Bayreuth-Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson in Hannover war gerade einmal halb ausverkauft. Theater von Köln bis Halle, von Kiel bis Freiburg und selbst altehrwürdige Opern-Institutionen wie die Semperoper in Dresden beklagen massiven Publikumsschwund.

Kreativ auf Publikumsschwund reagieren

Die Klassische Musik steht in Deutschland derzeit auch öffentlich zur Disposition. Nachdem der Intendant des WDR, Tom Buhrow, eine große Debatte darüber ausgelöst hatte, ob die ARD sich noch 16 Radioorchester, Chöre und Bigbands mit über 2000 Angestellten leisten soll, wurden dieses Jahr drastische finanzielle Einschnitte beim ARD-Musikwettbewerb bekanntgegeben. Orchester, Theater und Festivals stehen unter Legitimationsdruck und suchen nach kreativen Antworten in einem komplexen Prozess der Transformation.
So beobachtet der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Serge Dorny, dass sich sein Haus nicht mehr von „vorne nach hinten“, also von den teuren zu den günstigen Plätzen, sondern – wenn überhaupt – von „hinten nach vorne“ verkauft. Dorny stellt öffentlich die Preisstruktur der deutschen Theater in Frage, überlegt, ob Klassische Musik noch für jeden zugänglich sei, und fordert mehr Bewegung, gerade bei staatlich finanzierten Theatern und Orchestern. „Wir müssen vor Ort viel flexibler sein“, sagte er im Podcast Alles klar, Klassik?, „es kann nicht sein, dass jedes Theater in Deutschland nach dem gleichen Prinzip als Ensembletheater mit Repertoire funktionieren muss. Wir müssen beweglicher auf die individuellen Ansprüche vor Ort reagieren, sollten über Stagione-Betriebe [also über eine Betriebsform von Theatern, in denen eine begrenzte Zahl an vor allem überwiegend Neuinszenierungen erarbeitet wird] nachdenken, oder über exklusive Ensembles mit Superstars oder ganz andere Konzepte.“

Auch der öffentliche Debattenraum für Klassische Musik wird immer kleiner: Der Bayerische Rundfunk hat mit der Sendung KlickKlack gerade die letzte reine Klassik-Sendung des deutschen Fernsehens eingestellt (arte nimmt schon seit einiger Zeit keine neuen Folgen von  Rolando Villazóns Nachwuchssendung Stars von morgen mehr auf). Außerdem wird diskutiert, die Kulturprogramme der regionalen deutschen ARD-Stationen am Abend zu einem gemeinsamen Programm zusammenzuschalten. Noch dramatischer ist die Situation im Print: Ende 2023 wird das Klassik-Magazin Fono-Forum in seiner alten Form eingestellt – ein neuer Verlag will die Traditionszeitung, die einst den Preis der Deutschen Schallplattenkritik erfunden hat, von Februar an weiterführen. Das Magazin hatte den digitalen Anschluss verpasst. Die Zeitschrift Die Deutsche Bühne des Deutschen Bühnenvereins wird künftig nur noch sechs statt 12 Mal erscheinen. 

Klar ist, die Musikszene in Deutschland muss sich hinterfragen. Und genau das hat sie 2023 auch getan. Orchester wie das Gewandhaus in Leipzig oder die Thüringer Bachwochen haben erfolgreich mit neuen Bezahlmodellen experimentiert: „Pay as you want“ oder „Pay as you can“, bei denen das Publikum die Eintrittspreise selber bestimmen kann, kamen gut an, ebenso wie die Theater-Monats-Flatrate am Stadttheater in Hagen (hier bezahlte man neun Euro pro Monat und konnte dafür alle Aufführungen besuchen). Das Pionierprojekt soll auch 2024 fortgesetzt werden. Das Theater Bremen bot sogar einen „No Pay November“ an – jede Aufführung war für Auszubildende einen Monat lang kostenlos. 

KI in der Musik noch in den Kinderschuhen

Tatsächlich scheint die Krise der Klassik in Deutschland eine neue Kreativität zu beflügeln, sowohl strukturell als auch inhaltlich. Vermehrt werden dabei Anknüpfungspunkte bei technischen Innovationen wie Künstlicher Intelligenz (KI) und neuen, virtuellen Räumen gesucht. Ein prominenter Musik-Pionier der KI ist Ali Nikrang, seit diesem Jahr Professor an der Hochschule für Musik und Theater in München. Nikrang ist sicher, dass Künstliche Intelligenz die Musikszene nachhaltig verändern wird. „Wir haben lange gedacht, dass Musik ein Vorreiter in Sachen KI werden könnte“, äußerte er kürzlich in einem Klassik-Podcast, „mussten aber feststellen, dass es viel leichter ist, Texte und Bilder mit künstlicher Intelligenz zu generieren.“ Nikrang ist dennoch überzeugt, dass computergenerierte Klänge und Kompositionshilfen schon jetzt für den Alltagsgebrauch tauglich sind. Die Imitation großer Symphonien sei allerdings noch schwierig, erklärt er, was man an der eher schwachen KI-Komposition von Beethovens 10. Symphonie in Bonn gesehen habe. Künstliche Intelligenz sei derzeit hauptsächlich noch ein handwerkliches Hilfsmittel für Komponistinnen und Komponisten, um ihre kreativen Entscheidungsprozesse zu begleiten. 

Experimente mit Augmented Reality

Tiefer als in den Raum der Künstlichen Intelligenz ist die Klassik bereits in virtuelle Räume eingetaucht. Hier hat das Stadttheater Augsburg eine Vorreiterrolle eingenommen. Es hat neben Oper, Schauspiel und Kindertheater eine eigene Digitalsparte aufgebaut. Augmented Reality wird selbstverständlich in die Opernproduktionen integriert, durch spezielle Brillen lässt sich so die Höllenfahrt von Orpheus mit echten Flammen in die Unterwelt erleben. „Die technischen Entwicklungen ermöglichen auch eine neue Teilhabe an Theater“, erklärte Digital-Sparten-Leiterin Tina Lorenz vom Theater Augsburg kürzlich in einem Klassik-Podcast. In Augsburg kann man sich eine Virtual Reality-Brille mit dem Fahrradkurier nach Hause bestellen und so eine authentische Stadttheaterproduktion mit Blick in den Theatersaal und echter Theater-Akustik auf dem Sofa erleben.

Etwa holpriger waren die ersten AR-Experimente diesen Sommer bei den Bayreuther Festspielen. Regisseur Jay Scheib inszenierte seinen Parsifal so, dass Wagners Oper zu einem multimedialen Experiment wurde: Der Bühnenraum des Festspielhauses wurde durch virtuelle Felsen, Bäume oder Schluchten verändert, Blumen, Dekorationen oder heilige Speere flogen wie von Geisterhand durch das animierte Theater. Einziges Manko: Auf Grund der hohen Kosten gab es AR-Brillen nur für ein ausgewähltes Publikum, das zudem bereit war, Zusatzkosten zu zahlen. Der Rest erlebte eine konventionelle Operninszenierung. Sowohl Augsburg als auch die Bayreuther Festspiele zeigen, dass die Klassik längst bereit ist, neue Räume jenseits der steinernen Musiktempel des 19. Jahrhunderts zu erobern – das Virtuelle ist zur Bühnenrealität des 21. Jahrhunderts geworden.

Von KI war bei Konzerten mit Gegenwartsmusik dieses Jahr erstaunlich wenig zu hören. Tatsächlich scheint für viele gerade die Neue Musik ein alter Hut zu werden. Kritische Stimmen fragten, ob die Komponierenden bei den Donaueschingen Musiktagen alle den Auftrag zum gleichen Stück bekommen hätten, da die Werke so einheitlich daherkamen. Tatsächlich gab es mit Collaboration zum ersten Mal ein Motto in Donaueschingen, und unter der künstlerischen Leitung von Lydia Rilling kamen dieses Mal 70 Prozent der 23 Uraufführungen aus weiblicher Feder. Überall war das Bemühen zu hören, die Ausführenden an der kreativen Verantwortung zu beteiligen. So haben Matana Roberts und Clara Iannotta ihren Sängerinnen Textfragmente statt Noten an die Hand gegeben, um möglichst flache Hierarchien im kreativen Prozess zu garantieren. Highlight war das Stück Was wird hier eigentlich gespielt? von Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe, auch, weil hier die Bedeutung des Wortes in der Musik ausdekliniert wurde. An einer Stelle hieß es: „Wer jetzt nicht singt, verklingt.“ Ein Satz, der wohl für die gesamte Neue Musikszene steht.

Dynamischer schien das eclat-Festival in Stuttgart. Leiterin Christine Fischer konnte Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 30 verschiedenen Ländern gewinnen, die ein vielfältiges Bild der Moderne abgeliefert haben. Ähnlich divers aufgestellt war das Festival MaerzMusik in Berlin mit seiner neuen Leiterin Kamila Metwaly. Die Auftakts-Musik-Performance Hide to show des deutschen Komponisten Michael Beil war ein Zusammenspiel aus instrumentalen und elektronischen Klängen, Video- und Tonschleifen, nutzte Film, Video, Theater und installative Elemente. Und am Ende gab es – was bei Neuer Musik selten ist – auch etwas zum Schmunzeln, etwa wenn andauernde Redundanzen die allgegenwärtige Sichtbarkeit der Dinge und ihre gleichzeitige Unsichtbarkeit durch informative Masse im Internet ironisieren. 

Neue Orchester mit neuen Ideen

Dennoch bleibt die Frage, in welche Richtung die Moderne sich bewegt. Der ehemalige GMD des Theater Bremen Yoel Gamzou findet, dass die neue Klassik aus dem Elfenbeinturm herauskommen muss. Beim Beethovenfest in Bonn stellte er sein neues Orchester one.Music vor. Ein Ensemble, das Neue Musik gleichberechtigt neben die großen Klassiker (wie Beethovens 5. Symphonie) stellt. Und das Debüt-Konzert des Orchesters mit vollkommen unterschiedlichen Werken von Robin Haigh, Florian Kovacic oder Andrew Creeggan zeigte dann tatsächlich die ästhetische Vielfalt aktueller Musik und begeisterte das Publikum. 

Einen vollkommen neuen Weg ging der Komponist Moritz Eggert, der mit Kairosis die erste interaktive Videospiel-Oper geschrieben hat. Man schlüpft in die Rolle einer jungen Komponistin, deren Proben zu ihrem neuen Stück immer wieder gestört werden. Die Spieler*innen müssen immer wieder aktiv entscheiden, wie es weitergeht. Musik wird hier zum selbstverständlichen Teil der Handlung. Kairosis ist kostenlos im Netz zu spielen.

Ein anderer Trend des Jahres 2023 war ebenfalls beim Beethovenfest in Bonn zu beobachten: das offensichtliche Bestreben vieler Orchester und Theater nach Publikumsnähe und Partizipation. Beethovenfest-Intendant Steven Walter setzte auf diesem Feld neue Maßstäbe. Er hat die Veranstaltung in den letzten beiden Jahren von einem behäbigen Klassik-Event zu einer innovativen Plattform verwandelt und begeistert auch ein junges Publikum: Fahrradtouren mit Klassischer Musik, Konzerte in leeren Schwimmbädern, Beteiligung von lokalen Laienensembles oder Programme, die das Publikum interaktiv mitbestimmen kann, sind nur einige der erfolgreichen Experimente des derzeit wohl jüngsten und spannendsten Klassik-Festivals in Deutschland.

Inszenierung der Orchesterchefs

Die Nähe zum Publikum scheint ein Schlüsselthema für viele Häuser zu sein, auch und gerade, was die Besetzung von Dirigentinnen und Dirigenten betrifft. Simon Rattle war lange Chef der Berliner Philharmoniker, ist dann in seine Heimat England zurückgekehrt und dirigiert nun seine erste Saison als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO). Neben Klassikern steht auch hier eine gute Portion Volksnähe auf dem Programm. Rattle zeigt sich gern mit Spielern des FC Bayern München, zieht für das Oktoberfest auch mal eine Lederhose an und dirigiert leidenschaftlich gern bayerische Volksmusikgruppen. Mehr als 100 Blasmusik-Ensembles aus ganz Bayern hatten sich beworben, um mit ihm beim Symphonischen Hoagascht (einem geselligen Abend in einer Kneipe) zu spielen. Rattle definiert auch den Plan für eine neue Philharmonie in München als Symbol der Publikumsnähe. Nachdem Bayerns Ministerpräsident Markus Söder dem Bau zunächst eine „Denkpause“ verordnet hatte, steht das Projekt nun wieder im Koalitionsvertrag der neuen Bayerischen Landesregierung.  

Auch das Konzerthausorchester in Berlin setzt mit seiner neuen Chefdirigentin Joanna Mallwitz auf Publikumsnähe. Mallwitz ist omnipräsent in der Hauptstadt, die Werbekampagne radikal auf sie persönlich zugeschnitten. Das sorgt nicht nur für Zustimmung. Gerade nach ihrem eher mäßig dirigierten Eröffnungskonzert mit Gustav Mahlers erster Symphonie stellt sich in der Hauptstadt die Frage, ob die Dirigentin der eigenen Werbung langfristig entsprechen kann.

Die Persönlichkeit von Musikerinnen und Musikern scheint in Berlin derzeit besonders wichtig zu sein. Auch, weil die Klassik-Szene hier gerade neu geordnet wurde. Nach dem Rücktritt von Daniel Barenboim hat sich die Staatskapelle Berlin (und damit auch die Staatsoper Unter den Linden) für Christian Thielemann als Nachfolger entschieden. Der begnadete Wagner- und Strauss-Dirigent ist für seine eher konservative Programmplanung bekannt und damit ein Gegenpol zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Kirill Petrenko arbeitet seit Jahren beharrlich an der Perfektion des Klanges und hat auch diese Saison wieder einen Spielplan aufgestellt, der klug mit bewährtem und neuem Repertoire jongliert, der Publikum und Orchester gleichermaßen herausfordert und die Klassik als Entdeckungsabenteuer definiert. So gut wie unter Petrenko war das Orchester schon lange nicht mehr. 

Die Neuordnung der Berliner Klassik-Szene

Bleibt noch das größte Opernhaus der Hauptstadt: Sowohl der Intendant der Deutschen Oper Berlin, Dietmar Schwarz, als auch der Dirigent Donald Runnicles verlassen das Haus 2026. Die große Frage ist, wen der designierte Intendant, Aviel Cahn, als Musikchef holen wird. Die Oper Frankfurt hat diese Saison vorgemacht, wie belebend ein kluger, junger Musikdirektor sein kann: Thomas Guggeis begeistert das Publikum, und Frankfurt ist bereits zum siebten Mal zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt worden. Auch in Hamburg hat man sich in diesem Jahr für eine doppelte künstlerische Leitung entschieden: Regisseur Tobias Kratzer und Dirigent Omer Meir Wellber sollen die Staatsoper an der Elbe in die Zukunft führen und stehen sicherlich für einen unkonventionellen Führungsstil.

Während es Klassische Musik in anderen Ländern schon seit einigen Jahren schwer hat, kommt die Krise der Institutionen nun auch in Deutschland an. Und das in einer Zeit, in der viele Häuser sanierungsbedürftig sind. Viele Theater und Konzerthäuser wurden nach dem Krieg gebaut oder saniert und müssen in den nächsten Jahren generalüberholt werden. In Städten wie Köln, Stuttgart, Frankfurt oder Dresden ist zum Teil von einer Milliarde Euro Baukosten die Rede. Es wird nicht leicht werden, die jeweiligen Stadtgesellschaften für derartige Investitionen zu begeistern. Und dennoch zeigt die deutsche Musikszene gerade in Zeiten des Umbruchs ihre kreative Kraft zum Neudenken. Zeigt, dass sie Teil einer sich wandelnden Gesellschaft ist. Selten war so viel Bewegung in der Musik, so viel Aufbruch, so viel Neues und so viel Experiment wie in dieser Zeit.

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