Jazz 2024
Neue Spitzen, neue Freiheiten
Vielfältig, international, unterbezahlt und kreativ. Jazz in Deutschland war im Jahr 2024 wieder in all seiner Buntheit äußerst präsent, gleichzeitig unterstreicht das Jazzfest Berlin in seiner Jubiläumsausgabe die amerikanischen Wurzeln dieser Musik.
Von Ulrich Habersetzer
„Alle haben den Blues, alle sehnen sich nach Sinnhaftigkeit. Alle wollen lieben und geliebt werden (…) In der Musik, insbesondere in diesem breit aufgestellten Genre namens Jazz, liegt das Sprungbrett dahin“, schrieb der amerikanische Bürgerrechtsaktivist Martin Luther King in seinem Vorwort zu den ersten Berliner Jazztagen im Jahr 1964. Auch 60 Jahre später ist der Jazz immer noch und gerade besonders das Sprungbrett hin zu einem demokratischen, gleichberechtigten und vielleicht sogar liebevollen Miteinander. „Community“ ist eines der großen Schlagworte des Jahres 2024 in der Szene. Und diese Community, diese Gemeinschaft, wird in Deutschland immer internationaler und diverser.
Immer noch unterbezahlt
Dabei bleibt die wirtschaftliche Lage der Jazz-Ausübenden und Veranstaltenden in Deutschland weiterhin prekär.Durchschnittlich 21.000 Euro im Jahr verdient ein*e Jazzmusiker*in. Bei vielen ist es sogar weniger, bei wenigen mehr als das. Ohne Musikunterricht, ohne Nebenjobs, ohne Unterstützung kommt der Großteil der Jazzmusiker*innen nicht über die Runden. Das kommt im Bericht zur Situation des Jazz in Deutschland 2024 der Bundeskonferenz Jazz (BK), der im November veröffentlicht wurde, deutlich hervor. Es ist der erste umfassende Bericht seit 2014. Die BK Jazz, die Interessensvertretung der Jazzschaffenden im Bund, mit ihren aktuellen Sprecher*innen Bettina Bohle, Kornelia Vossebein und Janning Trumann formuliert aber auch konkretere Forderungen bezüglich möglicher Änderungen bei Förderstrukturen, wozu man unter anderem mit der Initiative Musik im Gespräch sei.
Zwei Frauen an den herausragenden Jazz-Positionen
Eine der bedeutendsten Neuerungen des Jahres 2024 im Jazzbereich war die Neubesetzung der Leitungsposition im Jazzinstitut Darmstadt. Mehr als dreißig Jahre lenkte Wolfram Knauer die Geschicke des Instituts. Nach der Gründung im September 1990 wurde Knauer der erste Direktor, formte und gestaltete an dieser Position das Jazzinstitut zu einer in Deutschland und vielleicht sogar weltweit einzigartigen Institution. Neben der akribischen archivalischen Tätigkeit – tausende Platten und sonstige Tonträger finden sich neben unzähligen Artikeln, Büchern, Filmen und sonstigen Jazzdokumenten in den Lagerräumen in dem stilvollen Gebäude in der Bessunger Straße in Darmstadt – hat das Jazzinstitut besonders durch seine Angebote in Sachen Jazzvermittlung und Jazzforschung für Aufsehen gesorgt. Gerne wird die Anekdote erzählt, ein früherer Darmstädter Bürgermeister habe seiner Pensionswirtin in New York seinen Herkunftsort genannt, worauf die entgegnete, Darmstadt kenne sie, dort gebe es das berühmte Jazzinstitut. Im März 2024 trat Bettina Bohle die Nachfolge von Wolfram Knauer an, und auch sie ist besonders im Bereich der Jazzvermittlung, aber auch im Bereich der Lobbyarbeit in Sachen Jazz aktiv. Diese Leitungsstelle ist eine der bedeutendsten Positionen in der deutschen Jazzlandschaft und mit Bettina Bohle konnte eine kompetente Nachfolgerin für Knauer gefunden werden.Auch bei der Deutschen Jazzunion (DJU), der größten und einflussreichsten Interessensgemeinschaft für Menschen im Jazzbereich in Deutschland, gab es im Jahr 2024 eine personelle Veränderung. Nach acht Jahren als Geschäftsführer der DJU gab Urs Johnen, studierter Kontrabassist und Kulturmanager, den Posten auf. Camille Buscot, von 2022 bis 2024 Geschäftsführerin der I.G. Jazz Berlin, wurde Johnens Nachfolgerin.
Deutscher Jazz als internationale Sprache
Stilistisch gab es im Jahr 2024 in der deutschen Jazzlandschaft keine umwälzenden Neuerungen, aber es wurde an vielen Stellen auf höchstem Niveau gearbeitet und Spannendes kreiert. Die Grenzbereiche zur Neuen Musik, zu elektronischer Clubmusik und zum Singersongwriter-Genre verschwammen dabei immer mehr. Auch verzichteten viele Künstler*innen aus dem weiten Jazzbereich auf die Bezeichnung „Jazz“. Sie verstehen sich als „Improvisator*innen“, und häufiger als in früheren Jahren wird von „improvisierter Musik“ anstatt von „Jazz“ gesprochen. Dabei betonen auch in Deutschland immer mehr Musiker*innen die eigentlich problematische Herkunft des Begriffes „Jazz“. Besonders fällt die Internationalität der Musiker*innen auf. Kaum eine außergewöhnliche Band der deutschen Szene, die sich nicht aus verschiedenen Nationalitäten speist: Das Trio der aus Russland stammenden, in Leipzig lebenden Pianistin Olga Reznichenko etwa, das konsequent eine Form der klassisch-inspirierten, kantig-groovenden Tonsprache weiterentwickelt. Oder die in der Mongolei geborene und in München lebende Pianistin Shuteen Erdenebataar, die durch einen Kurs des Goethe-Instituts zum Jazz und außerdem nach Deutschland kam. Ihr Debütalbum war sogar in der Vorauswahl für den Grammy 2024. Etliche weiterte Beispiele ließen sich hier finden.Wenig Geld, aber mehr Freiheit
Bemerkenswert war 2024 auch die Arbeit der Independent Jazzlabels. Die digitale Verbreitung von Musik durch Streamingdienste beschert den unabhängigen Labels schon lange keine großen Verkaufszahlen und starken Umsätze mehr, aber eine erleichterte internationale Verbreitung. Bei kleineren Plattenfirmen scheint diese Entwicklung zu unkonventionelleren, mutigeren und künstlerisch freieren Veröffentlichungen zu führen. Nach dem Motto: Wenn wir sowieso wenig oder fast nichts verdienen, dann bringen wir lieber Musik heraus, in der wir keine Kompromisse für den Markt eingehen müssen.Das Label WismART aus Wismar überzeugte mit solchen Produktionen 2024, etwa mit dem herausragenden Duo-Album Sending a Phoenix von Saxophonistin Birgitta Flick und Pianistin Antje Rößeler, ebenso Berthold Records aus Bremen, hier sei beispielhaft die lustvolle Produktion Folksmusik von Trompeter Benny Troschel genannt.
Das Münchner Label Squama beschreitet ebenso unbeirrbar eigene Wege. In dessen Katalog finden sich neben Alben aus dem Avantgarde-Jazzbereich, wie Threads to knot des Duos TRAINING mit Bassistin Ruth Goller als Gast, auch tanzbare Clubsounds oder sperrig-künstliche Tongebilde. Darüber hinaus veröffentlicht Squama aber auch so etwas „Exotisches“ wie Aufnahmen mit zeitgenössischer Musik für Solo-Konzertgitarre. Die Freiheit einzelner Labels, künstlerisch hochwertige Alben herausbringen zu können, scheinbar ohne Genre- und Marktkonventionen beachten zu müssen, hat die Jazzszene in Deutschland ungemein belebt.
Deutscher Jazznachwuchs im Allgäu
Im vergangenen Jahr gab es auch eine Premiere in Sachen Jazz-Nachwuchsarbeit: Zum ersten Mal fand ein Treffen von acht Jugendjazzorchestern statt. Die in den achtziger und neunziger Jahren gegründeten Ensembles sind seither die Kaderschmieden des Jazz in Deutschland. Talentierte Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 25 Jahren machen dort die ersten Schritte in die Jazzszene. In unterschiedlichen Besetzungen, von kleinen Combos bis hin zur Konzert-Bigband, werden in Arbeitsphasen Programme eingeübt und Konzerte gegeben. In vielen Bundesländern gibt es diese Jugendjazzorchester und Ende September konnten sich, nach langer Vorarbeit und aufwändiger Organisation, acht dieser Bands in Markt Oberdorf im Allgäu treffen. Ein Groß-Ereignis für die jungen Jazzer*innen und ein bisher einmaliger Austausch dieser jazzpädagogischen Institutionen.Grund zum Feiern, Grund zur Sorge
Gleich mehrere große Jazzfestivals durften 2024 Jubiläumsausgaben feiern: 60 Jahre Jazzfest Berlin sowie 40 Jahre Ingolstädter Jazztage. 2024 wurde das oberbayerische Festival in Ingolstadt zum ersten Mal von Schlagzeuger Wolfgang Haffner kuratiert. Aber auch das Deutsche Jazzfestival Frankfurt und die Leverkusener Jazztage erlebten kleine Jubiläen mit der 55. beziehungsweise 45. Ausgabe. Wobei das Deutsche Jazzfestival in Frankfurt das weltweit älteste aller Jazzfestivals ist: gegründet im Jahr 1953, aber in den 1960er bis in die 1980er Jahre nur im zweijährigen Turnus stattfindend – daher die geringere Anzahl von Ausgaben als etwa in Berlin.Der Ausblick auf das nächste Festivaljahr fällt dagegen teilweise düster aus. Im Oktober wurde bekannt, dass das Hamburger Elbjazz Festival 2025 pausieren wird. Im Jahr 2024 hatte es eine stilistische Neuausrichtung gegeben. Das Festival im Hamburger Hafen hatte sich mehr in Richtung Popmusik geöffnet und wollte mit einer genreübergreifenden Mischung aus Pop- und Jazzacts eine größere und jüngere Zielgruppe ansprechen. Diese künstlerische Ausrichtung erreichte aber nicht die gewünschte Resonanz. Da das Buchen von namhaften Jazz-Headlinern nach Angaben der Veranstalter im Oktober 2024 für das darauffolgende Jahr nicht mehr möglich war, wurde dem Festival eine Zwangspause auferlegt. Gleichzeitig gaben die Veranstalter einen Festivaltermin für 2026 bekannt. Wie es um andere, auch große Jazzfestivals 2025 steht, ist unklar. Verabschiedet hat sich das A L’ARME-Festival für experimentelle Musik und Avantgarde-Jazz in Berlin, bei der Cologne Jazzweek und dem Berliner XJAZZ! Festival ist die Finanzierung für 2025 alles andere als klar. Die Zuschüsse für einzelne Clubs und Spielstätten sind teilweise auch nicht gesichert und stehen beim allgemeinen Spardruck der Kommunen in den Sternen.
Sicher stattfinden jedoch wird das Jazzfest Berlin. Dieses wegweisende Festival überzeugte 2024 im siebten Jahr unter der künstlerischen Leitung von Nadin Deventer mit zahlreichen sehr gelungenen Beiträgen und einem absolut schlüssigen Konzept. Viele Ensembles beriefen sich in der Jubiläumsausgabe des Festivals auf die afroamerikanische Herkunft des Jazz, und gerade die amerikanischen Beiträge, etwa von Saxophonist Joe Lovano, Pianistin Kris Davis oder Schlagzeuger John Hollenbeck, stachen dabei besonders hervor.
Darüber hinaus wurde eine deutsche Jazzlegende beim Jazzfest Berlin gefeiert: Pianist Joachim Kühn. Im März 2024 wurde er 80 Jahre alt und von ihm erschien Anfang des Jahres ein Duo-Album mit dem zwei Generationen jüngeren Pianisten-Kollegen Michael Wollny, außerdem Ende September ein Album im neugegründeten French Trio mit zwei französischen Jazzern, die Kühns Enkel sein könnten. Mit diesen beiden faszinierenden Veröffentlichungen lieferte Kühn die musikalische Klammer für das Jahr 2024: Ein Altmeister, mit starker Bindung an die Jazztradition, der aber immer noch auf der Suche ist und die junge Generation als Inspirationsquelle nutzt. Damit kann Joachim Kühn als Sinnbild für den Jazz in Deutschland 2024 stehen: eine Musik mit tiefen Wurzeln, aber vielfältigen neuen Einflüssen.