Klassische, Neue und Alte Musik 2024
Trotz Kulturkürzungen und Zeitenwende - Musik bleibt politisch

„Fausto“
„Fausto“ | Foto (Ausschnitt): © Philharmonie Essen/Forster

Ende 2024 spricht der Deutsche Musikrat von einem „freien Fall“ der Kulturetats. Massive Kürzungen gefährden die Substanz der Musikszene, der Schock sitzt tief. Es gab Vorzeichen für diese Krise im Lauf des Jahres, aber auch innovative Entwicklungen in Oper und Konzert.

Von Dr. Eleonore Büning

Wir müssen die Kunstfreiheit verteidigen mit „Zähnen und Klauen“. So archaisch formulierte es der große Kölner Bürgerrechts-Liberale Gerhart R. Baum in einem Leitartikel für die NMZ (neue musikzeitung) – als hätten die Zeitläufte uns zurück gebeamt ins Neandertal. Baum erinnert daran: Freiheit der Kunst ist ein „Lebenselixier der Demokratie“, eben weil sie sich der „Diktatur der Quote“ widersetzt.

Sein Essay erschien im Dezember 2023, vor einem Jahr. Anlass waren erste Dammbruch-Erfolge der rechten, teils als rechtsextremistisch eingestuften Parteien in den Landtagswahlen – eine neue Tendenz „in einer Dimension“, wie er sie „seit Gründung unserer Republik noch nicht erlebt habe.“ Rückblickend liest sich Baums Analyse wie ein Menetekel, eine Prophezeiung. Denn im Jahr 2024, daran werden sich alle Akteure des Musiklebens in erster Linie erinnern, wurde eine neue Kulturferne der Politik manifest, mit verheerenden Folgen. Von einem „freien Fall“ der Kulturetats spricht der Deutsche Musikrat. Mit diesem beispiellos rabiaten Abbau der Kulturförderung hatte niemand gerechnet.

Mit Zähnen und Klauen

Verträge werden aufgelöst werden, Projekte müssen sterben, Lichter gehen aus. Dazu kursorisch ein paar Zahlen und Beispiele aus den Beschlüssen der Stadtkämmerer im letzten Quartal: In München wird der Etat für Museen, Galerien, Konzerte, Theater, Tanz, Film, Literatur, Club- und Offkultur um 16,8 Millionen Euro gekürzt, Münchner Volkstheater und Münchner Kammerspiele sehen mittelfristig der Insolvenz entgegen. In Köln geht es allein im Musikbereich um Kürzungen von 27 Prozent. Das Acht-Brücken-Festival der Kölner Philharmonie, Leuchtturm der zeitgenössischen Musik, wird überhaupt nicht mehr gefördert. Gleiches gilt für das Ensemble Concerto Köln. In Dresden, wo der Kulturetat um fünf Millionen Euro verkleinert wird, stehen Festspielhaus Hellerau und Staatsoperette auf dem Spiel. In Berlin geht es um einen Betrag von 130 Millionen Euro. Das greift die großen Häuser ebenso in der Substanz an wie die freien Gruppen. Es wird Schließungen geben in Zukunft, Kündigungen. 15 Millionen Euro fehlen im Etat der Opernstiftung, wobei es am härtesten die Komische Oper trifft, die derzeit in Ausweichquartieren spielt. Zusätzlich zu den von ihr einzusparenden circa fünf Millionen sind zehn weitere Millionen Euro gesperrt durch den vom Senat verhängten Baustopp der Renovierung des Stammhauses. Die Baustelle ruht. Während die Kosten weiter steigen. Jeder Kämmerer sollte eigentlich wissen, dass auch ein nur befristeter Baustopp ein Vielfaches an Mehrkosten generiert.

Rechenfehler und Laissez-Faire im Umgang mit Kulturimmobilien sind der bürokratische Normalfall auch anderswo. Die für Dezember geplante Wiedereröffnung des Kölner Opernhauses, seit bald 14 Jahren im Umbau, wurde im März 2024 abermals verschoben. Im November wurde bekannt, dass sich die 2019 beschlossene Sanierung des maroden Littmann-Opernhauses in Stuttgart um weitere vier Jahre verzögert. Die städtischen Bühnen in Frankfurt können schon gar nicht mehr saniert werden, weil dieses Sechzigerjahre-Denkmal (Schauspiel und Oper unter einem Dach) so abgewirtschaftet ist, dass Abriss plus Neubau preiswerter wären. Das wurde 2017 festgestellt, in einer Machbarkeitsstudie. Erst jetzt, Mitte 2024, verhandelt man über ein neues Grundstück. In München, wo der Gasteig wegen langfristiger „Grundsanierung“ geschlossen ist, steht der Ort für den Bau eines neuen Konzertsaals schon seit 2016 fest. Seither wird „geplant“, ohne Ergebnisse, weshalb Ministerpräsident Söder im Juni 2024 die Phase einer „Neuplanung“ einläutete.

Aber auch andere chronische „Musikbaustellen“ wurden kritisch in diesem Jahr. Eine hat zu tun mit dem verbrieften Bildungs- und Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und betrifft den musikalischen Nachwuchs. Im Januar 2024 hat die Rundfunkkommission 50 Prozent der Mittel des traditionsreichen ARD-Musikwettbewerbs gestrichen. Der 73. ARD-Wettbewerb fand zwar dann im September noch in bewährtem Format statt. 726 Teilnehmer*innen aus 58 Nationen konkurrierten in vier Sparten, es wurden 14 junge Spitzenmusiker*innen ausgezeichnet. Der Wettbewerb 2025 wird demnächst kleiner ausfallen. Einerseits ist es das erklärte Ziel der öffentlich-rechtlichen Programmreform, junge Hörer*innen zu gewinnen. Andererseits wird ausgerechnet die Nachwuchsförderung halbiert. Scheint paradox, hat aber Methode: Mit dieser Maßnahme wird, einmal mehr, Popmusik ausgespielt gegen Klassik.

Einen ähnlichen Kurs fahren die Relaunches in den dritten Programmen, vom rbb über WDR 3 bis zu SWR 2. In Berlin und Brandenburg gibt es seit Februar 2024 zwischen sechs und zehn Uhr morgens beispielsweise keine klassische Musik mehr zu hören. Sie wird ersetzt durch Pop. Der Verlust der Stammhörer*innen wird dabei mit einkalkuliert. Die sogenannte „ernste Musik“ sei, so hieß es, nicht kompatibel mit den „ernsthaften“ Themen der nachrichtlichen Wortbeiträge der Morgenstrecke. Zu dieser Einschätzung passt sehr gut ein Bonmot des Komponisten und kritischen Radiohörers Wolfgang Rihm, er sagte: „Wir zahlen doch keine Gebühr für unsere Unterforderung.“

Robust in den Nischen

Rihm gehört zu den drei großen Verstorbenen der Musikszene in diesem Jahr. Er starb am 27. Juli im Alter von 72 Jahren nach langer Krankheit. Ihm voraus ging am 13. März sein Berliner Kollege und Freund Aribert Reimann. Er wurde 88 Jahre alt. Schließlich: Der dem deutschen Musikleben eng verbundene Komponist, Dirigent, Pianist und Schlagwerker Péter Eötvös. Er starb, achtzigjährig, wenige Tage nach Reimann, in Budapest. Obwohl diese drei nicht zu einer Generation gehören und ihre Musik aus unvergleichbar eigenen Welten stammt, muss man trotzdem sagen: Mit diesen drei Trauerfällen ging eine Ära der zeitgenössischen Musik zu Ende. Ein Kapitel Musikgeschichte ist abgeschlossen.
Kein Komponist, keine Komponistin muss sich heutzutage mehr über die Abgrenzung von avantgardistischen Maximen und Dogmen definieren. Diese Zeit ist vorbei. Was sich ablesen lässt an der Individualisierung der Genres und der Vielfalt der Ausdrucksmittel, die der Uraufführungsreigen an den Donaueschinger Musiktagen unter der neuen Leiterin Lydia Rilling bietet. Sie ist nicht nur die erste Frau auf diesem Posten. Sie ist zugleich die erste Festival-Leiterin, die nicht als Redakteurin eingebunden ist in die SWR-Rundfunkanstalt, die Trägerin der Donaueschinger Musiktage ist.

Ihr zweites Festivalprogramm 2024 zeigte: Eine neue Ära der Diversity ist angebrochen. Alle Stile, Strömungen, Moden und Methoden sind jetzt willkommen, es werden hinsichtlich der Zahlen von Besucher*innen neue Rekorde erzielt. Auch im Portfolio von bewährten Festivals wie Eclat in Stuttgart, Ultraschall in Berlin oder den Tagen für neue Kammermusik in Witten, wo Patrick Hahn 2024 die künstlerische Leitung übernahm, zeigt sich diese Entwicklung.

In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass 2024 für das Avantgardelabel bastille musique ein ausgesprochen gutes Jahr war. Der Begründer und Betreiber, Sebastian Solte, netzwerkte mit Rundfunkredaktionen, er kümmerte sich um untergepflügte und experimentelle Avantgarde. Während die Major Labels mit immer weniger Produktionen im Streaming-Strom paddeln, hat Solte 2024 so viele (altmodische) CD-Formate mit neuer Musik herausgebracht wie nie zuvor. Dazu befragt, erklärte er: „Die Inflation macht uns Plattenfirmen das Leben schwerer. Es gab erste Vorboten der Kürzungen. Aber bastille musique bedient eine Nische, die sich als relativ robust erwiesen hat, es gab tolle Konzerte, ein dankbares Publikum!“

Die ganze Wahrheit über Lügen

Was dagegen die drei zuvor genannten Ausnahmekomponisten der neuen Musik anbelangt: Ihre Werke sind im Repertoire angekommen. Aribert Reimanns Oper Lear war 2024 in gleich zwei Inszenierungen zu erleben, am Staatstheater in Hannover und am Teatro Real in Madrid. Wolfgang Rihms Hamletmaschine kam im März am Staatstheater Kassel neu heraus – ein dystopisches Szenario nach Heiner Müller, das die „Ruinen von Europa“ voraussah. Im Dezember sorgten die Berliner Philharmoniker, die Rihm seit Beginn der Saison auch posthum als Composer in residence feiern, mit einer Kammermusikreihe und etlichen großen Orchesterkonzerten für eine brillante Darbietung seines Einakters Das Gehege nach Botho Strauß. Es geht dabei um einen Adler, der aus seiner Voliere befreit wird, was ihm nicht zum Besten gerät: ein Symbol für den deutschen Adler, der offenbar das Fliegen verlernt hat. Zwei starke Frauen sorgten in dem Stück für Furore: Simone Young am Pult, die junge litauische Mezzosopranistin Vida Miknevičiūtė auf der Bühne. Im Januar 2024 kam am Theater in Graz eine Neuproduktion der Oper Sleepless von Peter Éötvös nach Jan Fosse heraus. Im Februar fand am Theater Regenburg die deutsche Erstaufführung von dessen dreizehnter und letzter Oper überhaupt statt: Valuschka, komponiert nach dem Roman Melancholie des Widerstands von László Kraznahorkai, glossiert den unaufhaltsamen Aufstieg manipulativer Demagogen.

Soweit sechs Highlights aus deutschen Spielplänen, die beispielhaft dafür stehen, wie ernste politische Fragen der Gegenwart in der „ernsten“ neuen Musik verhandelt werden. Kleinere Häuser und die freie Szene sind da allemal risikobereiter als feste große Häuser. Die Berliner Musiktheatergruppe Nico and the Navigators brachte in Schwetzingen ein neues Stück heraus, das perfekt auf die deutsche Regierungskrise reagierte. Es trägt die Botschaft im Titel: The whole Truth about Lies. Die Opernintendant*innen in Essen und Dortmund, Meiningen und Karlsruhe setzten weithin unbekannte Opern von Frauen erstmals auf's Programm – mit spektakulären Ergebnissen. Tatjana Gürbaca inszenierte Louise Bertins Faust-Oper (Essen), Emily Hehl La Montagne Noir von Augusta Holmès (Dortmund). Und das Seapiece The Wreckers von Dame Ethel Smyth wurde gleich zweimal zu deutscher Erstaufführung gebracht, von Keith Warners und Jochen Biganzoli.
Die Bayerische Staatsoper dagegen sattelte auf den Zug der Wiedergutmachung hinsichtlich des während des Holocausts ermordeten polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg auf, ebenso die Salzburger Festspiele – besser spät, als nie. In München inszenierte Tobias Kratzer Die Passagierin, Krzysztof Warlikowski bereitete dem Idiot in der Felsenreitschule einen triumphalen Erfolg. Den größten Zuspruch seitens Kritik und Publikum errang indes das Epos Die Jüdin von Toledo, komponiert von Detlef Glanert im Auftrag der Dresdner Semperoper, inszeniert von Robert Carsen und uraufgeführt am 10. Februar. Das Stück befasst sich, fünf Monate nach dem Terrorangriff der Hamas in Israel, mit dem historischen Stoff eines Judenpogroms im spanischen Mittelalter und wirkt nicht im Geringsten eskapistisch, sondern erschütternd gegenwärtig. Der Antisemitismus wird entlarvt als Instrument des Machterhalts. Fromme Gläubige verwandeln sich in fanatische Mörder. Unter Blechgewittern, Beckenschlägen, Klarinettenheulen, Tubadröhnen, Paukendonner, Piccolokreischen, Einschüssen und Kanonaden wird „die Welt (…) zur Hölle für alle, die ihre Menschlichkeit opfern.“

Eine andere Szene imaginiert, in zart-magischer Nachtmusik, das friedliche Zusammenleben der drei großen Weltreligionen: Manche tragen Kippa, andere Anzüge, wieder andere Kutten. Sie umarmen sich und brechen miteinander das Brot. Eine Utopie, die zurückverweist auf die aufgeklärten Friedensjahre unter Alfonso dem Weisen. Möglich, dass es nur in der Oper, diesem hybriden Theaterkraftwerk der Gefühle, gelingen kann, solche Widersprüche aus der Realität aufzugreifen und einer gemeinschaftlich erfahrbaren Katharsis auszusetzen. Das wäre jedenfalls ein starkes Argument: Ex-Kulturstaatsministerin Monika Grütters, CDU, benutzte es, als sie am 5. Dezember in Deutschlandfunk Kultur befragt wurde zum Kahlschlag der Hauptstadtkultur. Sie sagte: Gewiss sei Kunst „ein Standortfaktor, in Berlin zusammen mit der Wissenschaft wohl der wichtigste. Aber sie ist mehr als nur das. Sie ist Ausdruck von Humanität. Deshalb darf man sie nicht auf Maßstäbe ökonomischer Verwertbarkeit reduzieren.“

Am 6. Dezember gaben die Bayreuther Festspiele bekannt, dass das Fest zum 150-jährigen Gründungsjubiläum 2026 wegen der angespannten Haushaltslage bereits jetzt radikal gestutzt worden ist. Es gibt vier Opernproduktionen weniger, als geplant. Auch die jüngste Neuproduktion von Tristan von 2024 wird dann nicht wieder aufgenommen. Perspektivischer Lichtblick des Jahres: Der deutsche Kulturrat widmet seine Septemberausgabe der Zeitschrift Politik & Kultur dem Thema Kunstfreiheit.

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