Das Goethe-Institut
Im Wandel
70 Jahre Goethe-Institut sind auch eine Geschichte der technischen Transformation und des Fortschritts: von den ersten Sprachlaboren und futuristischer Computerkunst hin zu TikTok-Unterricht und Virtual Reality in Bibliotheken.
Zwei Roboterdamen auf Welttournee
Foto: Adam Burakowski / Goethe-InstitutGestatten? Das sind NAOmi und GAIA, die wahrscheinlich am internationalsten und inklusivsten agierenden Roboterdamen unserer Zeit. Denn die beiden sind weit gereist, einmal quer durch Europa, und das mitten in der Corona-Pandemie – für humanoide Roboter waren selbst im Lockdown alle Grenzen offen. Sie haben Fußball spielen gelernt, können tanzen und singen, mehre Sprachen sprechen und herausfinden, ob ihr Gegenüber als Mann oder als Frau angesprochen werden möchte.
Foto: Goethe-InstitutDie Roboterdamen sind Teil des Projekts „Generation A=Algorithmus“, das die Diskussion über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im Alltag voranbringen soll. Dabei geht es auch um die Zukunftsfragen der Kultur- und Spracharbeit: Humanoide Roboter wie NAOmi und GAIA sollen schon bald Kinder erziehen und Kranke pflegen, in Altenheimen und Restaurants sind sie heute bereits im Einsatz. Dort müssen sie mit Menschen mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen interagieren, mit verschiedenen Sprachen und Altersgruppen. Dafür bedarf es der nötigen interkulturellen Sensibilität. Hat das Goethe-Institut in seiner Anfangszeit ausschließlich menschlichen Sprach- und Kulturaustausch gefördert, werden heute auch Roboter einbezogen.
Kulturaustausch für Roboter
„Robots in Residence“
Was muss ein Roboter können, wenn er auf Reisen geht? Sich selbst vorstellen, Witze erzählen und eine Tai-Chi-Übung anleiten – so entschieden es die Programmierer*innen von NAOmi und GAIA in München: Mit dieser Programmierung schickten sie die beiden Roboterdamen auf Reise. NAOmi und GAIA sind humanoide Roboter der japanisch-französischen Firma SoftBank Robotics, ein Modell, das bereits weltweit in Bildungseinrichtungen im Einsatz ist. Sie sind selbstlernend, können sich also eigenständig Wissen aneignen. NAOmi und GAIA reisen seit Juni 2020 durch die europäischen Goethe-Institute. Ihre Betreuer*innen vor Ort entscheiden selbst, was sie ihnen beibringen. In Bremen etwa übten sie Fußball spielen, in Groningen boxen. In Budapest lernten sie Bildbeschreibungen tippen, in Warschau unterrichten.
Das Projekt ist nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, wie viel sich getan hat, seitdem das Goethe-Institut mit seinen ersten Sprachkursen gestartet ist. In den folgenden Jahrzehnten haben technische Innovationen und die Digitalisierung den Alltag, die Spracharbeit, Kunst und Kultur grundlegend verändert.
Das Goethe-Institut war von Beginn an darum bemüht, neue Technologien in seine Sprach- und Kulturarbeit einzubinden und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel kritisch zu begleiten.
Deutsch lernen im Sprachlabor
Als das Goethe-Institut vor 70 Jahren mit seiner Arbeit begann - zunächst mit Sprachkursen im Inland, bald auch mit Deutschunterricht im Ausland, eigenen Bibliotheken und internationalem Kulturaustausch – lagen die heutigen digitalen Möglichkeiten noch in weiter Ferne. Damals wurden Wörterbücher gewälzt und auf Schreibmaschinen getippt, Teilnehmer*innen über Wählscheiben-Telefone kontaktiert und Kurszeiten über Aushänge kommuniziert.Für die Deutschkurse war es nahezu revolutionär, als in den 1960er-Jahren mit den Sprachlaboren die neueste Technik Einzug in den Sprachunterricht hielt. Über Kopfhörer bekamen die Schüler*innen Sätze oder Anweisungen der Lehrerenden eingespielt, die sie in der fortgeschritteneren Version der Sprachlabore auch nachsprechen und aufzeichnen konnten. Im Jahr 1976 veröffentlichte das Goethe-Institut mit der Ausstellung „Wege zur Computerkunst“ auch erste am Computer kreierte Kunstwerke, von denen die ältesten aus den 1950er-Jahren stammten.
Es sollte aber noch knapp zwei Jahrzehnte dauern, bis auch das Zeitalter der PCs anbrach, der Personal Computer. Tower und Röhrenbildschirme eroberten die Schreibtische. Horst Weber, seinerzeit Sprachlehrer am Goethe-Institut in Dublin, erinnert sich noch genau, wie er sich seinen ersten Computer zulegte, um Arbeitsblätter für den Unterricht zu erstellen. „Die Sprachlehrer*innen haben sofort erkannt, welches Potenzial in dieser Technik liegt“, erinnert er sich. Weber begab sich auf die Suche nach interaktiven Lehrinhalten, die anfangs noch auf Floppy-Disc vertrieben wurden, erst später folgten die ersten Lernprogramme auf CD-ROM.
Screenshot: Goethe-InstitutMitte der 1990er-Jahre begannen die ersten Auslandsinstitute, eigene Websites aufzubauen, über die sie sich untereinander vernetzen und Arbeitsblätter austauschen konnten. „Das war ein Riesenerfolg“, erzählt Weber. Statt tagelang auf Zeitungen oder Zeitschriften zu warten, die damals noch per Post aus München verschickt wurden, konnte damit nun tagesaktuell gearbeitet werden. Auch die Zentrale des Goethe-Instituts sprang auf den Zug auf und begann mit ihrer Abteilung Forschung und Entwicklung eigene interaktive Lerninhalte zu erstellen. 1995 ging dann die erste gesamtinstitutionelle Website des Instituts ins Netz: Das Goethe-Institut war online, noch drei Jahre bevor Google gegründet wurde.
Goethe-Lab Sprache
„Ist das von dir oder von DeepL?“
Freies Schreiben ist ein wichtiger Bestandteil des Deutschunterrichts an den Goethe-Instituten weltweit. Anhand freier Übungen können Sprachlehrer*innen erkennen, ob die Lernenden den behandelten Wortschatz und die Grammatik beherrschen. Immer wieder aber nehmen Sprachschüler*innen auch automatisierte Übersetzungsprogramme wie DeepL oder Google Translate zur Hilfe. Um solche Texte in Zukunft erkennen zu können, hat das Goethe-Institut zusammen mit der Humboldt-Universität Berlin ein selbstlernendes Programm entwickelt, das Natural-Language-Processing-Verfahren mit Machine Learning kombiniert. Es kann nicht nur erfolgreich automatisiert erstellte Textpassagen aus Übersetzungsprogrammen ausfindig machen, sondern hilft auch, die Schreibaufgaben der Schüler*innen zu bewerten.
Mehr als nur Bücher
Die Fortschritte in der Spracharbeit sind aber nur ein kleiner Teil der Veränderungen, die der digitale Wandel mit sich gebracht hat. Sehr viele Wendungen haben auch andere Bereiche genommen – die Bibliotheken zum Beispiel.
Im Zeitalter von Wikipedia und Streamingdiensten, in denen nahezu jede Information und fast jedes Buch auch zum Download zur Verfügung stehen, scheint das Modell der Bücher-Ausleihe ausgedient zu haben. Doch wer meint, dass Bibliotheken deshalb in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren haben, der irrt – zumindest in der Welt des Goethe-Instituts. Denn ihre Grundidee, das „Sharing“, ist voll im Trend – und darauf haben die Institutsbibliotheken weltweit reagiert.
„Inzwischen sind die Bibliotheken ins Zentrum der Institute gerückt“, erzählt Brigitte Döllgast, Leiterin des Bibliotheksbereichs. Dafür haben sich ihre Aufgaben verändert: Die Bibliotheken dienen nicht mehr in erster Linie dazu, gedruckte Informationen bereitzustellen, sondern bieten auch andere Sachen zum Teilen an – in der Bibliothek der Dinge etwa, wie das Goethe-Institut sie im slowakischen Bratislava eingerichtet hat. „Es gibt viele Gegenstände, die man selten braucht oder einmal ausprobieren möchte“, erläutert Döllgast die Idee. Von der Bohrmaschine bis zum Brotbackautomaten gibt es Anschaffungen, die sich individuell nicht wirklich lohnen. Da liegt es nahe, sie stattdessen in einer Bibliothek zu leihen. Andere Bibliotheken haben Filmstudios zur öffentlichen Nutzung eingerichtet, wie etwa in Addis Abeba in Äthiopien, oder Büroarbeitsplätze für Sozialunternehmer*innen, wie im südafrikanischen Johannesburg. Hier gibt es auch eine Gamebox, in der Besucher*innen eine Auswahl an Independent-Games aus Deutschland und Subsahara-Afrika ausprobieren können. Die Bibliothek im ägyptischen Kairo hat einen sogenannten Makerspace aufgebaut, einen Kreativraum, in dem Interessierte neue Technologien ausprobieren können.
Zugleich versucht das Goethe-Institut, klassische Literatur und Film neu zu vermitteln und erlebbar zu machen. Seit einigen Jahren experimentieren sie dafür mit Virtual-Reality-Technologie. Die Multimediainstallation „Das Cabinet des Dr. Caligari“ etwa ließ Besucher*innen durch das Filmepos aus dem Jahr 1919 wandeln, Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ konnte in der VR-Installation „VRwandlung“ nacherlebt werden. Als die „VRwandlung“ 2018 von Tschechien aus auf Welttournee durch die Bibliotheken der Goethe-Institute ging, stieß sie auf große Begeisterung. In Minsk kamen 35.000 Besucher*innen, und egal ob in Ghana oder Myanmar, „sobald es sich herumsprach, wurde die Schlange länger“, erzählt Goran Vulinovic, der in der Münchner Zentrale die VR-Projekte betreut. Ebenfalls auf Welttournee ging 2019 das „Virtuelle Bauhaus“, das einen digitalen Besuch am Dessauer Bauhaus ermöglicht.
Gegen Fake News und Neokolonialismus
Überhaupt, die Themen der Informationsgesellschaft: Sie sind für das Goethe-Institut ganz zentral geworden. Denn Sprache, Informationsaustausch und interkulturelle Kommunikation, all das findet heute vor allem auch digital statt. Hier die gesellschaftlich-kulturelle Debatte mitzugestalten, darin sieht das Goethe-Institut eine Aufgabe.Digitale Mündigkeit etwa ist solch ein Thema: Welche Information im Netz ist echt, wie erkennt man Fake News? Beim internationalen Projekt „Game’n’Train-Mixer“ von Februar bis April 2021 erstellten Spieleentwickler*innen aus Asien, Afrika und Lateinamerika dazu Lehrspiele. Das Goethe-Institut in Moskau veranstaltete Infoworkshops mit Expert*innen. Und beim Online-Hackathon „The Climate Challenge“, den das Goethe-Institut gemeinsam mit Scientists4Future und The Hackathon Company organisierte, wurde unter anderem ein Bot entwickelt, der auf Twitter prüft, ob Tweets zum Klimawandel von Expert*innen stammen und ob die darin geäußerten Informationen valide sind.
Neokolonialismus in der digitalen Welt ist ein anderes Schlagwort: Wer schreibt eigentlich die Texte auf einschlägigen Internetportalen, etwa der Wikipedia-Enzyklopädie? Und welche Weltsicht wird dabei transportiert? Bisher dominiert häufig die westlich geprägte Perspektive der Industrienationen. Dies gilt auch, wenn es um die Programmierung von Algorithmen für Künstliche Intelligenz geht: Dabei werden nicht selten – von den Entwickler*innen meist unbemerkt – Rassismus und Stereotype weitergetragen. Einen Gegenentwurf liefern Projekte des Goethe-Instituts wie die „Robots in Residence“, NAOmi und GAIA, die ihre Lernerfahrungen in unterschiedlichen Ländern und Kulturen machen.
Oder Projekte wie „Wessen Wissen?“ zum Thema Entkolonialisierung des Internets: Die Edit-A-Thons in Afrika, also kollaborative Treffen zur Erweiterung von Wikipedia um bestimmte Artikel und Themengebiete, die unter anderem mit der Open Foundation West Africa, WikimediaZA Foundation und Whose Knowledge zusammen durchgeführt wurden. In der Enzyklopädie sind seitdem eine Reihe neuer Einträge zu lesen, zum Beispiel über die äthiopische Sozialunternehmerin Bruktawit Tigabu Tadesse. Artikel wie die Biografie der äthiopischen Präsidentin Sahlework Zewde stehen jetzt auch auf lokalen Sprachen – in diesem Fall Amharisch – zur Verfügung.
All diese Projekte, zusammen mit den vielfältigen Diskussionsveranstaltungen und Hackathons der Goethe-Institute weltweit, stellen immer wieder die Frage, wie wir in der neuen digitalisierten Welt leben wollen, und zeigen Wege und Möglichkeiten für die Zukunft auf. So auch die Ausstellung „A Better Version of Me“, bei der Künstler*innen in Seoul 2017 und Peking 2018 Tech-Produkte präsentierten, die es noch nicht gibt – etwa einen Avatar, mit dem Nutzer*innen ihre eigene Identität anhand ihrer Social-Media-Präsenz erkunden können, oder ein Programm für Geldanleger*innen, das die Investitionsstrategie seiner Nutzer*innen nach deren Ableben mit dem hinterlassenen Vermögen fortführt.
NAOmi und GAIA, die beiden Roboterdamen, werden übrigens im Oktober 2021 wieder in Deutschland ankommen und sich im November auf dem Abschlussfestival von „Generation A=Algorithmus“ in Dresden einfinden. Dort wird man live erleben können, wie ein Algorithmen-Gehirn tickt, das seine Lebens- und Lernerfahrungen in unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Gesellschaftsgruppen gemacht hat: eine durch und durch multikulturelle Künstliche Intelligenz.