„Arts of the Working Class“
„Eine Einladung an alle, mitzudiskutieren“

Arts of the Working Class Extrablatt LA: Worlds of Homelessness Titelseite
Arts of the working class Extrablatt LA: Worlds of Homelessness | © Arts of the Working Class

Die Obdachlosenzeitung „Arts of the Working Class“ und das Goethe-Institut Los Angeles präsentieren das Extrablatt „Worlds Of Homelessness“. Im Gespräch mit „Goethe aktuell“ erzählen die Herausgeberinnen María Inés Plaza Lazo und Alina Ana Kolar von ihrer Idee einer Kunstzeitschrift für alle, wie ein Verteiler*innen-Netzwerk aus Obdachlosen bei der Umsetzung hilft und wie Covid-19 die Zeitschrift und ihre Verkäufer*innen trifft.

Von Elisabeth Wellershaus

Wie ist die Idee zu „Arts of the Working Class“ entstanden? Was steckt hinter dem Konzept einer internationalen Obdachlosenzeitung?

María Inés Plaza Lazo: Am Anfang stand die Überlegung, dass wir die prekären Bedingungen innerhalb der Kunstwelt thematisieren wollten. Die Bedingungen, unter denen viele Kulturschaffende heute arbeiten, aber auch die Exklusionsmechanismen, durch die Kunst heute vielen Leuten vorenthalten wird. Es gibt beispielsweise etliche Magazine für Kunst und Kultur, die extrem überteuert sind. Publikationen wie das „Art Forum“ landen bestenfalls auf den Coffee Tables der Privilegierten. Daher unser Gedanke: eine Zeitung, für die jeder zahlt, was er kann, damit alle sich geistig von ihr ernähren können. Nach der Gründung kam Alina dann zum Team dazu. Zusammen publizieren wir heute eine Zeitung, in der die „Funktionäre“ der Kunstszene auf Menschen treffen, die sich außerhalb dieser Welt bewegen und die ihre Perspektiven gemeinsam neu definieren. Bei uns kann im Prinzip jeder die Zeitung mitgestalten.

Alina Ana Kolar: Weil wir ein möglichst breites Publikum erreichen und auch migrantische Perspektiven mitdenken wollen, war schnell klar, dass die Zeitung in mehreren Sprachen erscheinen soll. Und zwar nicht nur in den vermeintlich dominanten wie Englisch, Spanisch oder Französisch. Unsere Autor*innen sollen die Möglichkeit haben, selbst über die Beitragssprachen zu entscheiden, egal, welche es sind. Das führt zwar dazu, dass Leser*innen nie den gesamten Inhalt verstehen werden. Aber uns geht es eben auch darum, auszuhalten, dass das gar nicht möglich ist. Dass sich nicht jede Erfahrung übersetzen lässt. Und es darüber hinaus ohnehin so vieles gibt, das sich mit Sprache kaum vermitteln lässt. Sondern vielleicht eher mal durch den Anblick einer Partitur oder einer mathematischen Formel.

Sind es denn eher Menschen aus der Kulturszene, die in sich ja durchaus blasenhaft ist, oder auch Menschen von außerhalb, die Ihr damit ansprecht?

María Inés Plaza Lazo: Unsere Zeitung wird mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren verteilt. In Berlin beträgt die empfohlene Spende 2,50 Euro. Dieser Betrag geht komplett an die Obdachlosen und Student*innen, mit denen wir zusammenarbeiten. Über dieses Netzwerk und die Art der Distribution in verschiedenen Ländern hoffen wir, ein möglichst diverses Publikum zu erreichen. Unter anderem wollen wir den Gedanken aufbrechen, dass Obdachlosigkeit zwangsläufig Ignoranz bedeutet. Nur weil jemand seit 25 Jahren auf der Straße lebt, heißt das nicht, dass er oder sie nicht am intellektuellen Leben teilnehmen will oder kann. Insgesamt geht es uns um die Realisierung, dass die Grenzen zwischen vermeintlich gescheiterten Biografien und dem Leben von Menschen, die in gefühlter Sicherheit leben, äußerst brüchig sind. Man sieht es schon allein daran, dass immer mehr promovierte Akademiker*innen heute im Café arbeiten oder als Hilfskräfte von kulturellen Institutionen ausgebeutet werden.

Wofür steht der Titel „Arts of the Working Class“?

Alina Ana Kolar: Wir versuchen uns an einer Neudefinition des Begriffs „Working Class“, weil sich Klassenverhältnisse aufgrund von Berufsbedingungen und Gesellschaftsstrukturen seit der Einführung des Terminus verändert haben und noch immer verändern. Außerdem nehmen wir uns selbst als Teil des Kunstprekariats wahr, weil auch wir in unserer Arbeit unter finanziell instabilen Strukturen leiden. Wir wollen mit anspruchsvollen Inhalten Zugänge zur Kunst für Menschen schaffen, die sich nicht selbstverständlich in Kulturkontexten bewegen. Ich selbst komme beispielsweise aus Verhältnissen, in denen Kunst nicht stattfand, und bin erst über gesellschaftliche Angebote dazu gekommen. Einerseits ist unsere Arbeit also eine bewusste Entscheidung für diese Gemeinschaft und gegen den Anpassungsdruck innerhalb eines ansonsten brutalen Wirtschaftssystems. Andererseits ist es gerade innerhalb der Kunst nicht leicht zu überleben. Menschen, die in kreativen Strukturen arbeiten, müssen sich heute mit ökonomischer Unsicherheit bis hin zur Wohnungslosigkeit auseinandersetzen. Genau das sind die paradoxen Gegebenheiten, unter denen wir agieren und die wir thematisieren wollen.

Wie haben sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie das redaktionelle Geschehen und das Leben der Zeitungsverkäufer*innen verändert?

Alina Ana Kolar: Menschen auf der Straße sind, aus offensichtlichen Gründen, durch die Corona-Krise besonders gefährdet. Obdachlose sind nun auf die allgemeine Solidarität der Zivilbevölkerung und auf schnelle Reaktionen der Politik angewiesen. Geld muss gerechter verteilt, Übernachtungsmöglichkeiten müssen zu fairen Konditionen angeboten werden. Und das selbstbestimmte Leben all jener muss gefördert werden, die auf Hilfe angewiesen sind. Bei „Arts of the Working Class“ tun wir derzeit unser Bestes, um Hilfe zu leisten, erhoffen und erwarten uns aber mehr Solidarität und Hilfestellung von außen, um unsere Arbeit effektiv gestalten zu können. Die kommende Ausgabe wird noch produziert, Verkäufer*innen verkaufen die Zeitungen weiterhin, haben es aber aufgrund des vermehrten Abstands definitiv schwerer. Bis zum Herbst konzentrieren wir uns auf Online-Alternativen, da aufgrund von Einsparungen bei unseren Anzeigenpartnern die Printproduktion ausfällt. Aber wir suchen aktiv nach anderen Fördermöglichkeiten, um die Zeitung aufrecht zu erhalten.

Wie sieht die inhaltliche Ausrichtung Eurer Zeitung aus?

María Inés Plaza Lazo: Die Zeitung ist zu einer Zeit entstanden, in der die Grenzen zwischen Kulturproduktion und Policymaking komplett verwaschen sind. Wir müssen gar nicht groß auf Themensuche gehen, wenn wir eine Überschneidung zwischen Kunst und Politik aufzeigen wollen. Künstler*innen protestieren, gründen Vereine, engagieren sich, weltweit. Auf der anderen Seite gibt es in Ländern wie Deutschland neue politische Strömungen, die gesellschaftlich derart provozieren, dass die Themen im Wortsinn auf der Straße liegen. Ein übergeordnetes Thema ist allerdings sicher die Hinterfragung neokolonialer Strukturen innerhalb westlicher Kulturbetriebe. Denn es gibt nun mal einen Kanon, der durch stark etablierte Hierarchien bestimmt wird. Insgesamt erleben wir, dass Gesellschaft in vielen europäischen Ländern nicht wirklich divers gelebt wird, weil noch immer Unterdrückungs­mechanismen greifen. Als Blattmacher*innen könnten wir relativ leicht gegen die Diskriminierung wettern und einfache Lösungs­vorschläge anbieten. Aber es geht uns vielmehr um eine Einladung an alle, gesellschaftliche Themen mitzudiskutieren.

Alina Ana Kolar: Ein Beitrag aus unserer aktuellen Ausgabe ist beispielsweise von Michele Lanzione, den wir in Los Angeles bei der Konferenz „Worlds of Homelessness“ des Goethe-Instituts kennengelernt haben. Er hat einen wunderbaren Text mit dem Titel „Otherwise Caring from the Underground“ beigesteuert. Darin geht es genau um das Thema, das uns generell umtreibt: dass Partizipation, Teilhabe und Gemeinschaft kein Privileg einer bestimmten Gesellschaftsklasse sind.

Welche Erkenntnisse habt Ihr bei „Worlds of Homelessness“ noch mitgenommen?

Alina Ana Kolar: Uns die Zeit zu nehmen zuzuhören. Die Erkenntnis, dass wir vorgefertigte Sichtweisen und Ideen konstant hinterfragen und neu evaluieren müssen. Ob es dabei um die Vorstellung davon geht, was ein Zuhause ist, oder um das Verständnis davon, was andere wollen oder brauchen. Die Annahme, all dies bereits zu wissen, ist eine kolonial hierarchische Denkweise, die es in unserer Klassengesellschaft dringend zu entwirren gilt. Durch die Begegnungen in Los Angeles haben wir einmal mehr gesehen, dass Community basierte Arbeit eine der schönsten Formen von Solidarität ist. Wir versuchen das bei „Arts of the Working Class“ so umzusetzen, dass wir mit einem diversen, globalen Team aus Autor*innen und Künstler*innen arbeiten und jede Stimme gleich wichtig nehmen. Es gibt bereits viel Nachfrage von Mitstreiter*innen aus unterschiedlichen Weltregionen, die eigene „Arts of the Working Class“-Redaktionen gründen wollen, um ihre lokalen Interessen, Expertisen und Vorstellungen einzubringen und zu publizieren – wodurch wir alle in einen größeren Dialog treten können.

Goethe-Institut Los Angeles / Arts Of The Working Class

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