Mediathek des Festivals „Latitude“
Chaotisch, schmerzhaft und überfällig

„Latitude“ präsentierte drei Tage lang künstlerische Beiträge und Debatten.
„Latitude“ präsentierte drei Tage lang künstlerische Beiträge und Debatten. | Grafik: © EL BOUM

Welche Rolle spielt die Kolonialzeit in der Erinnerungskultur in Namibia, Deutschland oder Indien und wie beeinflusst diese die Gegenwart? Darüber diskutierten Urvashi Butalia, Nelago Shilongoh, Mark Terkessidis und René Aguigah auf dem Festival „Latitude“. Dieser und weitere Beiträge stehen in der Mediathek des digitalen Festivals zur Verfügung.

Von Daniel Welsch

Gleich zu Beginn stellt René Aguigah, der Moderator der Diskussionsrunde „Verdrängtes Erinnern: Identitäts- und Erinnerungspolitik auf dem Prüfstand“, den drei Expert*innen eine – wie er selbst zugibt – unmögliche Aufgabe. Sie sollen die Erinnerungskultur ihrer Heimatländer Indien, Namibia und Deutschland in einem Satz zusammenfassen.

Für die feministische Schriftstellerin und Verlegerin Urvashi Butalia aus Delhi, die 2017 mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wurde, ist vor allem die Auswahl der Ereignisse, die offiziell erinnert und aufgearbeitet werden, interessant: „Geht es etwa um die Zeit der Unabhängigkeit, als sich Indien 1947 von der britischen Kolonialherrschaft befreite und in zwei Staaten aufgeteilt wurde, will unser Staat bis heute nicht an die Gewalt erinnern, die diese Teilung mit sich brachte.“ Für die Autorin des Buches „The Other Side of Silence: Voices from the Partition of India“ über die Teilung Indiens liegt der Grund für diese Erinnerungspolitik auf der Hand: „Die Erinnerung an die Gewalt stört die triumphale Geschichte der Unabhängigkeit.“

Die Theatermacherin und Perfomerin aus Windhoek, Nelago Shilongoh, verwendet in ihrer Antwort einen Ausdruck, der in der folgenden Stunde von allen Expert*innen immer wieder aufgegriffen wird und sich zu einer Leitidee der Diskussion entwickelt. Namibia befände sich zurzeit in „chaotischen Gesprächen“ und diese seien wichtig und längst überfällig: „Es geht in diesen Gesprächen um Gerechtigkeit, es geht um Reparationszahlungen und es geht um Rückführungen“, so Nelago Shilongoh. Das Chaos der Gespräche sei aber kein Nachteil, sondern im Gegenteil entscheidend für den Erfolg, weil es die Legitimität der dominanten Erinnerung in Frage und ihr eine Vielzahl von Stimmen und Geschichten entgegen stelle.

Mark Terkessidis, freier Autor und Migrationsforscher, kennt diese „chaotischen Gespräche“ aus Deutschland und auch er lobt ihre Produktivität. „Die Erinnerungspolitik in Deutschland ist sehr auf Denkmäler fokussiert“, stellt Terkessidis fest, der im letzten Jahr das Buch „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus“ veröffentlicht hat. „Um diese Erinnerungsorte entspinnen sich dann quälende Debatten über Erinnerungspolitik und häufig sind diese Diskussionen zwar quälend, aber wichtiger als die Denkmäler selbst.“ An der Erinnerungspolitik Deutschlands kritisiert er die sehr begrenzte Perspektive, die sich stark auf den Holocaust konzentriere. Das sei aufgrund des unfassbaren Ausmaßes dieses Verbrechens zwar verständlich, doch dabei würden etwa die Verbrechen der Kolonialzeit und damit auch die Verbindungen zwischen Kolonialismus und der Ideologie des nationalsozialistischen Deutschlands ausgeblendet.

Eignen sich Denkmäler überhaupt als Orte der Erinnerung? Und wie geht man damit um, dass etwa in Namibia und Indien viele Bauwerke und Monumente aus der Kolonialzeit das Stadtbild vieler Orte bestimmen und so die Schrecken der Kolonialzeit allgegenwärtig bleiben? Wer bestimmt, welche Ereignisse wie erinnert werden? Und welche Auswirkungen hat dies auf die Gegenwart? Denn auch wenn Erinnern ein Prozess ist, der sich auf die Geschichte bezieht, findet er immer in der Gegenwart statt und prägt diese. Dafür müssen die Gespräche aber nicht nur „chaotisch“ sein, sondern auch schmerzhaft, wie Urvashi Butalia erklärt: „Diese Gespräche sind schwierig, weil man seine eigene Mittäterschaft konfrontieren muss. Man muss verstehen, dass Menschen sich furchtbare Dinge antun und dass einer dieser Menschen vielleicht dein Vater, deine Mutter oder dein Onkel war.“

Die englischsprachige Diskussion „Verdrängtes Erinnern: Identitäts- und Erinnerungspolitik auf dem Prüfstand“ sowie viele weitere Debatten und künstlerische Beiträge stehen in der Mediathek des digitalen Festivals „Latitude“ zur Verfügung.

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