Jahrbuch 2019/2020: Europa
Bewährungsprobe für Europa

Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts
Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts | Foto (Ausschnitt): Martin Ebert

Das Jahrbuch 2019/2020 des Goethe-Instituts widmet sich Europa. In seinem Leitartikel spricht sich Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, – gerade in Zeiten der Corona-Pandemie – für Solidarität und eine kulturelle und gesellschaftliche Vernetzung aus.

Europa ist in der Krise. So heißt es seit fast einem Jahrzehnt: Zunächst war da die europäische Finanzkrise, durch die sich die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden vertieft hat. Dann das Aufkommen nationaler Regierungen und Parteien, die gerne die Segnungen der Europäischen Union in Anspruch nehmen, aber die EU mit populistischen Parolen zum Feindbild machen, wenn es den eigenen nationalen Agenden nutzt. Zuletzt der Brexit, dieses ermüdende und langwierige Ausscheiden eines Mitgliedsstaats, das noch lange nicht vollzogen ist und noch länger nicht überwunden sein wird.

Und jetzt die oberste Stufe der Krisen-Klimax: die Corona-Krise. Die täglichen Bulletins des Robert-Koch-Instituts, hinter denen menschliche Tragödien stecken, werden vielfach gelesen wie ein Medaillenspiegel mit negativen Vorzeichen: Wer hat in seinen nationalen Grenzen richtig reagiert, wer frühzeitig genug, wer hat etwas falsch gemacht? Geschlossene Grenzen, Beschränkungen persönlicher Freiheiten zugunsten individueller Sicherheit, schwierige Diskussionen um Lockerungen. All dies wird auf nationaler Ebene verhandelt und entschieden, weil die Lösungsmechanismen im nationalstaatlichen Gefüge verankert sind: in der jeweiligen Gesundheitspolitik, der Seuchengesetzgebung, der inneren Sicherheit. Die Corona-Krise stärkt das Nationale in Europa.

Erst langsam entfaltet sich die europäische Solidarität: Die EU legt Finanzierungsprogramme in dreistelliger Milliardenhöhe auf, um die von der Corona-Krise gebeutelten Länder zu unterstützen. Die Politik bereitet sich in abgestimmten Aktionen auf eine europaweite Rezession vor. Erneut wird sich die Solidarität zwischen den reicheren und den ärmeren Mitgliedern bewähren müssen. Dies wird uns in den nächsten Jahren in Atem halten. Leicht tritt angesichts solcher Krisen das Positive der EU in den Hintergrund: ein Frieden, der auf diesem Kontinent noch nie so lange gewährt hat, Reise- und Bewegungsfreiheit, demokratische Systeme, ein moderater, aber stabiler Wohlstand, Bildungschancen weit über die eigenen Grenzen hinweg. Auch wenn die Europäische Union Schwächen hat, so sind dies Errungenschaften, die es mit aller Kraft zu verteidigen und zu stärken gilt.

Seit bald 70 Jahren webt das Goethe-Institut deshalb am Netzwerk Europa mit. Denn die europäische Integration und ein europäisches Bürgerbewusstsein voranzubringen und gleichzeitig die kulturelle Vielfalt Europas als Stärke zu begreifen und für die Entwicklung unserer Gesellschaften zu nutzen – das gehört seit vielen Jahren zu unseren Grundmaximen. In Europa existieren 52 Goethe-Institute, auf keinem anderen Kontinent der Welt ist das Netzwerk so dicht. Und diese Knotenpunkte verästeln sich weiter, betreuen Kulturgesellschaften, kooperieren mit Museen, Bibliotheken, Buchmessen und vielen anderen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen in ganz Europa.

Vor dreizehn Jahren hat das Goethe-Institut EUNIC mitbegründet, die Vereinigung der nationalen Kulturinstitute der EU, gleichsam ein Netzwerk der Netzwerke. In Fragen von Kultur und Bildung ist EUNIC ein wichtiger Partner der EU geworden, setzt Projekte insbesondere außerhalb Europas um und trägt zur europäischen Kultur-Diskussion bei. Ebenso wie More Europe, ein weiteres Netzwerk aus Kulturinstituten und unabhängigen Stiftungen, das sich der kulturellen Zusammenarbeit in Europa verschrieben hat. Dabei geht es immer darum, Künstlerinnen und Künstler zu fördern, die Mobilität und den europäischen Zusammenhalt zu stärken, die ökonomische Kraft der Kreativwirtschaft zu nutzen, das europäische Miteinander täglich einzuüben und zivilgesellschaftliche Freiräume zu unterstützen. Denn Kunst, Kultur, Bildung, Zivilgesellschaft – sie alle haben auf ihre jeweils eigene Weise die Fähigkeit, in Netzwerken grenzüberschreitend weiterzudenken, Herausforderungen auf andere Art zu betrachten, neue Zugänge zu Lösungen zu öffnen, kreative Ansätze zu entwickeln und zu erproben.

All dies werden wir mehr denn je benötigen, wenn wir uns der Chance und Herausforderung gegenübersehen, beim Abklingen der Corona-Krise Demokratie, Gesellschaft oder Kommunikation neu zu bewerten und zu gestalten. Da dürfen wir nicht zu viele Fehler machen. Die Grundlage hierfür ist die Fähigkeit, europäisch zusammenzuarbeiten und in der Kooperation zu guten Ergebnissen zu kommen, die – und das ist für Europa wichtig – auf der Basis eines gemeinsamen Gestaltungprozesses von allen mitgetragen werden. Denn Europa ist nicht nur ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Projekt, sondern Europa ist auch ein sehr praxisorientierter Lernprozess, ein dauerndes gemeinsames Einüben.

Die Bewahrung der Qualität der europäischen Filmfestivals ist das Ziel von „Support to EU Film Festivals“
Die Bewahrung der Qualität der europäischen Filmfestivals ist das Ziel von „Support to EU Film Festivals“ | Foto: Delegation of the European Union to Thailand/Korawut Neeparn

Das Goethe-Institut hat dies in den vergangenen Jahren bewusst getan und europäische Kooperation aktiv betrieben, oft gefördert mit Geldern der EU. Mehr als 40 solcher Projekte mit einem Volumen von über 20 Millionen Euro hat das Goethe-Institut mit seinen europäischen Partnern derzeit weltweit in Arbeit. Beispielsweise „Support to EU Film Festivals“, wo wir gemeinsam mit dem Institut français und dem belgischen Filmportal Cineuropa die Professionalisierung europäischer Filmfestivals in Drittländern begleiten. Andere Projekte drehen sich um das Thema Meinungsfreiheit und die Hoheit über Daten: Was schützt die Menschen vor Manipulation durch Fake News, Cybermobbing und Hassrede? Um die Medienkompetenz beispielsweise in Russland zu stärken, hat das Goethe-Institut „The Earth Is Flat – How to Read Media?“ aufgelegt, das Jugendliche für den kritischen Umgang mit digitalen Inhalten und den eigenen Daten in sozialen Netzwerken sensibilisiert.

Oder „Be Mobile – Create Together“, ein Programm des Goethe-Instituts mit grenzüberschreitenden Partnern, das mit grenzüberschreitenden Künstlerresidenzen den langfristigen Austausch zwischen den Ländern stärken soll. Eine andere Initiative, „i-Portunus“, erhöht in Kooperation mit litauischen, ukrainischen und französischen Partnern über Reisestipendien die Mobilität und Vernetzung europäischer Künstlerinnen und Künstler. Eine Art Erasmus-Programm für Kultur.

Diese erprobte europäische Zusammenarbeit wird das Goethe-­Institut in diesem Jahr auch für das Kulturprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nutzen. Es geht hier darum, über alle Länder der Europäischen Union hinweg mit Partnern aus Kultur, Kunst und Zivilgesellschaft über die Zukunft Europas nachzudenken und gemeinsam kommende Herausforderungen zu bewältigen, die sich durch die Corona-Krise noch akzentuiert haben: Wie gestalten wir Europa ökologisch und nachhaltig? Wie nutzen wir die Chancen und begegnen den Herausforderungen der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz? Wie wappnen wir uns mit dem europäischen Gedächtnis und generationenübergreifenden Erzählungen gegen national-populistische Strömungen? Wie erleben wir die Vielfalt unserer europäischen Kultur als geistige und emotionale Kraftquelle? Wie können wir die Freiheit in Europa stärken? „#oekoropa“, „Generation A“, „Erzähle mir von Europa“, „Die verschwindende Wand“, „Europaküche“, „Earth Speakr“ oder „Freiraum“ heißen die dazugehörigen Initiativen, die das Goethe-Institut und viele Partner mit Unterstützung des Auswärtigen Amts planen. In dieser Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen wird eine europäische Öffentlichkeit entstehen, die das gemeinsame Nachdenken, Fühlen und Tun über die Grenzen hinweg sichtbar und spürbar macht.

All dies wird dazu beitragen, europäische Kooperation und Solidarität zu befördern und zu stärken. Denn die kulturelle und gesellschaftliche Vernetzung ist die Grundlage der Zukunft Europas. In der gegenwärtigen Krise ist sie unverzichtbarer denn je. Das Goethe-Institut wird sich leidenschaftlich dafür engagieren.

Den ungekürzten Leitartikel „Bewährungsprobe für Europa“ von Johannes Ebert sowie spannende Einblicke in die weltweiten Projekte des Goethe-Instituts im letzten Jahr finden Sie im Jahrbuch 2019/2020.

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