Manifesta 13 in Marseille
„Die Pandemie ließ mich viel über den Tod nachdenken“
In diesem Herbst findet in Marseille die Manifesta 13 unter schwierigen Bedingungen statt. Das Goethe-Institut Marseille begleitet die Biennale für zeitgenössische Kunst mit Residenzen und Ausstellungsformaten. Im Interview spricht die franko-ägyptische Künstlerin Hoda Tawakol, Teilnehmerin der „Résidences Croisées“, über Hafenstädte und den Einfluss ihrer „drei Mütter“ auf ihre Kunst.
Was zeichnet Marseille aus Ihrer Hamburger Perspektive aus und welche Kontraste erwarten Sie im Vergleich zur deutschen Kunstszene?
Hoda Tawakol: Beide Städte, Hamburg und Marseille, sind Hafenstädte. Sie stehen für mich für Offenheit und kulturellen Austausch. Ferner bilden diese beiden Städte eine Nord-Süd-Achse zwischen Deutschland und Frankreich, den zwei Ländern, in denen ich am längsten gelebt habe und die mir wichtig sind. Diese Achse steht gewissermaßen für meine Verwurzelung im Norden und meine Sehnsucht nach dem Süden.
Ich wohne seit 23 Jahren in Hamburg und liebe diese Stadt. So sehr ich mich mittlerweile in Hamburg zu Hause fühle, vermisse ich die Wärme und das Mittelmeer. Ich empfinde Sehnsucht für Marseille, wenngleich ich diese Stadt nicht kenne.
Mit fünf Jahren zog ich von Deutschland nach Frankreich. Ich lebte hauptsächlich in Paris und war insgesamt 18 Jahre in Frankreich. In all den Jahren habe ich Marseille nicht ein einziges Mal besucht. Ich kenne Marseille nur aus meiner Vorstellung oder aus Erzählungen, zum Teil klischeehaft. Ich stelle mir eine Großstadt vor, die durch ihre Nähe zum Mittelmeer wärmer, sinnlicher und weicher ist als Paris. Und genau weil ich Marseille nicht kenne, war ich sehr angetan von der Idee, mehrere Wochen in Marseille verbringen zu dürfen. Eine neue Stadt und ihre Kunstszene zu entdecken ist ein Geschenk. Ich möchte mich bei allen Beteiligten, die diese Residenz möglich machen, bedanken. Ich bin auf Marseille, seine Künstler*innen, Institutionen, Galerien und Off-Spaces sehr gespannt.
Hoda Tawakol: Die Pandemie hat sowohl mein Zeitgefühl als auch den Inhalt meiner Arbeit beeinflusst. Am Anfang der Pandemie waren da Unsicherheit, Hektik und Frust. Als sich der Lockdown in Deutschland abzeichnete, habe ich mich noch schnell mit Materialien, hauptsächlich Textilien, eingedeckt, um weiter arbeiten zu können. Ich hatte zwei große Textilskulpturen für eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle bis Mitte April zu fertigen. Als es mit dem Lockdown dann losging, wurden alle Projekte, die gerade auf Hochtouren liefen, erstmal eingefroren oder sogar gestrichen. Ich musste drei Wochen pausieren. Ab diesem Moment hat sich die Zeit für mich verlangsamt.
Die Pandemie hat mich auch viel über den Tod nachdenken lassen, ein Thema, worüber ich in den letzten Jahren in Bezug auf die alt-ägyptischen Rituale recherchiert habe. Ich interessierte mich insbesondere für die Mumifizierung und für den Glauben an das ewige Leben. Wegen der Pandemie sind viele Menschen gestorben, die Bilder aus Italien von den LKWs, die Leichen in Kolonne zu den Friedhöfen abfuhren, werden in meinem Gedächtnis eingebrannt bleiben.
Darüber hinaus hat die Pandemie für viele Teile der Gesellschaft massive Existenzängste und bedrohliche finanzielle Engpässe bedeutet. Der tiefste Punkt für mich war Mitte April. Der Antrieb, ohne konkrete Projekte und Aussichten weiter zu arbeiten, schwand. Zu dieser Zeit wurden die Zweifel immer größer. Am gefühlt tiefsten Punkt bekam ich eine Einladung von einem befreundeten Künstler und Verleger aus Beirut, an einem Künstler*innenbuch-Projekt teilzunehmen. Künstler*innen aus der ganzen Welt wurden eingeladen, in Form eines Künstler*innenbuchs über ihre Quarantäne und Isolation zu berichten. Das war für mich wie eine Wiederbelebung. Eine Woche später kam dann die Einladung für die Residenz in Marseille. Das war der zweite Lebensschub für mich. Noch eine Woche später erhielt ich dann die Einladung, an einer Ausstellung in einem Skulpturenpark in Hamburg teilzunehmen.
Hoda Tawakol: Meine persönliche Biographie spielt sicherlich eine große Rolle in meiner künstlerischen Praxis. Ich bin von „drei Müttern“ großgezogen worden: Meiner Großmutter, meiner leiblichen Mutter und meinem Kindermädchen. Mein Vater hat sehr früh keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt. Mein Umfeld war sehr weiblich. Alle drei Frauen hatten üppige Körper. Die Formen, die Fülle und die Opulenz, die mit dem Körperlichen verbunden sind, finden sich in meiner Arbeit wieder. Diese drei Frauen waren aber sehr unterschiedlich in ihrem Wesen, ihren Rollen und ihrer sozialen Eingliederung. Unbewusst habe ich jede beobachtet, studiert und verinnerlicht. Ich denke, dass die unterschiedlichen Facetten des Weiblichen aus meiner Kindheit stammen und in meine Arbeit hineinfließen. Darüber hinaus spielen natürlich auch feministische Theorien in meinem Leben im Allgemeinen und in meiner Arbeit eine wichtige Rolle. Feminismus ist für mich ein Mittel, die Frau von gender-spezifischen Zwängen zu befreien, aber auch ein Mittel, um das Frausein zu zelebrieren. Beide Aspekte sind in meinen Arbeiten präsent.