Kakehashi-Literaturpreis 2020
Fremde Musik zu einem selbst erdachten Thema
Der Kakehashi-Literaturpreis 2020 des Unternehmens Merck und des Goethe-Instituts Tokyo geht an den deutschen Autor Lutz Seiler und den japanischen Übersetzer Jisung Kim für die Übersetzung des Romans „Kruso“. Wie sich im Japanischen der Rhythmus des Werkes ändert und welche neuen Blickwinkel auf die Handlung sich daraus ergeben, erklären die beiden im Interview.
Von Daniel Welsch
Herr Jisung Kim, Voraussetzung für die Förderung durch den Kakehashi-Literaturpreis ist, dass es sich um „ein herausragendes deutschsprachiges Werk“ handelt, das sich „mit einem gesellschaftspolitischen Thema der Gegenwart“ auseinandersetzt. Warum fiel Ihre Wahl auf „Kruso“?
Jisung Kim: Ich habe mich mit meiner Übersetzung des Romans „Kruso“ nicht deswegen um den Kakehashi-Literaturpreis beworben, weil er ein bestimmtes „gesellschaftspolitisches Thema“ behandelt.
Es war eher Zufall, dass es in dem Roman, den ich am liebsten übersetzen wollte, um den (vor-)letzten Sommer der DDR und den Mauerfall geht. Genauer gesagt: Es war nur ein Zufall, dass der Preis, um den ich mich bewerben wollte, eine solche Bedingung stellte, und natürlich war es auch Zufall, dass das Jahr, in dem der Wettbewerb ausgeschrieben wurde, auf das 30. Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung fiel. Ich wollte einfach diesen Roman Zeile für Zeile ins Japanische übertragen, weil er nicht nur für die deutschen Leserinnen und Leser sowie Rezensentinnen und Rezensenten, sondern auch für mich selbst ein „herausragendes deutschsprachiges Werk“ darstellt.
Wie weit sind Sie mit der Übersetzung des Romans?
Jisung Kim: Zum Zeitpunkt der Bewerbung hatte ich schon etwa ein Drittel übersetzt. Aber dann kam es mir so vor, als ob irgendetwas an meiner Übersetzung nicht stimmte, und jetzt schreibe ich von Anfang an alles wieder um. Was mir währenddessen den Kopf zerbrach, war zunächst eine erzähltheoretische Frage: Wo steht eigentlich der Erzähler in seinem Text? Anders als die meisten Erzähltexte, die Lutz Seiler bisher veröffentlicht hat, tritt der Protagonist von „Kruso“, Edgar Bendler, in der dritten Person auf, abgesehen von dem Epilog, den er angeblich selbst geschrieben hat. Andererseits haben wir es in diesem Roman auch nicht mit einem auktorialen Erzähler zu tun, da das Erzählen immer nur auf die Wahrnehmungen und Gedanken des Protagonisten fokussiert wird. Natürlich ist eine solche Erzählsituation spätestens seit Kafka nicht mehr so unüblich, und in der Tat erinnern die ersten Sätze von „Kruso“ an den Beginn von „Das Schloss“, auch wenn es einen wesentlichen Unterschied gibt, nämlich dass Edgar „aufgebrochen“ ist, während K. im Dorf „ankam“.
Herr Seiler, „Kruso“ wurde bereits in 25 Sprachen übersetzt. Worin besteht Ihrer Meinung nach die größte Schwierigkeit bei der Übertragung dieses Buchs in eine andere Sprache?
Lutz Seiler: 2015 kamen etwa zwanzig der „Kruso“-Übersetzerinnen und Übersetzer aus aller Welt für eine Woche ins Internationale Übersetzerzentrum nach Straelen, wo wir gemeinsam an der Übertragung des Romans gearbeitet haben – das heißt, wir sind dieses Buch, das über 500 Seiten hat, vom ersten bis zum letzten Satz durchgegangen.
Das war eine sehr intensive Zeit, wir haben jeden Tag mindestens zwölf Stunden gearbeitet. Meine Aufgabe war, alle Fragen zum Text zu beantworten. Dabei zeigte es sich, dass die Fragen teilweise sehr ähnlich waren, insbesondere wenn es um sprachliche Eigenheiten und historische Konkreta ging, andererseits gab es immer wieder Passagen, die sich in der jeweils anderen Sprache nicht eins zu eins ausdrücken ließen und eine Variante gefunden werden musste, die dem Inhalt beziehungsweise der Bedeutung des Originals möglichst nahe kam, etwas, das adäquat funktionieren konnte.
Besonders schwierig ist das in den mehr poetischen Passagen oder dort, wo Wortspiele und Mehrdeutigkeiten eine Rolle spielen. Am Ende der Woche erklärte uns die chinesische Übersetzerin, dass die Probleme all der anderen nichts wären im Vergleich zu ihren Problemen – da es die Zeitformen, wie wir sie kennen, im Chinesischen nicht gäbe. Jede Situation muss also extra eingeführt werden: Wo ist man gerade und von welcher Zeit geht die Rede und so weiter. Die chinesische Ausgabe von „Kruso“ ist eine der schönsten geworden – vielleicht die schönste neben der schwedischen Ausgabe. Übrigens wurde die ganze Woche protokolliert, alle Fragen, alle Antworten – ein Material, das als Hilfestellung und Handreichung für weitere Übersetzungen funktionieren soll – auch die Übertragung ins Japanische wird davon profitieren.
Sie sind Lyriker und legen großen Wert auf Klang und Rhythmus der Sprache. Wie fühlt es sich an, wenn „Kruso“ in einer anderen Sprache anders klingt?
Lutz Seiler: Es ist faszinierend, den eigenen Text in einer anderen Sprache zu hören. Das ist wie fremde Musik zu einem Thema, das man sich selbst ausgedacht hat, eine Art Neuaufführung des Textes mit anderen Mitteln. Meist habe ich das Gefühl, dass der Text in der anderen Sprache viel besser ist als im deutschen Original.
Herr Jisung Kim, der Roman spielt im Jahr 1989, Sie wurden 1987 geboren. Welches Verhältnis haben Sie zu den historischen Ereignissen?
Jisung Kim: Natürlich konnte das zweijährige Kind aus Osaka, das ich damals war, weder als Augen- noch als Ohrenzeuge die historische Wende in Deutschland miterleben. Ich bin auch nicht mehr sicher, wie und wann ich zum ersten Mal Kenntnis davon erhalten habe, dass es früher zwei deutsche Staaten gab – vielleicht in einer Geschichtsstunde an der High-School oder durch eine Fernsehwerbung von Nissin Foods, welche eine Fotomontage zeigte, in der ein bekannter japanischer Schauspieler auf der gefallenen Berliner Mauer eine Instantnudelsuppe schlürft. Nach dem Beginn meines Germanistik-Studiums wurde mein Interesse für die ehemalige DDR hauptsächlich durch literarische Werke geweckt, vor allem durch Uwe Johnson und seine fiktionale Person Gesine Cresspahl. Aber noch lange war Deutschland ein Land, in das ich nie gereist war.
Vom Herbst 2014 bis zum Frühling 2016 konnte ich glücklicherweise als DAAD-Stipendiat in Berlin leben. Knapp einen Monat nach meiner Ankunft war mir aufgefallen, dass der preisgekrönte Roman des Jahres „Kruso“ in jeder Buchhandlung zu haben war. Damals habe ich überall – sei es in der U-Bahn, in einem Hipster-Café in Kreuzberg oder in meinem angestammten Waschsalon – Leute beim Lesen dieses Romans gesehen. Mein eigenes Exemplar habe ich mir beim Besuch einer Lesung des Autors in der Buchhandlung Braun & Hassenpflug gekauft. Auf dem Titelblatt des Buches, das mir jetzt für meine Übersetzung dient, befindet sich ein Autogramm von Lutz Seiler mit dem Datum „20.10.14“.
Über „Kruso“ haben Sie, Herr Seiler, gesagt, es sei ein Roman über die Zeit des Mauerfalls, „in dem der Mauerfall praktisch nicht vorkommt". Glauben Sie, dass der Roman in Japan dennoch wie in Deutschland als Wenderoman rezipiert wird?
Lutz Seiler: Ich hatte schon bei „Kruso“ und jetzt auch bei „Stern 111“ ab und zu versucht, darauf hinzuweisen, dass mir dieser Begriff Wenderoman nicht treffend erscheint. Friedrich Christian Delius hat den Begriff neulich zu Recht als falsch und verlogen bezeichnet. Falls ich unter Androhung schwerer Strafen gezwungen wäre, ein Etikett zu benutzen, würde ich sagen, dass „Kruso“ und „Stern 111“ zwei Abenteuerromane sind, im romantischen Sinne – dem „Ofterdingen“ von Novalis oder „Goldrausch“ von Jack London verwandt. Und dann könnte man länger darüber reden, was das für jedes Buch im Einzelnen bedeutet. Und ja, vielleicht gibt es eine Chance, dass das Buch in einem japanischen Kontext mehr vom Geschehen innerhalb des Buches her rezipiert wird – bei „Kruso“ wäre das aus meiner Sicht die Geschichte einer zärtlichen, schwierigen Männerfreundschaft.