Debatten über Antisemitismus
Kulturarbeit muss unabhängig bleiben!

Carola Lentz
© Goethe-Institut/Loredana La Rocca

Gerade in schwierigen politischen Zeiten dürfen Organisationen wie das Goethe-Institut nicht zum verlängerten Arm der Regierung werden. Wenn Gesinnungsprüfungen und moralischer Imperialismus regieren, lassen sich Krisen nicht bewältigen.

Von Carola Lentz

Ich kann mich gut an Zeiten erinnern, in denen die gesellschaftliche Relevanz von Kultur geradezu beschworen werden musste, zu diffus und sekundär erschien ihre Rolle. Das hat sich gründlich verändert. Wir stolpern von einer weltpolitischen Krise in die nächste. Die intellektuelle Verarbeitung der komplexen Zusammenhänge ist oft nicht mehr auf Augenhöhe der Ereignisse zu leisten. Doch gerade die Kulturarbeit hat vor dem Hintergrund des Kriegs im Nahen Osten eine fast erschreckende Bedeutung bekommen.

Das zeigt sich auch in einem zunehmend intoleranten Debattenklima, das auf der Straße, in den Feuilletons und vor allem in den sozialen Medien zu spüren ist. Und es bleibt nicht bei Debatten.

Der Druck nimmt zu – von allen Seiten

Antisemitische Übergriffe nehmen deutlich zu, und wenn sich in propalästinensische Kundgebungen Pro-Hamas-Rufe mischen, ist das nicht akzeptabel. Schwer erträglich ist aber auch, dass rechte Populisten Antisemitismus nun vor allem Migranten zuschreiben und gegen Einwanderung und generell gegen Muslime agitieren.

Eine der Folgen dieser polarisierenden Debatten: Der Druck auf Kulturinstitutionen hierzulande nimmt zu, und zwar von allen Seiten. Man kann einen regelrechten Kulturkampf beobachten.

In dichter Folge werden Veranstaltungen abgesagt, Preisverleihungen vertagt oder zurückgezogen und Boykottaufrufe gegen kritisierte Kulturmacher lanciert. Manche Intellektuelle wie die amerikanische Philosophin Susan Neiman sprechen gar von einem »neuen McCarthyismus« in der Kulturwelt. Das lässt einige Fragen aufkommen: Wird die viel zitierte »Staatsräson« mit Bezug auf das Existenzrecht Israels über die Kunstfreiheit gestellt? Wird Empathie mit den Opfern der Hamas-Morde automatisch assoziiert mit Unterstützung der israelischen Politik? Werden Opfer gegen Opfer ausgespielt?

Mitglieder des Bundestages erarbeiten derzeit einen Entschließungsantrag »Historische Verantwortung wahrnehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen«, der womöglich die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) für alle Institutionen verbindlich machen würde, die mit öffentlichen Mitteln arbeiten. Die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt hat eine entsprechende Antidiskriminierungsklausel und Festlegung auf die IHRA-Definition für alle finanziellen Zuwendungen für Kulturarbeit bereits verpflichtend gemacht.

In dieselbe Richtung gehen der jüngste Beschluss der Kultusministerkonferenz zu Maßnahmen gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit und das Bekenntnis des Deutschen Kulturrats zur IHRA-Definition. Doch diese Definition ist bei vielen – auch jüdischen – Wissenschaftlern umstritten, vor allem, weil sie zu vage ist, nie für eine juristische Anwendung gedacht war und zu wenig unterscheidet zwischen Antisemitismus und Kritik am Staat Israel. Der Protest gegen solche Einengungen der Meinungs- und Kunstfreiheit wächst.

Kulturarbeit wird zur Arena

Generell, so nehme ich es wahr, wird es schwieriger, im öffentlichen Raum auf Nuancierungen zu bestehen und historische Komplexitäten zu thematisieren. Dabei scheint die Kulturarbeit zu der wichtigsten Arena zu werden, in der Politiker und Geldgeberinnen, Journalisten und gesellschaftliche Akteure eindeutige moralische Positionierungen erwarten. Und dies obwohl (oder sogar: weil?) auf anderen Feldern wie der Energieversorgung und Wirtschaftszusammenarbeit die Kooperation Deutschlands mit autoritären Regimen keineswegs geächtet wird – auch nicht mit Regimen, die Israel nicht anerkennen.

Eine werteorientierte Außenpolitik scheint jedenfalls besonders intensiv auf dem Feld der Kulturarbeit eingefordert zu werden – auf einer symbolischen Ebene, wo es nicht unmittelbar um wirtschaftliche oder politische Interessen geht.

Letztlich bedroht dieser moralische Rigorismus die Internationalität der Kulturarbeit in Deutschland – und die Arbeit von weltweit arbeitenden deutschen Organisationen wie dem Goethe-Institut. Lang ährige Partner in der internationalen Kulturwelt verlieren das Vertrauen in die Liberalität der Demokratie in Deutschland. Dass die Findungskommission für die kommende Documenta kollektiv zurückgetreten ist und offen gefragt wird, ob man in Deutschland überhaupt noch eine solche weltoffene Ausstellung organisieren kann, ist beunruhigend.

In dieser polarisierten Situation scheint es mir wichtig, grundsätzlich über die Rolle von Kulturarbeit und Kulturaustausch im politischen Raum nachzudenken. Sind Kultur und künstlerische Produktion vor dem Hintergrund weltweiter Krisen nicht immer politisch? Könnte Kunst sich überhaupt entziehen? Beugen sich Künstler und Kulturinstitutionen vorschnell diesem politischen Druck?

Für Kulturarbeit im Inland jedenfalls kann die gesellschaftliche und politische Relevanz von Kunst, etwa im Sinne von »Demokratieförderung«, nicht erzwungen werden, denn es gelten die Grundrechte der Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Zumindest ist zu hoffen, dass daran auch die Antidiskriminierungsklausel der Berliner Senatsverwaltung nicht grundlegend rütteln will, auch wenn ihre Formulierung »Kunst ist frei! Aber nicht regellos« allzu interpretationsoffen erscheint. Man fragt sich nämlich, wer die Regeln setzt.

Politiker wollen Eindeutigkeit und Kontrolle

Wie stellt sich das auf dem Feld der internationalen Kulturarbeit dar, der sogenannten Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (AKBP)? Wie stark mischen sich dort die deutschen Regierungsinstitutionen und von ihnen finanzierte Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut in die Arbeit der geförderten Kulturschaffenden und Intellektuellen ein?

Sollte die AKBP nur Personen oder Gruppen unterstützen, die den politisch-moralischen Agenden der jeweiligen Regierung Rechnung tragen?

Solche Erwartungen scheinen im öffentlichen Raum durchaus zu kursieren. Doch wird damit der Kulturarbeit nicht eine zu große gesellschaftliche Verantwortung aufgebürdet? Liegt in dieser Erwartungshaltung nicht auch die Gefahr der politischen Indienstnahme oder gar Instrumentalisierung?

Jedenfalls lässt sich beobachten, dass Politiker und Ministerialbürokratien auf die Multiplizierung von Krisen mit dem Bedürfnis nach mehr Kontrolle und Steuerung gegenüber unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen reagieren. Das gilt übrigens nicht nur für die Kultur, sondern auch für die Wissenschaft und andere Felder. Man will Eindeutigkeit und erträgt nur schlecht die Mehrdeutigkeit und Ambiguität, die Kunst und Wissenschaft eigen ist.

Krisensituationen produzieren ein Klima des generalisierten Verdachts, was den Wunsch nach bürokratischer Reglementierung provoziert. »Fehler« sollen vermieden und Krisen nicht noch weiter verkompliziert werden, etwa durch unvorsichtiges Handeln eigenständiger gesellschaftlicher Akteure. Außerdem sieht man sich angesichts begrenzter Mittel im Rechtfertigungszwang; diese sollen nicht für kritisierte Aktionen oder Programme verschwendet werden.

Doch intensive Kontrolle und moralisch-politische Indienstnahme erdrücken die Kulturarbeit. Zugleich werden die manchmal anarchische Kraft von Kunst und ihr kreatives Potenzial unterschätzt. Ästhetik hat auch eine spielerische Dimension, und es braucht »staatsfreie« Denk- und Spielräume, die auf ganz unerwartete Weise zum gesellschaftlichen Miteinander und zur internationalen Verständigung beitragen können.

Gerade der internationale Kulturaustausch ist in unserer Zeit multipler Krisen so wichtig, um Räume offenzuhalten für gemeinsames Nachdenken, für Nuancierungen und vor allem für produktive Perspektivwechsel. Wir brauchen mehr denn je vertrauensvolle Netzwerke zwischen den Gesellschaften. Ein solcher Kulturaustausch hat drei Voraussetzungen, ohne die es schwer wird, der beschriebenen erstickenden Dynamik der Gesinnungsprüfungen zu entkommen.

Erstens müssen Kultur- und Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut unabhängig bleiben und dürfen weder als verlängerter Arm der Regierung behandelt noch so wahrgenommen werden. Ihren Beitrag zum Ansehen Deutschlands und zur Vertrauensbildung in der Welt können sie nur so leisten. Sie müssen ihren eigenen Weg finden dürfen, um auf die Zeitenwende mit strategischen Entscheidungen zu reagieren.

Zweitens gilt es, diesen Kulturaustausch nicht einseitig von Deutschland aus zu konzipieren, sondern an den weltweit unterschiedlichen regionalen und lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen zu orientieren. Organisationen wie das Goethe- Institut, der DAAD oder politische Stiftungen werden sich sicher überall als kritischer Gesprächspartner einbringen und die notwendigen roten Linien ziehen. Aber nirgends braucht es moralischen Imperialismus oder auch nur Paternalismus.

Darum wird gelingende Kulturarbeit an verschiedenen Standorten unterschiedlich aussehen.
Und drittens: Produktiver internationaler Kulturaustausch braucht Handlungsspielräume und Risikobereitschaft. Nur mit Offenheit für unerwartete Ergebnisse und Toleranz gegenüber Fehlern gelingen Innovation und Kreativität. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Kulturinstitutionen, Medien und Kulturpolitik, auch in Zeiten der Unsicherheit Denkräume offenzuhalten, Perspektivwechsel zu ermutigen und kreatives Potenzial zu ermöglichen.

Erschien zuerst in Der Spiegel.

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