Philosophie-Reihe
„Kultur ist in Wahrheit ein Fluss aus Sand“
Eine Reisegruppe zieht durch die australische Wüste. Zusammen mit dem Philosophie-Magazin hat das Goethe-Institut Sydney vier deutsche Philosophen und Geisteswissenschaftlerinnen im September für zehn Tage nach Australien eingeladen. Sie beschäftigten sich mit der menschlichen Identität in einer Welt zunehmender Entfremdung, auch von der Natur.
„Vielleicht ist die Kultur in Wahrheit ein Fluss aus Sand, so wie der River Todd im australischen Alice Springs. An der Oberfläche sieht man die trockenen Dünen, die das längst abgelaufene Hochwasser geformt hat – in der Tiefe aber rinnt unsichtbar frisches Wasser.“ Das ist einer der Einblicke, die der Philosoph und Chefredakteur des in Berlin erscheinenden Philosophie-Magazins, Wolfram Eilenberger, von einer zehntägigen Reise durch Australien mit nach Hause nimmt.
Die vier Intellektuellen, die nach der fast dreißig Stunden dauernden Flugreise schließlich in der trockenen Luft der australischen Halbwüste aufatmeten, formulieren durch die Bank ihre Thesen nicht aus den jeweiligen Hauptströmen ihrer Fächer, sondern bieten diesen aus der Peripherie heraus neue Lesarten an. Diese scheinbare Verstelltheit – das Unerwartete, das Verdrängte und auch einmal schwer zu Bewältigende, sollte sich auf der ganzen Fahrt als Schlüsselthema erweisen.
Brennpunkte der Gegenwart aufspüren
Mit Eilenberger unterwegs und begleitet vom Team des Goethe-Instituts Sydney, Sonja Griegoschweski und Jochen Gutsch, war die Berliner Kunsthistorikerin Charlotte Klonk. Deren letztes Buch befasst sich damit, wie Bilder gegenwärtig als Terrorinstrumente eingesetzt werden. Damit versteht sie die Kunst als politisches Mittel. Fritz Breithaupt lehrt derzeit in Bloomington im US-Bundesstaat Indiana. Der gelernte Germanist hat gerade einen Bestseller über die „Dunklen Seiten der Empathie“ geschrieben und bildet heute auch Studenten der Kognitionsforschung aus. Der Berliner Andreas Weber, von Haus aus Meeresbiologe, entwirft eine neue Philosophie des Lebens als schöpferischen und ausdrucksvollen Prozess.Die Tour war der erste offiziell geförderte Austausch zwischen deutschen und australischen Philosophen. Es ging dabei nicht nur um ein unverbindliches Beschnuppern: Das Ziel war für die Goethe-Leiterin Sonja Griegoschweski von Anfang an, gemeinsame Kraftfelder aufzuspüren, in denen sich sowohl in Deutschland als auch in Australien die Brennpunkte der Gegenwart artikulieren. „Auf dieser ersten Reise sollen Kontakte geknüpft werden, die später zu bleibenden Verbindungen führen“, erklärt Griegoschweski. Sie hofft auf ein System regelmäßiger Gastforscheraufenthalte in Australien.
Diskussion um Verantwortung und Menschsein
Der Titel „Verantwortung und Menschsein – Natur, Kultur und Terror“ umreißt die Grundfragen, die auf jedem der drei Podien in Alice Springs, Sydney und Melbourne im Zentrum standen: Was ist humane Identität in einer Welt zunehmender Zersplitterung und zunehmender Entfremdung, gerade auch von der Natur? Das sind Fragen, die in der deutschen philosophischen Tradition in der Romantik zum ersten Mal in dieser Breite gestellt wurden, dann aber in der Geschichte der Philosophie hinter der Beschäftigung mit Sprache und Diskurs oft zurückfielen – obwohl sie für das menschliche Leben auf der Erde von zentraler Relevanz sind.In den Publikumsgesprächen mit australischen Intellektuellen wie dem Ethiker Simon Longstaff, dem Justizhistoriker Desmond Manderson, dem Musiker und Leiter des Desert-Parks Alice Springs, Paul Ah Chee Ngala, der dem Aborigine-Volk der Arrernte entstammt, wurde immer wieder klar, dass sich die Deutschen vom australischen Kontinent inspirieren lassen können. Auf der Reise schien es ihnen manchmal, als mussten sie erst 14.000 Kilometer um die Erde fliegen, um die eigenen Fragestellungen klar zu sehen.
Das geschah nicht allein aufgrund einer florierenden philosophischen Debatte und der Teilnahme an einer lebhaften Metropolenkultur in Sydney und Melbourne, sondern gerade durch Probleme, die auch auf dem Riesenkontinent der Südhalbkugel ungelöst sind. Dazu gehörte für alle augenfällig die Situation der „traditionellen Hüter des Landes“, wie die Aborigines hier genannt werden.
Das wurde deutlich, weil der Trip der Philosophen in der Wüste begann – und sich damit dem Phänomen Australien vielleicht von der fruchtbarsten Seite angenähert hat. Viele Nachfahren der Ureinwohner leben prekär und marginalisiert in abgelegenen Communities im Outback. Aber gerade deren Kultur könnte die Frage nach der menschlichen Identität im Miteinander der Verschiedenheiten unter den Menschen und im Verhältnis zu allem, was lebt, beantworten helfen.
Natur und Mensch können eins sein
Die 80.000 Jahre alte Zivilisation hat eine Spaltung nie vorgenommen, an der sich der Westen bis heute abarbeitet: Mensch und Natur waren in Australien immer verschwistert und verwandt. Felsen haben bis heute eine eigene Seele und verkörpern humane Identität. „An vielen Stellen wird hier das Land immer noch von den Ureinwohnern rituell ins Leben gesungen“, sagt die Ökophilosophin Freya Mathews aus Melbourne.Wer also das Verhältnis des Menschen zur Welt und vor allem zur Natur neu beleuchten will, und damit an die fruchtbarste Triebkraft des deutschen Denkens anzuknüpfen versucht, könnte von einer Reise in die Wüste am anderen Ende der Welt profitieren. Unter dem Fluss aus Sand, der sich durch Alice Springs schlängelt, ist diese Seele noch nicht verloren.