Harun Farocki Residenz
Kreativer Zwischenstopp: Aus dem Alltag einer Residenz

Shirin Barghnavard im Archivraum des Harun Farocki Instituts in Berlin
Shirin Barghnavard im Archivraum des Harun Farocki Instituts in Berlin | Foto: M.Reza Jahanpanah

Von Teheran nach Berlin: Das Goethe-Institut fördert die Residenz von Shirin Barghnavard am Harun Farocki Institut in Berlin. Die iranische Künstlerin arbeitete dort drei Monate an ihrem neuen Film.

Ohne Tageslicht, im Keller und in Gesellschaft von gut 50.000 Kilogramm Film. Das ist das Umfeld, in dem Shirin Barghnavard seit vorigem Oktober arbeitet. Nicht täglich, aber immer mal wieder. Noch bis Ende Januar ist die iranische Filmemacherin in Berlin und absolviert dort eine dreimonatige Residenz am Harun Farocki Institut, in dessen Keller die Filme des 2014 verstorbenen Filmkünstlers Harun Farocki lagern. „Seinen Archivraum zu besuchen war eine der schönsten Erfahrungen, die ich während meiner Residenz gemacht habe“, sagt die gebürtige Teheranerin. Im Keller des Instituts im Berliner Stadtteil Wedding stapeln sich unzählige Rollen Filmmaterial aus vergangenen Jahrzehnten analoger Filmproduktion: Super-8, 16-mm- und 35-mm-Negativrollen, S-VHS und Mini-DV-Bänder. Zu Beginn ihrer Karriere habe sie selber Kurzfilme mit Super-8 und 16-mm-Negativen gedreht.

Gemeinsam mit dem Goethe-Institut bietet das im Kulturquartier silent green angesiedelte Institut ausgewählten Kandidaten einmal jährlich die Möglichkeit, im Rahmen eines Stipendiums in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Ein kreativer Zwischenstopp sozusagen. Für Shirin Barghnavard heißt das: Zeit für Interviews zu haben, für Dreharbeiten, Treffen mit Filmemachern und für Recherchen im Filmarchiv. „Das ist eine einmalige Gelegenheit, an meinem neuen Filmprojekt zu arbeiten“, betont die Dokumentarfilmerin.

Shirin Barghnavard am Set ihres Dokumentarfilms „Poets of Life“
Shirin Barghnavard am Set ihres Dokumentarfilms „Poets of Life“ | Foto: Abbas Kowsar

Thema Nationalität

Das Thema ihres neuen Films dreht sich um den Komplex Nationalität, mit dem sie sich schon seit Jahren auseinandersetzt. Genährt aus eigener Erfahrung - sechs Jahre lang hat sie in Perth in Australien gelebt, aus Diskussionen zum Thema Migration, aus aktuellen filmischen Produktionen und politischen Entwicklungen in Europa sei das Thema sozusagen auf sie zugekommen. „Dabei ist mir wichtig, das Thema Nationalität nicht mit dem Thema Flucht und Asyl zu mixen.“ Bis Weihnachten hatte sie allein 25 Audio-Interviews mit verschiedenen Leuten in Berlin aufgenommen, mit unterschiedlicher Herkunft und sehr unterschiedlichen Ansätzen.

Wochen in Berlin, die voll sind mit Treffen und Interviews, Kultur- und Erfahrungsaustausch und Teilnahme an Veranstaltungen: „Mit das Beste, was mir passierte, war meine Rede an der Filmuniversität in Potsdam.“ Sie habe dort ihren jüngsten Dokumentarfilm Poets of Life gezeigt und danach zwei Stunden mit den Studierenden über Unterschiede zwischen Regie und Montage eines Dokumentar- und Spielfilms diskutiert, ihr erster Vortrag in einer Universität außerhalb des Irans. „Ich sprach außerdem über iranisches Kino und die aktuelle Situation von Filmemacherinnen im Iran.“

Respekt für Harun Farocki

Im silent green, einem ehemaligen Krematorium, soll Neues entstehen, und genau das sieht die ausgezeichnete Filmerin auch als Kern ihres Aufenthalts. „So kann ich meinen nächsten kurzen oder mittellangen Dokumentarfilm vorbereiten“. Zwar sei es nicht leicht gewesen, sich aus ihrem Arbeitsalltag in Iran herauszulösen, betont sie. Bis kurz vor ihrem Abflug nach Berlin hat sie noch an einem Film der iranischen Filmemacherin Rakhshan Bani-Etemad geschnitten. Nun schöpft sie den Freiraum in Berlin aus, um fernab der Heimat in ihr neues Filmprojekt eintauchen zu können, inspiriert von einem unbekannten Umfeld. Sie hat eine kleine Wohnung in Kreuzberg, arbeitet entweder dort oder im Harun Farocki Institut, genießt die internationale Atmosphäre in der Spreestadt mit dem täglich wechselnden Kulturangebot.  

Was sich verändert hat seit ihrer Ankunft im Oktober? „Ich habe nun noch mehr Respekt für Harun Farocki und seine Werke. Er zeigt mir, dass ich den Weg gehen sollte, an den ich glaube.“ Ungeachtet dessen, was Kunst und Kino im Mainstream fordere. „Im Iran kannte ich Harun hauptsächlich wegen seines Dokumentarfilms Videogramme einer Revolution, und ich kannte seine essayistischen Filme und Videoinstallationen.“ In Berlin fast alle Filme von ihm sehen zu können, habe ihr eine direktere Verbindung zu Farockis Überlegungen und Überzeugungen ermöglicht.  Und: „Die Residenz hat mir auch Gelegenheit geboten, seine engen Freunde und die Familie Farockis zu treffen. Das ist natürlich sehr inspirierend für mich!“

 

What I learned at the Residency 

In seinem Video-Essay berichtet Kevin B. Lee über seine Erfahrungen in der Harun Farocki Residenz.
 
Der amerikanische Filmkritiker und Video-Essayist Kevin B. Lee hat mit seinen Videos zum Boom der visuellen Filmkritik beigetragen - die New York Times bezeichnete ihn als “King of Video Essays”. Von Januar bis März 2017 war er der erste Stipendiat der Harun Farocki Residency in Berlin, einer Kooperation des Harun Farocki Instituts mit dem Goethe-Institut. Zum Wintersemester 2017/18 übernahm er die Professur für den neuen Studienschwerpunkt "Crossmedia Publishing" an der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien in Stuttgart. 
 

Top