Ausstellung: „Shoa. Eine geographische Leidenschaft“
Geschichte wird gemacht
Acht junge äthiopische Künstlerinnen und Wissenschaftler begeben sich auf eine Expedition in das Shoa-Gebiet, um dem eurozentrisch geprägten Bild von Äthiopien eine eigene, zeitgenössische Perspektive gegenüberzustellen. Die Ergebnisse werden in einer Ausstellung präsentiert, mit der sich das Goethe-Institut und die Alliance Ethio-Française dem gemeinsamen europäisch-äthiopischen kulturellen Erbe widmen.
Perspektivenwechsel
Äthiopien, einst als Abessinien bekannt, zog gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche europäische Reisende und Entdecker an. Während dieser Expeditionen entstanden Karten, Beschreibungen und Fotografien der Region – Dokumente, die nahezu die einzigen historischen Aufzeichnungen aus dieser Zeit und daher für die äthiopische Geschichtsschreibung extrem wichtig sind. Es bleibt aber eine Tatsache, dass diese Dokumente bis heute vor allem in Europa zu finden sind und zudem aus europäischer Perspektive erstellt wurden.In dem Projekt „Shoa. Eine geographische Leidenschaft“ hat sich jetzt eine Gruppe äthiopischer Künstlerinnen, Fotografen, Historikerinnen, Geologinnen und Anthropologen dieser Zeugnisse der Vergangenheit angenommen und sie mit ihren eigenen Eindrücken aus der Region Shoa verknüpft. Die Idee: Die jungen Künstler und Wissenschaftlerinnen erhalten Zugang zu den verschiedenen Materialien der damaligen Expeditionen und reisen anschließend selbst in die Region, um ihre eigenen Zeichnungen, Fotografien und Berichte zu gestalten. So ist eine Ausstellung entstanden, die sich der Region im Hochland Äthiopiens und ihrer Geschichte aus einer zeitgenössischen, interdisziplinären und vor allem äthiopischen Perspektive nähert.
Verbindung von Kunst und Wissenschaft
Der französische Filmemacher, Fotograf und Kurator Hugues Fontaine hat das Projekt gemeinsam mit Mifta Zeleke, Kurator des Guramayne Art Center in Addis Abeba, betreut. Fontaine arbeitet seit vielen Jahren zur Geschichte der Fotografie am Horn von Afrika mit einem Schwerpunkt auf dem Ende des 19. Jahrhunderts, als sich unter König Menelik das damalige Abessinien zu einem modernen Nationalstaat wandelte. Für ihn war besonders die Verbindung von Kunst und Wissenschaft ein wichtiger Aspekt des Projekts: „In der Gruppe herrschte ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl. Trotz verschiedener Perspektiven sprachen die Teilnehmer die gleiche Sprache und bauten Brücken zwischen ihren Disziplinen.“Das geschah zunächst in einem fünftägigen Workshop im Juni, in dem sich die Gruppe den historischen Dokumenten widmete, wissenschaftliche Vorträge hörte und über die Region Shoa, über die Geschichtsschreibung und über den Umgang mit Kartenmaterial diskutierte. Im Oktober reisten die Kuratoren dann mit den fünf Künstlerinnen und den drei Wissenschaftlern – allesamt jünger als 30 Jahre – in die Region Shoa. Die Reise brachte sie vom Menangesha Wald nach Holeta, Addis Alem, Entoto und schließlich für fünf Tage in die historische Stadt Ankober. Für die eigenen Kreationen gab es keine konkreten Vorgaben, vielmehr waren die Kuratoren neugierig darauf, was aus dem Rohmaterial entstehen würde. „Wir übernehmen die kuratorische Arbeit, aber alles andere liegt in den Händen der Teilnehmenden. Es ist wie bei klassischer Musik: Der Dirigent achtet darauf, dass alle zusammenspielen, aber es ist das Orchester, das die Musik macht“, erklärt Fontaine.
Geschichte – aus einer aktuellen Perspektive
Abel Assefa, Historiker und Archäologe an der Addis Abeba Universität, beschäftigte sich im Rahmen des Projekts insbesondere mit der Rolle der historischen Reiseberichte und Fotografien für den Erhalt kulturellen Erbes: „Wegen meiner Arbeit habe ich die Reiseberichte der Europäer gelesen und die historischen Orte mehrfach besucht, daher kenne ich die Region Shoa sehr gut. Das Projekt war eine tolle Möglichkeit, die Geschichte aus einer aktuellen Perspektive darzustellen.“ Für ihn wurden dabei gerade die Gegensätze zwischen den historischen Berichten und den eigenen Eindrücken während der Reise offensichtlich. Diesen Gegensatz hat auch die Fotografin Maheder Haileselassie gespürt: „Nach meiner Reise nach Ankober konnte Shoa in meiner Wahrnehmung nicht länger in greifbarer Form existieren. Ich sehe es nicht in der Stadt oder in der Landschaft. Es ist vielmehr Auseinandersetzung, Nostalgie – vage und tiefgreifend, irgendwie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart verflochten“.Das Ergebnis des Projekts sei keine klassische Ausstellung, so Hugues Fontaine, sondern vielmehr ein „visuelles Happening“, das die Besucherinnen und Besucher staunen lässt. Für die nahe Zukunft wünscht sich Abel Assefa, dass das Projekt auch an den Orten, die es betrifft, ausgestellt wird: „Wir sollten diese Dokumente den Communities zugänglich machen.“