Anlässlich des vom Théâtre de la Ville in Paris gezeigten Stücks „Retour à Reims“ treffen sich Thomas Ostermeier und Didier Eribon zu einem Podiumsgespräch im Goethe-Institut. Der Regisseur und der Soziologe sind sich einig: Die Existenz gesellschaftlicher Klassen ist aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden, doch das Thema ist virulenter denn je.
Von Laura Hosch
Die Veranstaltung war schon Tage vorher ausgebucht. Das Publikum ist gemischt: Viele theater- und literaturbegeisterte Pariserinnen und Pariser, Studierende und Neugierige, die sich in der Hoffnung auf freigebliebene Plätze noch kurz vor Beginn anstellen. Thomas Ostermeier ist ein bekannter Name in Frankreich. Das Buch „Retour à Reims“ von Didier Eribon wird in Deutschland direkt nach seiner Übersetzung im Jahr 2016 zum Bestseller. Seit Mitte Januar läuft die Theaterversion, die „Übersetzung“ des soziologischen Textes, wie Ostermeier es nennt, in französischer Sprache im Espace Cardin in Paris. Die Karten für die vom Théâtre de la Ville präsentierten Vorstellungen sind weitestgehend ausverkauft. Es ist nicht die erste Bühnenadaption des Buchs, schon 2017 sind Ostermeiers Inszenierungen in Manchester und an der Schaubühne Berlin auf großes Interesse gestoßen. Nun kehrt die „Rückkehr nach Reims“ nach Frankreich zurück. Zu diesem Anlass treffen sich Thomas Ostermeier und Didier Eribon zu einem Podiumsgespräch im Goethe-Institut Paris, moderiert von der Soziologin und Tanzkritikerin Laura Cappelle. Ostermeier und Eribon kennen sich schon seit Längerem. Bei einem Besuch in Paris, kurz nach der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten, hat Ostermeier zum ersten Mal ein gemeinsames Projekt vorgeschlagen. „Wir haben zusammen zu Mittag gegessen, und Thomas meinte, er müsse unbedingt etwas mit meinem Text machen. Er wisse nur noch nicht, was und wann“, erinnert sich Eribon.
Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit
In einer Mischung aus persönlichem Bekenntnis und soziologischer Analyse berichtet Eribon in seinem Buch von der Wiederbegegnung mit seiner Heimatstadt und seiner Familie, die er seit Beginn seiner Karriere als Hochschullehrer in Paris jahrzehntelang kaum noch gesehen hat – nicht sehen wollte. Durch die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit wird er sich bestimmter blinder Flecke in der Beschreibung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen bewusst. Er erwähnt die Exklusionsmechanismen bei genau jenem Bürgertum, dem er nun selbst angehört, und die Tatsache, dass viele in der einstmals kommunistischen Arbeiterklasse in den letzten Jahren mehr als nur einmal aus Protest die Rechtspopulisten des Front National gewählt haben. Wie konnte es dazu kommen? Was ist der Anteil der Linken daran, was sein eigener als Intellektueller, der seine Herkunft verleugnet?
Was passiert da gerade in Europa?
Thomas Ostermeier stellt fest, dass er den Text im Urlaub gelesen und zunächst gar nicht daran gedacht habe, ihn fürs Theater zu verwenden. Er habe jedoch erkannt: „Du bist nicht alleine.“ Aufgrund der politischen Stimmung in Deutschland und dem Umstand, dass immer mehr Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben und bisher kaum über die heute bestehende soziale Ungerechtigkeit geschrieben worden sei, habe er dann die Notwendigkeit gesehen, auf die aktuelle Situation zu reagieren. Doch wie kann man sich auf der Bühne mit dem Klassensystem auseinandersetzen, wenn die Kategorie der Klasse vielfach als überholt betrachtet wird? „Früher hieß es: Wir, die Arbeiter“, beschreibt Eribon die Situation. „Heute sagen dieselben Leute: Wir, die Franzosen.“ Genau diese Franzosen sind jedoch mehr denn je Arbeiter – eine ähnliche Situation zeichnet sich auch für viele in prekären Verhältnissen lebende Menschen in Deutschland ab. Der Protest in Deutschland erfolgt meist still und anonym, manifestiert sich aber im Aufstieg der AfD: Ironischerweise feiert die deutsche Version „Rückkehr nach Reims“ just an dem Tag seine Premiere an der Schaubühne, als bei der Bundestagswahl 2017 die rechtspopulistische Partei als drittstärkste Kraft ins Parlament einzieht. Nicht wenige Zuschauerinnen und Zuschauer kommen an diesem Abend mit gemischten Gefühlen ins Theater. Was passiert da gerade in Europa?
„Das Stück soll nicht didaktisch sein!“
In Frankreich gehen die Unzufriedenen auf die Straße, und Ostermeier hat Bilder von den Protesten der Gelbwesten in seine Inszenierung integriert. „In den Medien werden die Gilets Jaunes oft wie Rechte gezeigt“, findet der Regisseur. Er habe versucht, die Stimmung im Land weniger einseitig darzustellen. „Das Stück soll nicht didaktisch sein!“, betont Ostermeier. Dennoch wünscht er sich ein engagiertes Theater, das sich im Sinne von Brecht in aktuelle politische Fragen einmischt.