Nachruf auf Okwui Enwezor
Das Goethe-Institut trauert um Okwui Enwezor

Okwui Enwezor während seines Video-Statements für das Symposium „Vertagtes Erbe“ am 22.11.2018 in seiner Wohnung in München
Okwui Enwezor während seines Video-Statements für das Symposium „Vertagtes Erbe“ am 22.11.2018 in seiner Wohnung in München | © Goethe-Institut

Mit Bestürzung haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Goethe-Instituts die Nachricht aufgenommen, dass Okwui Enwezor am 15. März in München nach schwerer Krankheit verstorben ist. Er hat mit seinen Schriften und Ausstellungen entscheidend zur Fundierung des globalen Diskurses über Kunst beigetragen. Auch die regelmäßige Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut war geprägt von den großen Visionen, dem unerschöpflichen Wissen und dem unbestechlich kritischen Blick, der professionellen Präzision und der menschlichen Wärme seiner eindrucksvollen Persönlichkeit.

Der globale postkoloniale Blick auf Kunst und Kunsttheorie, der für das Goethe-Institut und seine Partner in aller Welt heute Selbstverständlichkeit geworden ist, verdankt sich ganz entschieden dem 1963 in Calabar/Nigeria geborenen Okwui Enwezor. 1993 gründete er mit Salah Hassan und Chika Okeke-Agulu das Magazin Nka, das bis heute eine der führenden Zeitschriften für den kritischen Diskurs zur zeitgenössischen afrikanischen Kunst ist. Internationales Ansehen als Kurator erlangte Okwui Enwezor als Künstlerischer Leiter der 2. Biennale von Johannesburg 1997/98 und dann als Kurator der Ausstellung „The Short Century“ am Museum Villa Stuck in München 2001, die unseren Blick auf die Kunst in Afrika seit 1945 nachhaltig verändert hat.
 
Zur ersten intensiven Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut kam es, als Okwui Enwezor von 1998 bis 2002 als Künstlerischer Leiter der documenta 11 tätig war und die Ausstellung in Kassel als die letzte von fünf internationalen Plattformen konzipierte. Die 4. Plattform „Under Siege: Four African Cities“ fand im März 2002 am Goethe-Institut in Lagos statt. Sie fragte nach Formen der Moderne außerhalb der reaktiven Alternativen zum Westen, nach Modernen, die aus postkolonialen Geschichten und globalen Phänomenen entstehen.
Als Okwui Enwezor 2011 als Direktor an das Haus der Kunst nach München berufen wurde, war er mit der Arbeit  des Goethe-Instituts im Ausland schon gut bekannt. Aus der konzeptionellen Nähe und der geografischen Nachbarschaft zur Zentrale des Goethe-Instituts erwuchs in den folgenden Jahren eine regelmäßige und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Schon Mitte 2012 kooperierte das Goethe-Institut zur Ausstellung „BILD-GEGEN-BILD“ im Haus der Kunst, die künstlerische Positionen vorstellte, die sich kritisch mit der Darstellung von gewalttätigen Konflikten in den Medien befassen. Ende 2013 wirkte Okwui Enwezor in Lagos als Hauptredner an der von Marc-André Schmachtel am Goethe-Institut und seinen Partnern konzipierten Konferenz „Crossing Archives“ über koloniale Bildwelten und postkoloniale Archive mit.
 
2013 wurde das „Goethe-Institut Fellowship“ für Postdoktoranden am Haus der Kunst ins Leben gerufen, die für jeweils ein Jahr vergeben wird. Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, unterstützte ausdrücklich das Konzept, „das Haus der Kunst als einen Knotenpunkt für Aktivitäten zu unterstützen, an dem sich Stipendiaten, Gastkünstler, Kuratoren und Wissenschaftler zu wechselseitigem Austausch begegnen.“ Die Fellows trugen in vielfacher Weise zu großen Ausstellungen bei, wie insbesondere der 4. Fellow Damian Lentini zu „Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965“ in den Jahren 2016/17. Das Symposium „Postkolonialismus: Latin American Women Artists (1960-1980)“ im Juli 2018 wurde von Lara Demori (5. Fellow) organisiert, und die noch von Okwui Enwezor, Ulrich Wilmes und Rainer Hauswirth ausgewählte Eva Bentcheva (6. Fellow) bereitet für Juni 2019 das Symposium „Wege der Performativität in der zeitgenössischen südostasiatischen Kunst“ vor.
 
Anlässlich der Charlie Hebdo-Tragödie veranstalteten das Haus der Kunst und das Goethe-Institut im Februar 2015 mit Hito Steyerl, Matthias Lilienthal, Joachim Bernauer und Okwui Enwezor die Podiumsdiskussion „Die Grenzen der Toleranz“ über die Beziehung zwischen Intoleranz und freier Meinungsäußerung, Zensur, und dem Recht, Empfindlichkeiten zu verletzen – seien sie kultureller, religiöser, politischer oder ideologischer Natur. Für die „56. Biennale in Venedig“ 2015 mit dem Titel „All The World’s Futures“ wählte der Künstlerische Leiter Okwui Enwezor unter anderem das mit Hilfe des Goethe-Instituts digitalisierte Gesamtwerk von Harun Farocki und dessen letztes partizipatives Großprojekt „Eine Einstellung zur Arbeit“ aus. Im September 2015 organisierte er mit Johannes Hossfeld in Venedig das Symposium „Harun Farocki: Kino und Spekulation“, an dem unter anderen Alexander Kluge, Kodwo Eshun, Mark Nash und Isaac Julien teilnahmen.
 
Im gleichen Jahr feierte von Juni bis Oktober die von Mathilde Weh und Leonhard Emmerling als Tourneeausstellung des Goethe-Instituts konzipierte Ausstellung „Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland“ im Haus der Kunst Premiere, die für die Präsentation im Haus der Kunst von Ulrich Wilmes maßgeblich erweitert wurde. Im Rahmen dieser Kooperation wurden auch mehrere Konzerte organisiert, im September mit den Einstürzenden Neubauten. Musik stand auch im Mittelpunkt des von Markus Müller kuratierten Kooperationsprojekts „Improvise NOW!!!“, einer Reihe von Konzerten, Performances, Vorträgen, Diskussionen und Screenings, die sich ab April 2016 ein Jahr lang mit den Schnittstellen zwischen Improvisation und Abstraktion auseinandersetzte und von März bis August 2017 mit der Ausstellung „Free Music Production / FMP: The Living Music“ und einem weiteren Konzert abschloss.

Bis zuletzt war Okwui Enwezor dem Goethe-Institut eng verbunden. Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, sah in ihm einen wichtigen Partner und Freund des Goethe-Instituts und nannte ihn einen „großen Ermöglicher in der internationalen Kulturlandschaft“. Als Okwui Enwezor aufgrund der Einschränkungen durch seine Krankheit nicht mehr persönlich an dem von Stefanie Peter organisierten Berliner Symposium „Vertagtes Erbe“ teilnehmen konnte, nahm er Ende 2018 in seiner Wohnung in München ein Video-Statement auf, das er als Teil seiner fortlaufenden Korrespondenz mit den Kolleginnen und Kollegen des Goethe-Instituts verstand.
 


Die Zusammenarbeit mit Okwui Enwezor bestand nicht nur in der Begegnung mit einem außergewöhnlichen Kurator und Theoretiker. Unvergessen ist der Eindruck, wem er einmal seine große Hand in Freundschaft gereicht hat. Und wer das Glück hatte, ihn zu Hause zu besuchen, konnte außer seiner Bibliothek auch seine Kochkünste bewundern. Mit sonorer Stimme, unersättlicher Diskussionsfreude und großzügigem Humor prägte er das Gespräch.
 
Er hat dem Goethe-Institut mehr als nur einmal freundschaftlich die Hand gereicht. Bestürzt über seinen frühen Tod, doch auch voller Dankbarkeit für die lange vertrauensvolle Zusammenarbeit, trauern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Goethe-Instituts um Okwui Enwezor.

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