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Überlegungen zu Sprachaneignungen heute
Im Leben ungesteuert - im Schulhaus gesteuert?

Die digitalen Medien haben die Sprachcodes revolutioniert
Die digitalen Medien haben die Sprachcodes revolutioniert | © Goethe-Institut

Wie greifen ungesteuerter und gesteuerter Spracherwerb ineinander? Welche Rolle spielen die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen dabei und wie ist Sprachaneignung als curricularer Gegenstand zu verorten? Die Auffassungen hierzu sind im Wandel.
 

Von Annemarie Saxalber

Wir sprechen heute weiterhin von ungesteuertem und gesteuertem Spracherwerb, auch wenn sich in unseren Gesellschaften eine klare Abgrenzung zu dem, was gesteuert und ungesteuert ist, zunehmend schwer ziehen lässt. Auch in der didaktischen Literatur – einerlei, ob sie sich mit dem Kindergarten, mit dem Fremdsprachenlernen in der Sekundarstufe oder bei Erwachsenen beschäftigt – hat sich das Begriffspaar gehalten. Diese Gegenüberstellung sollte aber nicht dazu verleiten, das ungesteuerte, natürlich Gewachsene beim Sprachenlernen als ungeordnet oder weniger effizient zu verstehen und – im Gegenzug dazu – schulische Sprache, also normierte Sprache und Sprachanwendung, als Korrektiv zum Sprachgebrauch in der Welt „da draußen“ zu begreifen.

Mit ungesteuert/gesteuert gehen oft die Begriffe mündliche/schriftliche Sprache einher. Die mündliche Sprache gilt als die Sprache der Nähe. Sie lässt sich ad hoc gestalten, kann mit nonverbalen Mitteln ergänzt werden und gilt gleichzeitig als etwas weniger präzise. In vielen sprachlichen Regionen zeichnet sich mündliche Sprache durch eine große Breite an Varietäten und Varianten aus. Die geschriebene Sprache hingegen gilt als eine kulturell gewachsene, wissenschaftlich gestützte Äußerungsform, sie ist verdichtet und normiert und mit einem höheren Grad an Verbindlichkeit ausgestattet.

Nun zeigen aber neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, dass der (ungesteuerte) Spracherwerb sich bei vielen Sprachen ähnelt und dass auch die Muttersprache in sich „mehrsprachig“ ist. Als Muttersprachlerin oder Muttersprachler weiß man die verschiedenen Sprachregister dieser inneren Mehrsprachigkeit zu nutzen, zum Beispiel Formen der informellen und formellen Sprache, Soziolekte oder Regiolekte. Die Fähigkeit dazu muss allerdings auch erst erworben werden.

Der sogenannte gesteuerte Spracherwerb wird in erster Linie in den Bildungsinstitutionen vermittelt. Diese suchen heute die lebensweltliche und lebensbiografische Anbindung und messen dem individualisierenden und dem kreativ integrierenden Lernen großes Gewicht bei. Letzteres bedeutet, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen der Sprachennutzerinnen und -nutzer aufgegriffen und die individuellen positiven Ressourcen der Lernenden aktiviert werden.
Multimediale Kommunikation auf dem Schulhof    Multimediale Kommunikation auf dem Schulhof | © Goethe-Institut Auch die gesellschaftlichen und medialen Veränderungen tragen das Ihre zur Aufweichung von ungesteuert und gesteuert bei. Denken wir zum Beispiel an das Code-Switchen oder an Code-Mixen, welches mal gezielt, dann wieder unbeabsichtigt intuitiv erfolgt, an die Kommunikation in den Social Media oder aber an Schülerinnen- und Schülergespräche im Pausenhof. Es wird immer öfter gefordert, den hybriden sprachlichen und kulturellen Formen – aus individuellen und gesellschaftlichen Kontakten entstanden – vorurteilsfrei zu begegnen und sie als ein Mittel für das Sprachenlernen zu verstehen.

Neue Forschungsinteressen

Ungesteuerter und gesteuerter Spracherwerb, letzterer oft auch als Sprachlernen bezeichnet, greifen immer mehr ineinander. Manche Autorinnen und Autoren bevorzugen deshalb den übergeordneten Begriff der Sprachaneignung, der zudem die aktive Rolle des Lernenden etwas mehr hervorhebt als gesteuerter und ungesteuerter Spracherwerb. Die gegenwärtige sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Forschung geht von inneren und äußeren Einflussfaktoren auf diese Sprachaneignung aus: den Sprachen, die erst- oder zweitsprachlich erlernt werden, und ihren Strukturen, den intellektuellen Möglichkeiten der Nutzerin oder des Nutzers und ihren kommunikativen Bedingungen und Bedürfnissen.

Jede Sprache zeichnet sich durch ihr eigenes System aus, in welches die Sprachenlernenden hineinwachsen beziehungsweise welches sie sich aneignen. Da das Sprachsystem selbst auch kein fixes Konstrukt ist, sondern durch seine Nutzerinnen und Nutzer an der Oberfläche aber auch auf der Ebene des Normativen verändert werden kann, wandelt sich Sprache. Die Lernenden müssen mit den damit einhergehenden Veränderungen zurechtkommen. Auch für Sprachinstanzen oder für die Lehrenden hat dies Folgen, sie müssen sich ihrer sprachlichen und normativen Referenzpunkte immer wieder neu vergewissern.

Die neurolinguistische Forschung beschäftigt sich weiter mit der Frage, wie sich der frühkindliche Erwerb mehrerer Sprachen auf deren Präsentation im Gehirn des Menschen auswirkt. Es wird vermutet, dass bei frühkindlicher Mehrsprachigkeit sich weitgehend unbewusste sprachliche Kenntnisse im Kopf des Menschen „organisieren“ beziehungsweise die Sprachsysteme der unterschiedlichen Sprachen sich im Gehirn vernetzen. Dies kann in bestimmten Bereichen des Sprachhandelns, zum Beispiel bezüglich der Aufmerksamkeitskompetenz, von Vorteil sein.

Da es zwischen den Sprachen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt, können diese in der Sprachaneignung auf dem Wege des Transferierens oder Kontrastierens genutzt werden. Viele neuere Sprachförderprogramme bauen auf die Rückbindung auf die eigene Muttersprache des Lernenden auf; damit rücken besonders die transferierbaren Sprachstrategien, zum Beispiel das Zusammenfassen oder Berichten, in das Interesse didaktischer Tätigkeiten.

Ohne Zweifel ist die Aneignung der geschriebenen Sprache in der Erst- wie der Zweit- oder Fremdsprache mit großem Arbeits- und Zeitaufwand verbunden. Neuere Studien, wie zum Beispiel die KOLIPSI II-Studie aus Südtirol unterstreichen aber, dass auch die Aneignung der mündlichen Kompetenzen auf höheren Niveaustufen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER) didaktisch gestützt werden soll. Mündliche Kommunikations- und Argumentationskompetenzen sind im informellen Bereich, aber ebenso im Berufsleben oder im öffentlichen Leben wichtig und bedürfen einer sprachlichen und strukturellen Strukturierung wie eines gewissen interkulturellen Wissens. Das hängt auch damit zusammen, dass sich die kommunikativen Bedingungen immer wieder ändern, zum Beispiel dann, wenn die Kommunikation in einer Sprache erfolgt, die für keinen der Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer die Erstsprache ist. Sprachaneignung besonders im Mündlichen betrifft sehr unterschiedliche Zielgruppen, wie zum Beispiel Kinder, die einsprachig oder mehrsprachig aufwachsen, Kinder mit Migrationshintergrund, mobile Berufstätige wie Studierende, die an der Universität anderssprachige Kurse belegen.

Rahmenbedingungen für Sprachlehren und -lernen heute

Ergebnisse zur angewandten Sprach- und Spracherwerbsforschung fließen in die Arbeit der Bildungsinstitutionen und der Organisationen ein, die sich um Sprachkurse oder um Alphabetisierung von Migrantinnen und Migranten kümmern. Allerdings reicht es nicht aus, wenn die Neuerungen allein über die Aus- und Weiterbildung der Sprachlehrenden oder über die Adaptierung von Schulbüchern verbreitet werden würden. Damit die institutionelle Sprachvermittlung den sprachlichen Herausforderungen in der Gesellschaft gerecht wird, ist ein systemisches Zusammenwirken von Lehrerausbildung und -weiterbildung, institutioneller und curricularer Entwicklung notwendig.

Viele Universitäten sind dabei, in ihre Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen Module zu Spracherwerb und Sprachdidaktik sowie pädagogische Schwerpunkte zu interkultureller Kompetenz, Inklusion, Mehrsprachigkeitskompetenz aufzunehmen und die Methodenkompetenz der Studierenden bei der Erhebung des Sprachstandes, des Sprachprofils und von Sprachentwicklungsstörungen zu fördern. Als Beispiel seien hier der Studiengang Bildungswissenschaften im Primarbereich der Freien Universität Bozen sowie das Curriculum für das Bachelorstudium der Pädagogischen Hochschule Steiermark (2016, besonders S. 123ff und S. 140) angeführt.

Mehr denn je ist das Sprachenlehren und -lernen heute zu einer Aufgabe des gesamten Bildungssystems geworden, durch eine gute Zusammenarbeit können die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Sprachvermittlung und -aneignung in und außerhalb der Institutionen geschaffen werden.
 

Literatur

Franceschini, Rita (2002): Das Gehirn als Kulturinskription. In: Müller-Lancé, Johannes/Riehl, Claudia Maria (Hg.): Ein Kopf – viele Sprachen. Koexistenz, Interaktion und Vermittlung. Une tête – plusiers langues. Coexistence, interaction et enseignement. Aachen: Shaker, S. 45-62.

Franceschini, Rita/Saxalber, Annemarie (2016): Zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit, sprachlicher Kompetenz und schulischer Integration. In: Der Deutschunterricht H. 6, S. 33-45.

Grießhaber, Wilhelm (2010): Spracherwerbsprozesse in der Erst- und Zweitsprache. Eine Einführung. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr.

Krifka, Manfred/Blaszczak, Joanna/Leßmöllmann, Annette/Meinunger, Andrè/Stiebels, Barbara/Tracy, Rosemarie/Truckenbrodt, Hubert (Hg.) (2014): Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Springer VS: Berlin-Heidelberg.

Noack, Christina/Weth, Constanze (2012): Orthographie- und Schriftspracherwerb in mehreren Sprachen – Ein Forschungsüberblick. In: Grießhaber, Wilhelm/Kalkavan, Zeynep (Hg.): Orthographie- und Schriftspracherwerb bei mehrsprachigen Kindern. Freiburg i. B.: Fillibach, S. 15-34.

Vettori, Chiara/Abel, Andrea (2017): KOLIPSI II: Gli studenti altoatesini e la seconda lingua; indagine linguistica e psicosociale. KOLIPSI II: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache: eine linguistische und soziolinguistische Untersuchung. Bozen. 
 

 

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