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Woche 7
Bergfest

Gerade in diesem Moment möchte ich am liebsten die Zeit anhalten. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge blicke ich auf die erste Hälfte meines Praktikums zurück, das irgendwie einer Achterbahnfahrt gleicht, bei der es auf und ab geht. Auch wenn nicht immer alles rund läuft und auf meinen Wegen oft Steine liegen, erlebe ich viele Dinge, die ich sonst niemals zu träumen gewagt hätte. Ich versuche, jeden Moment so gut es geht einzusaugen. Die nicht so schönen Momente nehme ich mit Humor oder sehe sie als eine Lehre. Auf die letzten Wochen zurückblickend kann ich sagen, dass ich niemals gedacht hätte, dass ich mich im fernen China einmal so heimisch fühlen würde. Umso glücklicher bin ich gerade, dass ich es tue, trotz aller Hürden und Kulturunterschiede. Ich bin dankbar für jede Erfahrung, die ich bis hierhin machen durfte und stehe meiner zweiten Praktikumshälfte mit großer Freude und Neugierde gegenüber.

They make me feel comfortable
Dies ist eine heimliche „Liebeserklärung“ an die zwei anderen Fremdsprachenlehrerinnen an der Xi’an Foreign Language School, deren Anwesenheit ich mehr als zu schätzen weiß. Die beiden wohnen im dritten und vierten Stockwerk desselben Appartement-Komplexes und sind nicht nur meine Nachbarinnen und Kolleginnen, sondern inzwischen meine zweite Familie geworden. Ohne sie wäre ich vermutlich das ein oder andere Mal verzweifelt oder säße längst im Flugzeug zurück nach Deutschland. Die verrückte und zugleich liebenswerte Spanierin Ana, die mich vor sieben Wochen mit offenen Armen herzlich empfing, lässt mich öfter mit ihrem spanischen Temperament, gepaart mit ihrer lustigen Art, so manch Schlechtes vergessen. Dann gibt es noch die supernette Französin Florence, die von uns nur liebevoll Flo genannt wird. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann schon im vierten Jahr in Xi’an und ist ein Engel.

Wir halten zusammen, setzen uns für einander ein, lachen und weinen zusammen. Wir sitzen sozusagen im selben Boot und ich bin mehr als dankbar für ihre (mentale) Unterstützung, die ich tagtäglich erfahre. Es ist ein großes Privileg zu wissen, dass da jemand ist, zu dem ich jederzeit kommen kann. Es vergeht auch kaum ein Tag, an dem wir uns nicht sehen. Ich freue mich über jedes Mittagessen, das wir gemeinsam einnehmen, jeden Tee oder Kaffee, den wir zusammen trinken, jeden gemeinsamen Spaziergang oder Laufrunde, jeden Film, den wir zusammen schauen oder einfach nur unsere WeChat Konversationen. Ich könnte noch so vieles aufzählen. Wenn wir in der Umgebung zusammen unterwegs sind, fallen wir „Ausländer“ natürlich sofort auf und ich sehe in den Augen der Chinesen ein großes „Aha, die Ausländer wieder“ aufleuchten. So fühlen sich die Blicke zumindest an. In Deutschland ertappe ich mich oft dabei, wie ich Unverständnis für Migranten aufbringe, die lediglich mit ihren Landsleuten zusammen sind. Wenn man in einem fremden Land leben möchte, sollte man sich (meiner Meinung nach) bemühen, so viel wie möglich auch mit Einheimischen in Kontakt zu treten. Hier in China beginne ich umzudenken. Ich muss zum ersten Mal selbst erfahren, wie schwierig das sein kann, wenn die Kultur völlig fremd ist und man die Sprache nicht sprechen kann. Ich für meinen Teil bin froh, „Gleichgesinnte“ an meiner Seite zu haben, die ähnlich denken und fühlen. Um den Kulturaustausch komplett auskosten zu können, würde ich mir jedoch wünschen, mehr mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Aber wer weiß, es ist ja noch ein bisschen Zeit.
Meine zweite Familie Meine zweite Familie | © Charlene Hennecke Deutsche Verstärkung im schönen Xi’an
Neben meinen wunderbaren europäischen Nachbarn, habe ich nun das große Glück, dass eine weitere Deutsche ihr Praktikum in (einem Vorort von) Xi’an absolvieren wird, auch wenn uns über eine Stunde Fahrzeit trennen. Am Wochenende nahm ich Amelie an meiner U-Bahn Haltestelle Shitushuguan (bedeutet übersetzt übrigens Stadtbibliothek) in Empfang. Der Glockenturm in der Abenddämmerung Der Glockenturm in der Abenddämmerung | © Charlene Hennecke
Auch sie kenne ich aus dem Vorbereitungsseminar in München. Wir freuten uns beide riesig und wollten das Wochenende gemeinsam verbringen. Gerade wenn man „neu“ in China ist, tut es unglaublich gut, jemanden zu haben, mit dem man kommunizieren und rausgehen kann. So habe ich es damals (ja, damals, denn es fühlt sich so unglaublich lange her an!) zumindest empfunden. Nach einer Deutsch-Chinesischen Tandemstunde und einem gemütlichen Mittagessen machten wir uns auf den Weg Richtung Stadtzentrum.
Auch ich bin noch nicht müde von der sogenannten „Zhonglou-Area“, in der sich der Glocken- und Trommelturm, das muslimische Viertel und unzählige Einkaufszentren befinden. Natürlich durften wir auch an jenem Tag als Fotomotiv herhalten, weshalb ich es mir diesmal nicht nehmen ließ, auch mal ein Erinnerungsfoto zu schießen.
Europäer in China: Immer wieder ein beliebtes Fotomotiv. Say cheese! Europäer in China: Immer wieder ein beliebtes Fotomotiv. Say cheese! | © Charlene Hennecke Den Abend verbrachten wir mit Ana und zwei ihrer chinesischen Freunde (ich komme meinem gewünschten Kulturaustausch also ein Stückchen näher ;-)) in einem typisch chinesischen Restaurant am Südtor der Stadtmauer. In der „Lele Canting“ war ich die Woche zuvor schon einmal, doch der Anblick der Räumlichkeiten und die spärliche Einrichtung schreckten mich leider ab, so dass ich rückwärts wieder hinaus ging. Ich traute mich einfach nicht, doch wurde nun eines Besseren belehrt. Das Essen war ausgezeichnet! Wieder einmal gilt die Devise: Über den Tellerrand schauen, die Komfortzone verlassen und sich überraschen lassen. Manchmal kann das tatsächlich auch gut enden.
Mister Berni, einer der Chinesen, lud uns im Anschluss kurzerhand in seine Bar ein. Er erklärte uns, dass es in seiner Bar ausschließlich Tee gibt, weil er die dazugehörige Unterhaltung bevorzuge. In einer „richtigen“ Bar sei dies nicht möglich. Neugierig folgten wir ihm in die höchste Etage eines 5-Sterne Hotels, direkt an der Stadtmauer, in der sich seine sogenannte Bar befindet. Völlig überwältigt von der typisch chinesischen Einrichtung und dem atemberaubenden Ausblick über die beleuchtete Nachtlandschaft, genossen wir verschiedene Sorten chinesischen Tees. Ich behaupte, dass der chinesische Tee (chá) nicht mit dem uns bekannten Tee in Deutschland zu vergleichen ist. Vielmehr nimmt Teetrinken einen speziellen Platz in der chinesischen Kultur ein und erfüllt nicht nur den Zweck des Durstlöschens, sondern ist eine Zeremonie. Mister Berni, der übrigens schon 60 Jahre alt ist, erklärte uns in solidem Englisch viel über die chinesische Teekultur und lud uns in eines seiner Hotels im Süden Chinas ein, um gemeinsam dem Teeanbau auf die Spur zu gehen. Nun, ich bin gespannt, ob er sein Wort hält.
Eintauchen in die chinesische Kultur: Teezeremonie Eintauchen in die chinesische Kultur: Teezeremonie | © Charlene Hennecke Bikesharing in China
Nachdem uns mein Tandem-Partner Antonio am Samstag eine Rede über die bunte Invasion der Leihfahrräder in China hielt, konnten wir es nicht mehr abwarten, uns auch ein Fahrrad auszuleihen. Die Fahrräder stehen überall. Am häufigsten sieht man das orange-silberne „Mobike“ oder das gelbe „Ofo“. Man scannt einfach den QR-Code (in China wird wirklich alles gescannt!) und dann kann es schon los gehen, so dachten wir. Dass es für Ausländer so schwer sein würde, ein Fahrrad auszuleihen, sagte uns meine Nachbarin Ana erst zu spät. Dadurch, dass alles auf Chinesisch war, musste ich erneut um ihre Hilfe bitten. Nach vielen gescheiterten Scan-Versuchen und 200RMB Kaution leichter, die ich vermutlich nie wiedersehen werde, stellten wir fest, dass man ohne chinesische ID (zumindest über WeChat) kein Fahrrad ausleihen kann. Schade, doch wir wollten nicht aufgeben. Zu sehr hatten wir uns gefreut, bei schönstem Herbstwetter durch die Straßen zu fahren. Plötzlich kam uns die zündende Idee: Wir laden uns einfach die Ofo-App herunter, die zu unserer Freude sogar auf Deutsch war. Kurz ein paar persönliche Daten eingetippt, den QR-Code des Fahrrads gescannt und schon öffnete sich das Schloss. Es konnte losgehen. Der ganze Stress der vergangenen Fehlversuche war plötzlich vergessen. Ich freute mich viel zu sehr, nach sieben Wochen endlich wieder Fahrradfahren zu können. Eine ganz schön lange Zeit für mich, denn in Hannover erledige ich nahezu alles mit meinem Fahrrad. So machten wir uns auf den Weg Richtung Stadtmauer. Die Sonne war so warm, dass uns in unserer Winterjacke schon zu warm wurde. Ohne Plan fuhren wir los und kamen im muslimischen Viertel an. Trotz aller Umstände und unnötiger Ausgaben ein sehr gelungener Sonntag, der für mich nicht hätte schöner sein können.
Sonntagsausflug mit den Leihfahrrädern Sonntagsausflug mit den Leihfahrrädern | © Charlene Hennecke

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