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Blog #8
Wutong Mountain – einer dieser perfekten Tage...

Auch wenn ich hier oft von negativen Erfahrungen berichte und das Glück in China bisher nicht ganz auf einer Seite war, gibt es auch ganz andere Tage. Es sind normale Tage eines Alltags in der Schule, welche mir total gefallen. Mir macht das Unterrichten und das Zusammensein mit den chinesischen Schülerinnen und Schüler unglaublich viel Spaß und ich glaube, dass wir alle eine Menge voneinander lernen. Sie werden immer mutiger auch wirklich Deutsch zu sprechen und nicht nur stumm die Grammatik in Perfektion anzuwenden. Ich wiederum verstehe ihre Kultur, ihre Ansichten und die verschiedenen Rollen innerhalb der Familie immer besser.
Trotz all der Dinge, die bisher schiefgelaufen sind, und die Liste ist wirklich lang, bereue ich es keine Sekunde hier in China die SCHULWÄRTS!-Erfahrung machen zu können. Es gibt schlechte Tage, normale und gute. Und dann gab es noch diesen EINEN Tag.

Seit meiner Ankunft in Shenzhen habe ich geplant, eine Wanderung zu machen. Die Auswahl an Wegen und Bergen ist gar nicht mal so klein. Dies mag wahrscheinlich daran liegen, dass die 12 Millionen-Metropole von Heute, Shenzhen, bis vor 30 Jahren noch gar nicht existierte. Es war vielmehr ein kleines Fischerdörfchen. Unfassbar, wie schnell sich das zu einer modernen und hochtechnisierten Stadt entwickelt hat. Das ist China! Das Ursprüngliche und die grüne Natur konnten zum Glück in Teilen und am Rande der Stadt erhalten bleiben.
Bei meiner Wanderrecherche bin ich ziemlich schnell auf dem Wutong Mountain gestoßen, der nur etwa 10 Kilometer weit entfernt vom Stadtzentrum liegen soll, der höchste Berg von Shenzhen sei und dessen Wanderwege als herausfordernd beschrieben werden. Der Aufstieg zum „Great Wutong“, dem höchsten Punkt, sollte drei bis vier und der Abstieg zwei Stunden dauern.
Obwohl mich diese Beschreibung und die Bilder im Internet gleich lockten, schob ich eine Wanderung stets auf die nächste Woche hinaus. Es ist nicht so, dass ich generelle Motivationsprobleme habe oder Angst davor, etwas Neues alleine zu unternehmen. Vielmehr habe ich hier in China recht schnell lernen müssen, dass solche Tagestrips sowie Fahrten mit dem Bus ganz alleine und ohne jegliche Sprachkenntnisse nicht gerade leicht sind. Ziele, die mit der Metro zu erreichen sind, stellen für mich überhaupt kein Problem dar, aber das Busfahren ist nach wie vor eine große Herausforderung, da es keinerlei englische Übersetzungen gibt, man also nicht weiß, ob man den richtigen Bus gewählt hat und wann der richtige Zeitpunkt ist um auszusteigen.

Irgendwann konnte ich das Ganze aber dann doch nicht weiter nach hinten hinausschieben, da meine Tage und Wochenenden mittlerweile gezählt sind. Also fuhr ich wie sonst auch freitags nach Schulschluss ins Zentrum, buchte mir ein Hotel und recherchierte die richtige Route zum Berg. Leider waren die Informationen im Internet mal wieder sehr dürftig und widersprüchlich. In ein paar deutschen und englischen Foren wurde davon berichtet, dass es nur einen Bus und einen Weg zum Wutong gäbe. Auf anderen Internetseiten gab es aber mehrere Optionen. Ich war total verwirrt, hatte auch nach zwei Stunden Recherche keinen weiteren Plan und entschied, erst einmal schlafen zu gehen. Ich schob die endgültige Planung auf den frühen Morgen der Wanderung und war überzeugt davon, dass mir die Rezeptionisten ganz sicher weiterhelfen konnten.
Nach sechs Stunden Schlaf und einem ausgiebigen chinesischen Frühstück, welches mir tatsächlich mittlerweile schmeckt, startete ich einen weiteren Planungsversuch. Vergebens, da sich der Mitarbeiter des Hotels und ich – wie erwartet – nicht verständigen konnten.

Trotzdem sollte es dieses Mal anders laufen, es sollte einfach ein guter Tag werden und ich konnte mich mal ganz auf meine Intuition verlassen. Ich zog von der Unterkunft ohne jeglichen Plan einfach mal los, nur wenige Meter weiter fand ich zufällig die richtige Bushaltestelle und fuhr entspannt in Richtung des Berges. Es sollte die letzte Haltestelle sein, viel konnte ich also nicht falsch machen!
Angekommen im Tal war ich begeistert davon, dass diese pulsierende Metropole doch auch etwas Ruhe, Beschaulichkeit und eine idyllische Seite zu bieten hat. Beflügelt von der einfachen Anreise, deckte ich mich bei einem der zahlreichen Straßenhändler mit etwas Proviant für die Strecke ein. Besonders cool fand ich das Angebot an frischem Obst und Gemüse, welches einem direkt zubereitet wird. Beispielsweise kauft man eine Gurke, die dann frisch geschält und als Ganzes gereicht wird. Ähnlich wie eine Banane kann diese Gurke dann komplett von oben bis nach unten aufgegessen werden.
Noch nie gesehen – aber eine absolut grandiose Idee und zugleich ein supergesunder Snack für Zwischendurch!

Laut meiner Recherche gab es drei Wege hoch zum Wutong Mountain, die Route A, B, oder C. Ich entschied mich im Vorfeld für die goldene Mitte, die mittelschwere Route, da man ja nie weiß, was unter einer leichten, mittleren oder schweren Strecke in diesem Land wirklich verstanden wird. Naja, was soll ich sagen, ich sollte Recht behalten! Als ich mir die Wegetafel zu Beginn der Strecke ansah, musste ich feststellen, dass es ebenso noch die Routen D, E, F und G gab – alle nur in chinesischen Zeichen erläutert!
Chinesische Wegbeschreibung am Wutong Mountain Chinesische Wegbeschreibung am Wutong Mountain | © Juhmanah Kabbany Planlos verweilte ich einige Minuten vor dem Schild. Ich weiß selbst wirklich nicht, worauf ich da gewartet habe, eine Erleuchtung hatte ich jedenfalls nicht.
Die vorbeiwandernden Menschen gingen entweder einen Weg an der Straße oder wählten einen am Beginn steilen Weg aus Treppen. Ich entschied mich rein intuitiv für die zweite Möglichkeit. Und damit lag ich gleich ein zweites Mal richtig an diesem Tag.

Die gesamte Strecke nach oben war abwechslungsreich und herausfordernd zugleich. Das hatte ich keineswegs erwartet, da ich bereits viele Wanderungen in Österreich und Südtirol bestritten habe und ich mir in China etwas Vergleichbares einfach nicht vorstellen konnte. Der Wutong Mountain kann aber aus landschaftlicher Sicht und auch unter dem Aspekt der körperlichen Anstrengung absolut mithalten. Beim Aufstieg ging ich an einigen Wasserfällen vorbei, ich stieg gefühlt Tausende von Treppen hinauf, kletterte an Baumwurzeln immer höher und durchquerte recht schnell unterschiedliche Temperaturzonen. Die ersten zwei Stunden lief mir der Schweiß vor Hitze und Anstrengung nur so vom Körper hinunter. Es war heiß und schwül und das, obwohl es an dem Tag sogar relativ bewölkt war. Anfangs bereute ich sogar, dass ich meine lange Sporthose angezogen hatte.

1/3 der Strecke war zu dem Zeitpunkt geschafft – schweißgebadet! 1/3 der Strecke war zu dem Zeitpunkt geschafft – schweißgebadet! | © Juhmanah Kabbany Da ich nicht wusste, wie lang der Weg tatsächlich war und ich nur einen groben Zeitplan hatte, entschied ich mich dagegen, eine längere Pause auf der Wanderung zu machen. Wie in Trance lief ich immer weiter, überholte einen nach dem anderen und genoss die körperliche Anstrengung mit der Gewissheit hoffentlich das Ziel, den Gipfel des Great Wutongs, zu erreichen.
Irgendwann wurde die Luft dann dünner, das Gefühl auf der Haut kälter und der Weg noch einsamer und anstrengender. Ich zog mir einen leichten Pullover an, hielt mein Tempo und wanderte Stück für Stück nach oben. Irgendwann realisierte ich, dass ich mich mitten in einer Wolke befand und ich den Weg vor mir kaum noch sah. Ich folgte einfach der Spur weiter und war unglaublich berührt von der Magie dieses Weges. Es herrschte absolute Stille. Zwei, drei Wanderer, die ich traf, waren ebenfalls bereits sehr erschöpft, konzentrierten sich auf die Strecke und gaben ebenfalls kein Wort von sich.
Auf solchen Wanderungen kann ich trotz der Fremdheit irgendwie immer eine gewisse Art der Verbundenheit unter uns spüren. Wir alle legen stundenlang dieselbe Strecke zurück, mit demselben Ziel und mit der gleichen Liebe zur Bewegung und zur Natur.

  • Circa zwei Kilometer lief ich auf diesem wolkenverhangenen Weg © Juhmanah Kabbany
    Circa zwei Kilometer lief ich auf diesem wolkenverhangenen Weg
  • Circa zwei Kilometer lief ich auf diesem wolkenverhangenen Weg © Juhmanah Kabbany
    Circa zwei Kilometer lief ich auf diesem wolkenverhangenen Weg
Schließlich war der letzte und anstrengendste Teil noch zu meistern. Die Sicht wurde immer schlechter und der Boden durch die Feuchtigkeit deutlich rutschiger. Auch wusste ich nicht, ob ich oben am Gipfel überhaupt irgendetwas sehen würde können. Der Gedanke, doch früher umzudrehen, schlich sich in meine Gedanken, doch ich mein Gefühl sagte mir „Weitermachen, es wird sich lohnen“.
Die letzten hundert Meter Die letzten hundert Meter | © Juhmanah Kabbany
In den letzten 15 Minuten hatte ich dann noch zwei wunderbare Begegnungen. Ein Mann kam mir entgegen, lächelte mich an und zog vorbei. Circa drei Minuten später hörte ich ihn wieder den Weg hinaufrennen. Er klopfte mir sanft auf die Schulter und fragte sehr höflich, ob er mit mir ein Foto machen könnte, es wäre ihm eine Ehre und er möchte mich herzlich in China begrüßen. Was für eine nette Geste! Hinzu kamen zwei süße und sympathische Chinesinnen, die perfekt Englisch sprachen. Wir erklommen den restlichen Weg zum Gipfel gemeinsam.

Nach mehr als drei Stunden war ich angekommen, aber wie erwartet stand ich in einer dicken Wolke mit einer Sichtweite von maximal zwei Metern. Doch das machte mir nicht aus. Ich war stolz, eine Wanderung alleine in China gemeistert zu haben. Trotz körperlicher Erschöpfung fühlte ich mich so wohl und zufrieden wie schon lange nicht mehr!
Angekommen am Gipfel – keine Sicht Angekommen am Gipfel – keine Sicht | © Juhmanah Kabbany Völlig absurd war der Moment als ich eine Band auf der anderen Gipfelseite spielen hörte. Mit vollem Equipment spielte und sang die Gruppe chinesische Lieder. Ich setzte mich hin, hörte zu und fand es einfach nur toll. Das war mal wieder völlig anders, komisch und einfach die verdrehte Welt Chinas. Sie gefiel mir in diesem Moment immer mehr!

Livemusik auf dem Great Wutong Livemusik auf dem Great Wutong | © Juhmanah Kabbany Nach zwei bis drei Liedern geschah das, womit wohl niemand auf dem Gipfel gerechnet hatte. Plötzlich wurde die Wolkenschicht wärmer, gelber und binnen weniger Sekunden war der Himmel blau und der Gipfel lieferte eine perfekte Sicht auf Shenzen und auf die grandiose Natur um uns herum. Etliche Wolken zogen immer mal wieder über den Gipfel. Ich stand abwechselnd mal in einer Wolke, dann wiederum war die Sicht unglaublich klar.

In meinem bisherigen Leben hatte ich so etwas noch nicht erlebt und war wirklich noch nie so berührt von dem Schauspiel der Natur gewesen.
Für mich war dies einer meiner besten Tage und definitiv mein bester Moment in China!
  • Ein unvergesslicher Gipfelmoment! © Juhmanah Kabbany
    Ein unvergesslicher Gipfelmoment!
  • Ein unvergesslicher Gipfelmoment! © Juhmanah Kabbany
    Ein unvergesslicher Gipfelmoment!
Obwohl dieser Moment auf dem Gipfel das Highlight war und für mich persönlich nicht mehr zu übertreffen ist, würde ich die gesamte Strecke absolut empfehlen und im Nachhinein das Besondere auch mithilfe des typischen chinesischen Flairs begründen. An den ungewöhnlichsten Punkten auf dem Weg, nach Minuten völliger Einsamkeit und Stille, stand plötzlich wieder ein Verkaufsstand, wo man für ein paar Yuan frisches Essen und kalte Getränke kaufen konnte. So einen Service habe ich auf bisherigen Touren nicht erlebt! Zudem haben mir die Stille und die Einsamkeit der Strecke besonders gefallen. Je höher ich kam, desto ruhiger wurde es, häufig lief ich auch Abschnitte komplett alleine. Für mich die perfekte Zeit, um nachzudenken und die vergangenen Wochen in China, frei von der Hektik des Stadtlebens, Revue passieren zu lassen.
Die Begegnung mit den zwei chinesischen Frauen war ebenfalls ein überraschender und toller Moment. Sie waren die ersten „Einheimischen“, mit denen ich mich offen über Privates, wie zum Beispiel Liebesbeziehungen in Deutschland im Vergleich zu China, austauschen konnte. Außerdem unterhielten wir uns über die verschiedenen Schulsysteme und auch etwas über die politische Situation in unseren jeweiligen Ländern. Wir stellten abwechselnd viele Fragen, ohne die gegenseitige Kultur irgendwie abzuwerten. Es war einfach ein ganz normales Gespräch unter Frauen!
Eine der beiden Frauen und ich Eine der beiden Frauen und ich | © Juhmanah Kabbany Wir liefen die gesamte Strecke gemeinsam hinunter und zum Abschied beschlossen die Frauen mich noch einmal zum Essen einladen – natürlich traditionell chinesisch! Sie wussten bereits, was ich alles aß und was nicht. Doch das erwartete ich nicht: Wie es in China üblich ist, wurden im Restaurant viele verschiedene Gerichte bestellt, die wir gemeinsam am Tisch teilen sollten. Mir zuliebe gab es nur vegetarisches Essen, wie zum Beispiel gebratene Nudeln mit Ei, chinesischer Gurkensalat mit Koriander und Pilzen oder gekochte Aubergine. Ich war berührt von so viel Nettigkeit und Wertschätzung.

Auch wenn ich in meinen bisherigen Berichten die chinesische Kultur als teilweise passiv, distanzierend und meinem Empfinden nach etwas unfreundlich beschrieben habe, trifft dies nicht auf alle Menschen zu. Gerade in den letzten Tagen habe ich so viele aufgeschlossene, interessierte und lächelnde Menschen getroffen, sodass ich mich manchmal wirklich frage, ob ich mich einfach in der ersten Zeit falsch verhalten habe?!
Auf jeden Fall habe ich durch diesen Tag am Great Wutong wieder einmal erneut Kraft tanken können und mir ist klar geworden, ich bin Hier und Jetzt am richtigen Ort, weil er mich herausfordert, mich zugleich aber auch stärkt, verwundert und begeistert!
  • Begegnungen auf der Strecke © Juhmanah Kabbany
    Begegnungen auf der Strecke
  • Begegnungen auf der Strecke © Juhmanah Kabbany
    Begegnungen auf der Strecke
  • Begegnungen auf der Strecke © Juhmanah Kabbany
    Begegnungen auf der Strecke

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