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01.10.2019
Wer später bremst, ist länger schnell

Wenn es eine der bleibendsten und einprägendsten Erinnerungen gibt, dann ist es wohl der indische Straßenverkehr. Egal ob Uber, Ola, Rikscha oder Toto. “Ma’am, want to go market? No problem!” – irgendwie kommt man schon weg.

© Julia Schmude
Volle Straßen in Kolkata

Für uns Ausländer, die sich nicht mit den Verkehrstücken auskennen, die keine Lust haben, einen dreijährigen Abschluss im Lesen (oder Hellsehen) von Busfahrplänen zu belegen, oder aufgrund von schlitzohrigen Taxifahrern als arme Menschen wieder nach Hause fliegen wollen, bietet sich der Service von Uber oder Ola an. Die cabs werden hierbei über eine App gebucht, wobei die Autos innerhalb weniger Minuten direkt zum jeweiligen Standort kommen und die vorher eingegebene Ziellokation ansteuern. Das Wichtigste ist: Der Preis steht vorher fest. Das hat zum Vorteil, dass man sich nicht, sobald man ankommt, mit fadenscheinigen Ausreden der Taxifahrer herumschlagen muss, die auf einmal kein Wechselgeld haben, vergessen haben, das Taxameter einzuschalten (entweder überhaupt nicht vorhanden oder generell kaputt) oder der Fahrpreis während der Fahrt exorbitant in die Höhe geschnellt ist, aufgrund von Umwegen, die dringend nötig waren oder der Fahrer scheinbar zeitweise seine räumliche Orientierung verloren hat.

Des Weiteren existiert das allgemein ungeklärte Rätsel bei den hier typischen, gelben Taxis, dass die Aufschrift groß und deutlich besagt „No refusal“, heißt theoretisch: alle Fahrten sollten angenommen und durchgeführt werden. Tatsächlich hängt die „No refusal“-Regel aber mehr von der Laune des Fahrers ab. Die Strecke ist zu weit? Der Pick-up zu umständlich? Das Ziel liegt nicht auf dem direkten Nachhauseweg? Ausländer werden nicht mitgenommen? Also doch refusal, sodass man schlimmstenfalls das dritte oder vierte Taxi heranwinken muss, um mitgenommen zu werden. Das kostet Zeit und vor allem Nerven und es drängt sich die unausweichliche Frage auf, wo in diesem Land die gewohnte Ordnung und Organisation geblieben sind, weshalb es – falls irgend möglich – besser vermieden werden sollte. Aber – don’t worry! – zum Glück gibt es genügend Alternativen.
 
Taxi in Kolkata
© Julia Schmude
Taxi in Kolkata

Spürt man irgendwo in sich schlummernd eine Entdeckerlust und leidet vor allem nicht unter Kreislaufproblemen oder Klaustrophobie, kann man natürlich eine Busfahrt wagen. Woher weiß man, welchen Bus man nimmt? Gar nicht. Falls der Bus überhaupt anhält und lange genug steht, kann man versuchen, den Fahrer zu fragen, was voraussetzt, man hat eine ungefähre Ahnung davon, wo man hinwill. Eine Alternative ist, sich eine indische Begleitung zu suchen, die meist etwas mehr Ahnung vom Verkehrsnetz hat als man selbst. Manche Busse haben vorne das Ziel draufstehen, andere nicht. Fahrpläne existieren nicht so wirklich, Busse halten an größeren Kreuzungen oder werden einfach herangewinkt, wobei „halten“ auch zu viel gesagt ist. Eigentlich springt man nur auf. Türen gibt es nicht, sodass aufspringen und abspringen ineinander über gehen. Des Weiteren herrscht innen drin je nach Tageszeit eine Luft, die eine Gefahr zum Ersticken birgt, also nicht unbedingt empfehlenswert.
 
Die oben genannten Alternativen des Uber oder Ola sind deshalb eindeutig vorzuziehen, insbesondere aufgrund der normalerweise vorhandenen Klimaanlage, was bei Fahrten von 45 Minuten bis zu 1,5 Std in tropischen Temperaturen durchaus ausschlaggebend sein kann. Da sich meine Schule relativ weit vom eigentlichen Stadtzentrum entfernt befindet, was das Abenteuer Teilnahme am Straßenverkehr des Öfteren erforderlich macht, folgt also ein Erfahrungsbericht einer alltäglichen Fahrt im Uber in die Stadt.
 
Möchte man irgendwo hinfahren, bucht man also über die App ein Uber. Meistens kommt das Auto innerhalb von fünf bis zehn Minuten, da die App über ihr internes GPS-System sich in der Nähe befindende Autos abruft, sodass die Wege kurz sind. Preise sind im Vergleich zu Deutschland lächerlich gering. Je nach Tageszeit und Strecke zahlt man beispielsweise für eine Fahrt am Nachmittag ins Zentrum um die 300 Rupien (Fahrtzeit ca. 40-50 Minuten), was ungefähr 3,50 Euro entspricht.

Aufgrund des großen Schulkomplexes, an dem es um den Block verteilt insgesamt acht Eingangsgates gibt und es (warum auch immer) in der App jedoch als einzige Abholmöglichkeit Gate 3 angegeben werden kann, wir uns aber an Gate 2 befinden, wird man bei Ankunft des Autos in den meisten Fällen unweigerlich vom Fahrer angerufen, der seinen Fahrgast an Gate 3 vermisst. Abhängig von den englischen Sprachkenntnissen des Fahrers klappt die Verständigung am Telefon mal mehr und mal weniger gut – schlimmstenfalls drückt man dem guard an Gate 2 sein Handy in die Hand und überlässt es ihm, das Uber zum richtigen Gate zu ordern. Meist erreicht dann kurz darauf ein mehr oder weniger demoliertes Auto. Einmal im Auto sucht man die Anschnallgurte meist vergeblich. Nach den ersten paar Fahrten habe ich aufgegeben, überhaupt danach zu suchen, da sie auch entweder nicht vorhanden sind oder die Halterung kaputt (keine Sorge Mama und Papa, es funktioniert auch ohne).

Normalerweise nimmt man auf der Rückbank Platz, checkt einmal mit dem Fahrer ab, ob das Ziel stimmt und kann sich dann entspannt zurücklehnen. Da meine Bengali-Kenntnisse für Kommunikation nicht ausreichen wird es eh schwierig, wobei ich eines Abends auch einen Fahrer hatte, der sich ausnehmend für Fußball interessierte und wir uns dann auf Englisch über die deutsche Nationalmannschaft unterhalten haben.

Einmal auf der Straße, fällt als erstes auf, dass Linksverkehr herrscht. Das heißt, soweit möglich. Ist die eigene Spur versperrt durch Bauarbeiten, Kühe, umgefallene Bäume oder ozeanähnliche Wasserpfützen durch den Monsun, weicht man auch auf die Gegenfahrbahn aus und hält grundsätzlich auf alles zu, was entgegenkommt. Die Hupe wird dabei konstant betätigt: Durchgehend, oder als Stakkato und dient somit nicht als Zeichen von Ärgernis, sondern eher als ein „Ich fahre jetzt, bleib wo du bist, damit ich links oder rechts mit einem Abstand von 5 cm an dir vorbei kann.“ Es herrscht also ein quasi durchgehendes Hupkonzert, was am Anfang mit Sicherheit gewöhnungsbedürftig ist. Bei jedem Hupen zusammenzuzucken, wie es in der im Vergleich beinahe gespenstischen Stille auf deutschen Straße vielleicht üblich wäre, gewöhnt man sich schnell ab; hier herrscht ein anderer Lärmpegel.

Die Fahrer scheinen hier grundsätzlich auf den Segen eines der vielen Götter zu vertrauen, die auch immer in Form von kleinen Idolen und Miniaturfiguren, manchmal reich mit Blumenketten dekoriert, auf dem Armaturenbrett Platz finden. Meistens entdeckt man zumindest Ganesh, den Elefantengott für prosperity (Wohlstand und Erfolg).

Ampeln gibt es wenige, und ob die vorhandenen beachtet werden, ist eine andere Frage. An manchen Stellen gibt es Verkehrspolizisten, die in erstaunlicherweise immer in blütenweißen Uniformen versuchen, den gewaltigen Berufsverkehr zu regeln. Ist die Ampel rot oder der Polizist zeigt ein Stoppsignal, versucht man erstmal, sich so weit wie möglich nach vorne zu drängeln und so spät wie möglich zum Stehen zu kommen. Wird dabei (was nicht unwahrscheinlich ist) auch mal das ein oder andere Auto touchiert, kann es passieren, dass daraus eine handfeste Straßenschlägerei mit einer Menge schaulustigem Publikum entsteht. Es kann passieren, dass ein Polizist hinzugezogen wird; inwieweit diese allerdings dazu beitragen, den Streit neutral zu schlichen, oder ob sie nicht vielmehr Partei ergreifen, ist schwer zu sagen. Als Außenstehender mit gewissem Abstand zuzugucken ist allemal lustig.

Bekommt man dann das Signal, dass man fahren darf, gibt es allerdings kein Halten mehr und der Fahrer drückt wieder das Gaspedal als wäre man auf dem Nürburgring. Immerhin hat man die Möglichkeit, so viele Fahrzeuge wie möglich zu überholen, das darf man nicht auslassen.
 
Über den Zustand der Straßen spricht man besser nicht. Es kann leicht passieren, dass ganze Straßenabschnitte quasi unbefahrbar sind, durch den Regen Überschwemmungen in den Löchern entstehen, oder man denkt, die Achsen müssten jeden Moment brechen bei diesen Schlaglöchern, aber irgendwie funktioniert es dann doch und die Autos sind ohnehin bereits in solch desolaten Zuständen, dass weitere Kratzer auch nichts mehr ausmachen. Von daher passiert es auch sehr selten, dass man teure Automarken wie Audi oder VW sieht.
 
Dellen im Bus
© Julia Schmude
Dellen im Bus

Davon abgesehen entschädigt einen eigentlich jedes Mal das breite Lächeln der Fahrer, die es als unsagbare Ehre betrachten, eine european ma’am oder german friend durch den Dschungel der indischen Straßen zu helfen – und ein kleines Trinkgeld am Ende der Fahrt macht es sogar noch breiter.
 

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