Blogeintrag 1
90 Tage China: Woche 1
Willkommen in Xi’an
Willkommen in Xi’an | © Theresa Metzler Am 2. März 2018 um 14.41 Uhr landet das Flugzeug der China Southern sanft auf chinesischem Boden. Trübe Sonnenstrahlen erreichen mich durch die kleinen Fenster des Fliegers. Ich bin am Ziel angekommen. Das Abenteuer kann beginnen.
Für die nächsten drei Monate wird die Hauptstadt der chinesischen Provinz Shaanxi also mein Zuhause sein. Xi’an ist eine Stadt mit Geschichte, in der es so einiges zu bestaunen gibt. Die Metropole, die heute mehr als acht Millionen Einwohner zählt, war einst Hauptstadt des Kaiserreiches – damals hieß die Stadt noch Chang’an. Heute kommen Reisende vor allem nach Xi’an, um sich die weltberühmte Terrakotta Armee anzusehen.
In der Ankunftshalle treffe ich Wenjing, meine Mentorin und Ansprechpartnerin für die bevorstehende Zeit an der Xi’an Foreign Language School. Hier darf ich, im Rahmen des Projekts SCHULWÄRTS! vom Goethe Institut, neue Unterrichtserfahrung sammeln und die chinesische Schulkultur kennen lernen.
Ich geh’ mit meiner Laterne...
Schon im Flugzeug berichtet mir ein Chinese, der eine Reihe vor mir sitzt und gutes Deutsch spricht, von dem heute stattfindenden Laternenfest, dem Yuanxiao. „Das Volksfest wird traditionell nach dem chinesischen Mondkalender am 15. Tag des ersten Monats gefeiert und beendet damit das Frühlingsfest“, erklärt mir Wenjing im Auto und lädt mich für den Abend zu sich nach Hause ein. Dort erwarten mich ihre beiden aufgeweckten Töchter, drei und acht Jahre alt, mit selbst gebastelten Laternen aus Filz und Wenjing’s Eltern mit überwältigender Herzlichkeit.Ihre Mutter hat bereits allerlei Köstlichkeiten aufgetischt: Es gibt scharfen Karottensalat (Fun Fact: Möhren sind in China rot!), gebratene Nudeln mit Lammfleisch, Mantou (eine Art gedämpfte Brötchen, die man in China auch gerne zum Frühstück isst) und Tangyuan, das Highlight des Laternenfestes. Die kleinen, aus Reismehl gekochten Kugeln sind mit süßer Erdnusscreme gefüllt und schmecken köstlich! Ich lerne, dass sie aufgrund ihrer Homophonie (Sprachwissenschaftler aufgepasst!), also ihrem Gleichklang, zu dem Wort „Familienzusammenkunft“ besonders an Familienfesten wie dem Laternenfest, gegessen werden. Serviert werden sie in runden Schüsseln und auch die rundliche Form der süßen Köstlichkeiten symbolisiert das Zusammenkommen der Familie. Es wird ein wunderbarer Abend, an dem ich herrschaftlich beköstigt und bedient werde. Ein Reisschnaps als „Absacker“ wärmt meinen Magen und ich mache mich glückselig auf den Nachhauseweg.
A walk in the park (but no step in the dark!)
Weil Laufen meine Passion ist, beschließe ich meine unmittelbare Umgebung am ersten Tag laufend zu erkunden. Mein Ziel: der Daming Palace National Heritage Park. Auf dem beachtlichen grünen Fleck im Nordosten der Betonstadt stand in der Zeit der Tang-Dynastie einst ein überragender Palastkomplex. Ich begebe mich auf Spurensuche, doch entscheide mich schnell, die heiß ersehnten Sonnenstunden (22 Grad, Baby!) auf einer Parkbank zu genießen und Leute zu beobachten.Ich bekomme Einblicke in allerlei chinesische Kuriositäten und Verhaltensweisen, die ich aus Erzählungen und Reiseberichten bereits kenne, die mich vor Ort dennoch in Staunen und Verwunderung versetzen.
Ich sehe viele Familien mit kleinen Kindern, von denen die meisten Hosen tragen, die einen offenen Schlitz am Hinterteil haben. Warum lassen die Mütter ihre Kinder mit zerrissenen Hosen und halbnacktem Hintern rumlaufen, könnte man sich jetzt fragen. Dass diese Schlitze in den Hosen einen praktischen Zweck erfüllen, kann ich keine zwei Minuten später beobachten. Während der Lernprozess zum selbstständigen Toilettengang bei kleinen Kindern in Deutschland häufiger einmal „in die Hose geht“ (ha!), lernen chinesische Kinder, sich – egal wo sie sich befinden (Ausnahme: Metro!) – einfach hinzuhocken und ihrem Bedürfnis nachzugehen. Meine hygienischen Bedenken schiebe ich zur Seite und freue mich mit den zwei Mädchen, die winkend auf mich zu gerannt kommen und meine blonden Haare bestaunen, die man hier – im nördlichen Teil der Stadt – tatsächlich selten zu Gesicht bekommt.
Eng, enger, am engsten oder: Order & Chaos
Weil ich des Chinesischen nicht mächtig bin, lerne ich (besser als in jedem Blockpraktikum übrigens!) zu beobachten. Wie machen es die Einheimischen?Ein bisschen mulmig ist mir schon zu Mute, als ich mich an meinem zweiten Tag die Treppen hinunter in Richtung Metro begebe. Ich rede mir Mut zu. Von Wenjing habe ich mir die verschiedenen Fahrtrichtungen sicherheitshalber per Text- und Sprachnachricht schicken lassen. Wenn ich mich verirre, kann ich meine Wunschhaltestelle einfach abspielen. Hilfsbereit sind sie ja, die Chinesen. Vor jeder Fahrt gibt es eine Sicherheitskontrolle, d.h. jede Tasche wird über ein Laufband gescannt. Dort beginnt das Gewusel bereits. Es wird gedrängelt, was das Zeug hält – ich mache einfach mit. Das Kuriose dabei: das Drängeln scheint niemanden zu stören, denn ich höre kein Raunzen oder Meckern. Ich scanne erfolgreich meine Metrokarte, die ich mit Wenjing am Ankunftstag bereits besorgt habe, die Schranken öffnen sich und der Weg ist frei.
Unten am Bahngleis angekommen, erwartet mich das komplette Gegenteil zum Chaos von oben. Die Gleise sind durch hohe Glasscheiben gesichert, davor stehen wartende Fahrgäste ordentlich aufgestellt auf einer Linie. Sicherheitsmenschen in Uniform achten auf Ordnung. Sobald die Bahn eingefahren ist, öffnen sich die Sicherheitsscheiben und die Türen der Bahn. Die Ordnung (und Sicherheit) endet genau an diesem Punkt: es wird sich rein- und rausgedrängelt ohne jegliche Rücksicht. Ich bleibe zunächst am Gleis stehen und beobachte nur. Außerdem ist mir die Bahn viel zu voll, ich warte einfach auf die nächste, in der Hoffnung, dass dort weniger Fahrgäste an Bord sind... was natürlich eine Illusion ist! Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich in die miefende Bahn hineinzupressen. Mehrere chinesische Augenpaare glotzen mich an, ich lächele.
Re Re Len
Auf dem Rückweg aus der Stadt entschließe ich mich kurzerhand, noch einen Abstecher in den Supermarkt zu machen. Nach den ersten dreißig Minuten im Supermarkt merke ich jedoch schnell, dass aus dem Abstecher ein längeres Unterfangen werden könnte. Immerhin habe ich schon drei der gewünschten Produkte auf meiner Einkaufsliste in meinem Wagen. Drei Produkte in dreißig Minuten? Ich bin angespornt, diese Leistung zu verbessern und mache mich auf den Weg in die Obstabteilung. Unsicherheit baut sich in mir auf, als ich bemerke, dass es – wie in Deutschland auch – offensichtlich einen Unterschied zwischen losem Obst und Gemüse und abgepacktem, preislich bereits gekennzeichneten Waren gibt. Ich entscheide mich gegen die 6er-Packung Äpfel (mit der bereits vorhandenen preislichen Kennzeichnung) und für die lose Ware. Ich beobachte und sehe, dass die Chinesen ihr Gemüse direkt in den Wagen legen. Ich bin mir nun relativ sicher, dass die Waren an der Kasse abgewogen werden. Ein Irrtum, der meinen Schweißpegel ordentlich in die Höhe treiben wird.Inzwischen bin ich eine Etage weiter oben, denn ich benötige Kosmetikartikel, die ich aufgrund der Gewichts- und Gepäckbestimmungen der Airline in Deutschland zurück lassen musste. Nun gilt es, Shampoo, Duschgel & Co. auf Chinesisch zu unterscheiden. Ich lasse meine Blicke streifen und bin in Sekundenschnelle von mehreren chinesischen Ladies umgarnt, die mir verschiedene Tuben und Dosen unter die Nase halten und unentwegt auf mich einreden – natürlich auf Chinesisch. Meine hilflosen Blicke und Gesten halten sie nicht davon ab, sondern scheinen sie anzuspornen, mir noch weitere Produkte zu empfehlen. Entschlossenheit ist was ich brauche! Während ich versuche Duschgel und Haarshampoo pantomimisch darzustellen, denke ich, dass ich beim nächsten Spieleabend in Deutschland der Joker für die Kategorie „Pantomime“ sein werde. Schnell finde ich das Gewünschte und bemerke, dass sich die Chinesinnen ungeniert über einige meiner Waren im Einkaufswagen amüsieren. Lachend zeigen sie auf die Preiskennzeichnungen der anderen Waren und dann auf meine Äpfel, die noch keine Preiskennzeichnung haben. Mir dämmert, dass ich die Waren hätte abwiegen lassen müssen... Die Damen signalisieren mir, ein Stockwerk tiefer zu gehen, zurück in die Obst- und Gemüseabteilung. Also los. Dort angekommen, wende ich mich sofort an einen vor Schweiß triefenden dicklichen Mitarbeiter, der mein Problem erkennt, eine Mitarbeiterin anweist, meine Ware abzuwiegen und sich erfreulicherweise auch bei meiner „Frage“ nach dem Standort von Salz als große Hilfe entpuppt.
Nun gilt es, die Kasse (und den Ausgang!) zu finden. Dafür muss ich erneut wieder ein Stockwerk höher (echt jetzt?!). Auf dem Weg dorthin, entdecke ich tatsächlich Marmelade – deutsche Marmelade der Marke Maintal. Während ich lächelnd vor dem Regal stehe und die restlichen Produkte begutachte, lasse ich meinen Einkaufswagen für einen Moment aus den Augen. Als ich mich umdrehe, ist der Wagen verschwunden, inklusive Sprachenführer, mit dem ich in den vergangenen zwei (!) Stunden die einzelnen Produkte so mühselig erfragt hatte. Moment mal! Ein Hauch von Panik macht sich in mir breit. Hat mir gerade wirklich jemand meinen vollen Einkaufswagen entwendet? Das gibt es doch nicht! Fassungslos stehe ich da und weiß nicht so recht, was mein nächster Schritt sein könnte. Verzweifelt mache ich die Mitarbeiterinnen aufmerksam, die sich nur ein Regal weiter, in der Spirituosen-Abteilung, angeregt unterhalten. Mein Problem verstehen sie nicht. Wahrscheinlich denken sie, dass ich nach leeren Einkaufswagen frage, denn sie signalisieren mir, dass ich hierfür eine Etage tiefer muss. So komme ich nicht weiter. Einen kurzen Moment denke ich ans Aufgeben, doch dann entschließe ich mich, eine weitere Runde durch die Regale zu drehen. Vielleicht hat jemand aus Versehen meinen Wagen genommen und ein paar Augenblicke später den Irrtum bemerkt?
Voller Freude entdecke ich einige Minuten später einen herrenlosen Einkaufswagen zwischen Sojasaucen und Fertigprodukten und tatsächlich: es ist mein Wagen. Ich freue mich, wie ein kleines Kind über zwei Kugeln Eis und verlasse den Laden „Re Re Len“ auf schnellstem Wege.
Yuan Fen oder: Making Friends
Mein dritter Tag in China ist regnerisch, grau und ungemütlich. Ich nehme die Metro und steige in der Nähe des nördlichen Gates der Stadtmauer aus und schlendere die Hauptstraße entlang. Auf der anderen Straßenseite erblicke ich einen Buchladen und erhoffe mir, dort einige Postkarten zu finden. Ich werde fündig – es gibt sogar Bücher auf Englisch. Mit einer Mitarbeiterin komme ich ins Gespräch, ich freue mich so sehr jemanden zu treffen, mit dem ich nicht auf Zeichensprache kommunizieren muss. Echo (Chinesen geben sich häufig einen „westlichen Namen“) zeigt mir die anderen beiden Stockwerke des Buchladens. Zu meiner Überraschung ist oben eine niedliche und verspielte Leseecke eingerichtet, es gibt sogar Arbeitsplätze, an denen man lesen und recherchieren kann und Kaffee & Tee, den man serviert bekommt. Ich verliebe mich ein bisschen in den Laden.Bevor ich bezahle, tauschen Echo und ich unsere WeChat-ID (das chinesische Hauptkommunikationsmittel, vergleichbar mit whatsapp, nur mit viel mehr Funktionen) aus. Ich zeige ihr auf einer Stadtkarte wo ich wohne und wir stellen fest, dass sie in meiner unmittelbaren Nähe wohnt. Wir verabreden uns für die kommenden Tage und freuen uns beide darüber, dass uns das Schicksal zusammen geführt hat – in einer Stadt mit Millionen von Einwohnern! „Auf Chinesisch sagen wir Yuan Fen dazu“, erklärt mir Echo. „Das Schicksal hat uns zusammentreffen lassen. Ich hoffe, dass wir Freundinnen werden, während du hier bist.“