Blogeintrag 2
90 Tage China: Woche 2
Yuan Fen reloaded
Ich beginne mit einem Rückblick auf den Ankunftstag. Mit dem vor mir sitzenden Chinesen aus dem Flieger komme ich beim Umsteigen in Guangzhou ins Gespräch. Hualin erzählt mir, dass er in Deutschland studiert und die Semesterferien nutzt, um seine Familie in seiner Heimatstadt Zigong, eine kleine Stadt in der südwestlichen Provinz Sichuan, zu besuchen. Als er hört, welche Stadt meine Endstation sein wird, erzählt er aufgeregt, dass er in der kommenden Woche ein paar Tage in Xi’an sein wird, um sich ein paar Sehenswürdigkeiten anzusehen. Ich ergreife die Chance und frage ihn, ob wir unsere WeChat-IDs austauschen wollen. Er willigt freudestrahlend ein und verspricht, sich zu melden, wenn er hier ist.Versprochen ist versprochen. Knapp eine Woche später nehme ich die Metro Richtung Stadtzentrum. (Randnotiz: Das Metrofahren in Xi’an beherrsche ich mittlerweile wie Zähneputzen.) Hualin und ich sind zum Abendessen im Yongxingfang, einem Viertel am östlichen Rand der Stadtmauer, verabredet. Von einem Freund hat Hualin von diesem Geheimtipp erfahren. Ein älterer, freundlich winkender Chinese lockt uns in sein Restaurant. Wir sind die einzigen Gäste im Lokal und ziehen alle Aufmerksamkeit auf uns. Hualin bestellt einige traditionelle Gerichte für uns, die in dieser Ecke der Stadt besonders bekannt sind. Während wir auf das Essen warten, stoßen wir mit dem lokalen Softgetränk „Ice Peak“ an, das zuckersüß ist und mich ein bisschen an Fanta erinnert. Der Koch serviert uns das Essen und richtet die Nudeln vor meinen Augen für mich an. Die Nudeln werden in einer essighaltigen Brühe serviert, die man – wie mir signalisiert wird – zuerst trinkt, bevor man mit dem eigentlichen Verzehr der Nudeln beginnt. Außerdem essen wir den berühmt-berüchtigten „Chinese Hamburger“, Dumplings und eine besondere (frittierte?!) Wurst, die mich komischerweise an Semmelknödel erinnert.
Zu meiner Überraschung kann man in dem Restaurant weder mit Bargeld noch mit Kreditkarte bezahlen. AliPay heißt die gängige Zahlmethode der Chinesen. Klingt kompliziert? Das ist es nicht, denn man bezahlt ganz einfach per QR-Code, der von dem Handy gescannt wird. „Peinlich, jetzt kann ich nicht mal für das Essen bezahlen“, denke ich laut. „Das ist kein Problem“, beruhigt Hualin mich. „Wenn man in China mit Freunden ausgeht, dann ist es üblich, dass man abwechselnd bezahlt. Du bezahlst einfach beim nächsten mal.“ Zum Abschied gibt es noch ein Foto mit dem Koch und seiner Frau. Satt und glücklich verlassen wir das Viertel und machen uns auf den Weg zur Stadtmauer.
Das Jahr des Hundes
Die Dunkelheit ist eingebrochen. Ganz Xi’an leuchtet in allen Farben. Es ist noch einmal richtig kalt geworden (3°C) und ich bin froh, ein Starbucks zu erspähen, in dem ich für uns Becher mit heißer Matcha Latte kaufe, damit wir unsere Hände wärmen können.An der Stadtmauer angekommen, vergesse ich das Frösteln und genieße den Ausblick. Wir haben Glück, denn aktuell kann man noch die Laternenausstellung zum Chinesischen Neujahrsfest bestaunen. Ich lasse mich von den Lichtern, der Musik und dem Kitsch mitreißen. Willkommen im Jahr des Hundes!
Während wir auf der Mauer entlang spazieren, unterhalten wir uns viel über das Leben in China und Deutschland. Hualin erzählt mir, dass er es in Darmstadt nicht so einfach hat Freunde zu finden. „Die Deutschen bleiben gern unter sich, selbst an der Uni ist das so“, stellt er fest. Ich verstehe sofort, was er meint und kann mich gut in seine Lage hineinversetzen. Immerhin befinde ich mich gerade in einer ähnlichen Situation: neues Land, fremde Sprache, andere Werte, Bräuche und Gewohnheiten. Mit den Chinesen in Kontakt zu kommen und Freunde zu finden, fällt mir in China trotzdem sehr leicht. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Kommunikation in China mit einem Lächeln beginnt. Mit einem Lächeln hat man hier schon viel gesagt.
Am späten Abend verabschiede ich mich von Hualin. Wir versprechen uns, dass wir uns in Deutschland besuchen werden. Hualin wird noch für eine Weile in Hessen bleiben, denn er möchte auch seinen Master an der Technischen Universität Darmstadt absolvieren. Manchmal muss man eben 7.823km um die Welt reisen, um Freundschaften zu schließen.
Sculpting in time
Sonntag, 06.45 Uhr. Mein Wecker klingelt. Verschlafen raffe ich mich auf. Eine Stunde später bin ich auf dem Weg zur Xi’an International Studies University, die im Süden der Stadt liegt. Im Café „Sculpting in time“ (der Name ist Programm!) am Rande des Campus hält ein Gastdozent der Universität Heidelberg heute einen Vortrag, den ich mir nicht entgehen lassen will. Ein bisschen surreal fühlt es sich schon an, dem Vortrag des Germanisten zum Thema „Rituale in der deutschen Literatur“ zu lauschen. Befinde ich mich doch mitten in China, umgeben von einer Gruppe fast ausschließlich chinesischer Deutschstudierender und Dozenten mit nahezu perfekten Deutschkenntnissen. Neben mir nimmt eine Deutsche Platz und wir kommen im Anschluss an den Vortrag schnell ins Gespräch.Ich lerne Karola kennen, die Leiterin des Goethe Sprachlernzentrums hier in Xi’an. Spontan zeigt sie mir das Gebäude mit den Seminarräumen und Büros, welche sich ganz in der Nähe des verträumten Cafés befinden. Hier werden vor allem Sprachkurse angeboten. In mir flammt wieder diese Begeisterung auf, dass doch so viele Menschen im fernen China Interesse an unserer Sprache finden und gefunden haben.
Unser angeregtes Gespräch führen wir beim gemeinsamen Mittagessen in einem typischen chinesischen Restaurant auf der anderen Seite der Straße fort. Ich lasse mich einmal mehr überraschen was das Kulinarische betrifft. Zum ersten mal in meinem Leben esse ich Lotus, den ich bisher nur aus Bodylotion und Badeessenzen kannte. Am Ende haben wir so viel Essen übrig, dass ich mir den Rest einpacken lassen kann – was übrigens in China sehr üblich ist und ganz in meinem Sinne.
Hello Teacher!
Der Montag beginnt mit einem ausgelassenen chinesischen Frühstück in der Schulmensa. Ein paar wache Kinderaugen lächeln mich an und begrüßen mich mit „Hello Teacher“ – ich grüße mit einem freundlichen „Ni hao“ zurück. Die Lehrer*innen der Xi’an Fremdsprachenschule teilen sich mit den Grundschüler*innen eine Mensa, während es für die restlichen Schüler*innen eine größere Mensa gibt. Für nur 10 Yuan (umgerechnet ca. 1,50€) kann ich hier drei Mahlzeiten am Tag einnehmen. Das Essen in den Schulen und Universitäten wird in China häufig vom Staat mitfinanziert, was zu der Qualität des Essens maßgeblich beiträgt. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen gibt es ein reichhaltiges Buffet an allem, was das chinesisch-deutsche Herz begehrt. Ich bin begeistert!Insgesamt unterrichte ich 10 Stunden pro Woche, davon fallen sechs Stunden auf das Fach Deutsch und vier Stunden auf Englisch. Während ich in Englisch ausschließlich Elftklässler unterrichte, habe ich in Deutsch auch eine siebte Klasse, vor allem aber zehnte und elfte Klassen. Am späten Montagnachmittag unterrichte ich also meine ersten beiden Stunden Englisch. Die 40-Minuten-Einheiten machen mir Spaß, dennoch merke ich schnell, dass ich mich in den sehr großen Klassen (40-50 Schüler*innen!) an andere Methoden gewöhnen muss. Wenn ich eine Frage stelle, antwortet in der Regel erst einmal keiner. Nicht einmal eine Kopfbewegung, um „Ja“ oder „Nein“ zu signalisieren lässt sich beobachten. Die Blicke der Lernenden sind meist auf den Tisch gerichtet. „Ähm, hello? Can you understand me well?“, versuche ich es im deutlichsten und langsamsten Englisch noch einmal. Ein paar Gesichter werden sichtbar.
Wenn ich im Laufe der Stunde einzelne Schüler*innen persönlich anspreche, erschrecken sie häufig und stehen dann auf, um eine Antwort zu geben. Generell stehen die Schüler*innen in China immer auf, wenn sie mit der Lehrkraft sprechen. Chorisches und halbchorisches Sprechen bzw. Reinrufen sind gängige Wege, um Aufgaben zu vergleichen. Ich muss mich konzentrieren, um die Antworten aus dem Gemurmel herauszufiltern. Die Schüler*innen haben einen Zeitungsartikel auf English gelesen, im Anschluss gibt es ein Quiz zum Leseverstehen. „What do you think? Which answer is correct: A, B, C or D?“, frage ich freundlich. „Beeeeeeee“, schallt es wild durcheinander und murmelnd zurück. Na bitte, es geht doch!
Hans, Markus, Bettina und ich
Im Deutschunterricht treffe ich auf für mich persönlich angenehmere Bedingungen. In einer Klasse unterrichte ich tatsächlich nur zwei Schüler*innen (Hallo Privatunterricht!), in einer anderen sind es vier, in einer weiteren sieben Jugendliche. Die siebte Klasse ist mit 27 Schüler*innen meine größte Deutschklasse, was daran liegt, dass es sich um Anfänger (Niveau A1) handelt. Wie amüsant, dass alle Schüler*innen im Deutschunterricht einen deutschen Namen haben – so gelingt es mir tatsächlich, Namen zu behalten und auswendig zu lernen.Bezeichnend finde ich auch, dass ich einzelne „Charaktere“, die ich aus Unterrichtserfahrungen in deutschen Klassen bereits kenne, auch hier sofort identifizieren kann. Dort, in der dritten Reihe, da sitzt das schüchterne Genie Tobias. Er folgt meinem Unterricht genau und könnte auf alle Fragen die passende Antwort geben, er traut sich nur nicht so recht. Zwei Reihen vor ihm, in der ersten Reihe, da sitzt Bettina. Hilfsbereit flüstert sie ihrem Banknachbar die Antwort zu, der die Lösung auf Anhieb nicht weiß. Auf der anderen Seite, in der letzten Reihe batteln sich Hans und Markus – die beiden Clowns der Klasse. Sie sorgen dafür, dass der Klasse der Spaß am Lernen nicht vergeht.
Im Deutschunterricht sind die Methoden offener, was vermutlich an der schulischen Kooperation mit dem Goethe Institut liegt. Die Fremdsprachenschule Xi’an ist außerdem eine Pasch-Schule. Beim Pasch-Netzwerk handelt es sich um eine im Jahr 2008 vom Auswärtigen Amt ins Leben gerufene Initiative, die sich der weltweiten Verbreitung von Deutschunterricht an Schulen widmet. Vom Goethe Institut, das als eine der vier ausführenden Organisationen von Pasch fungiert, erhalten die chinesischen Fremdsprachenlehrer*innen auch Fortbildungen zu Methodik, Landeskunde und vielen anderen Aspekten des Deutschunterrichts. Die meisten Deutschlehrer*innen, die ich treffe, waren bisher nur für wenige Wochen zum Urlaub in Deutschland. Umso erstaunter bin ich über die wirklich guten Sprachkenntnisse der Lehrkräfte.
Frühjahrsputz
In chinesischen Schulen sind die Tage lang, häufig bleibt kaum Zeit für Freizeitaktivitäten oder Hobbies. Die Schüler*innen der höheren Klassen lernen oft bereits vor (!) der ersten Stunde, die um 07.55 Uhr beginnt. Und auch nach der letzten Stunde, die um 18.10 Uhr endet, gibt es weitere Lernangebote. Ach, und Hausaufgaben gibt es natürlich auch! Die Erschöpfung und der Schlafmangel führen demnach auch dazu, dass während der Unterrichtsstunden ein Nickerchen eingelegt wird – was von allen Lehrer*innen toleriert wird. „Wir wollen, dass jeder Schüler und jede Schülerin von selbst erkennt, dass sich das viele Lernen lohnt“, erklärt mir Wenjing, meine Mentorin. „Sie müssen für sich selbst lernen. Das können wir ihnen nicht abnehmen, aber wir können ihnen Lernangebote machen und sie dabei unterstützen.“Diese Denkweise und Lernphilosophie überrascht mich. Das Vorurteil der strengen, von außen erwarteten Disziplin werfe ich bereits in der ersten Woche über Bord. Von der Vorstellung, dass alle Schüler*innen aufmerksam zuhörend und fleißig mitschreibend dasitzen, verabschiede ich mich schnell. So funktioniert Schule in China nicht. In meinem „Stereotypenregal“ hatte ich bisher ganz andere Erwartungen an das chinesische Schulsystem aufbewahrt. Ich bin gespannt auf alle weiteren Unterrichtserfahrungen und weiß, dass der „Frühjahrsputz“ in meinem Kopf sich lohnen wird.