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Blogeintrag 6
90 Tage China: Woche 6

Hallo Peking!

Als Sophie und ich in Peking ankommen, merken wir sofort den Unterschied. Bisher haben wir uns in Städten mit sieben bis neun Millionen Einwohnern aufgehalten. Peking hat über einundzwanzig Millionen Einwohner. Am Westbahnhof bekommen wir das Gewusel sofort zu spüren, allein für den Übergang vom Bahnhof zur direkt daran angekoppelten Metrostation brauchen wir eine halbe Stunde. Wir stehen ständig Schlange. Beim Verlassen des Zuges, wo wir zum vierten Mal unser Ticket für die gerade beendete Zugfahrt vorzeigen müssen. Beim Betreten der Metrostation zum Security-Check. Beim Warten auf dem Bahnsteig, um in die nächste U-Bahn einzusteigen... Der Abschied ist kurz und dann kämpft sich jede von uns zu ihrem Endziel alleine durch. Sophie wird Peking erkunden, während ich mich auf den Weg zu meinem Hotel mache, welches das Goethe-Institut für uns insgesamt vierzehn Stipendiaten gebucht hat. In den bevorstehenden Tagen werden wir Zeit haben, unsere bisher gesammelten Erfahrungen auszutauschen, eine persönliche Zwischenbilanz zu ziehen und unsere Kompetenzen im Bereich DaF (Deutsch als Fremdsprache) auszubauen.
 
Als ich im „Friendship Hotel“ ankomme, treffe ich einige bekannte Gesichter vom Ausreiseseminar im August 2017 in München wieder. Besonders freue ich mich über das Wiedersehen mit Carina und Hanna. Wir haben bereits in München eine wunderbare Zeit gehabt und waren sofort auf einer Wellenlänge. Auch in der Vorbereitungszeit haben wir uns nie ganz aus den Augen verloren und standen in gutem Kontakt miteinander – es hilft immer zu wissen, dass es Menschen gibt, mit denen man sich austauschen kann, wenn ein Auslandsaufenthalt bevor steht. Wir machen uns auf den Weg zum Glockenturm und schlendern von dort aus ein wenig durch die Hutongs, die traditionellen Wohnhöfe Pekings, die aufgrund der neuen Infrastruktur bedingt durch die Olympischen Spielen in Peking immer seltener werden.
 
  • Freudiges Wiedersehen mit Carina und Hanna © Theresa Metzler
    Freudiges Wiedersehen mit Carina und Hanna
  • Hutongs erkunden © Theresa Metzler
    Hutongs erkunden
  • Neues Essen entdecken © Theresa Metzler
    Neues Essen entdecken
Wir merken schnell, dass der Tourismus in Peking boomt. Je länger wir uns durch die Hutongs an verschiedenen Essens- und Getränkeständen vorbei schlängeln, desto voller wird es. Wir laufen an verschiedenen Bars mit Live-Musik vorbei, doch die Freude vergeht uns, als wir erfahren, dass ein Bier umgerechnet zehn Euro kosten soll. Vielleicht hat man uns die „Touri-Karte“ in die Hand gedrückt. Wir verlassen den Schuppen auf direktem Wege, holen uns ein Weg-Bier und machen uns auf den Rückweg ins Hotel. Dort angekommen sitzen wir noch lange mit einigen anderen Stipendiaten unserer Gruppe im Hotelzimmer und quatschen. Es tut unheimlich gut mit Menschen zu sprechen, die ähnliche Erfahrungen machen, sei es im Klassenzimmer, auf den Straßen Chinas oder beim Essenbestellen. Die Stimmung ist von Anfang an vielversprechend und schnell zeichnet sich ab, dass wir eine dynamische Gruppe sein werden.

Reflektionszeit

An unserem ersten Seminartag führen wir das fort, was wir am Abend zuvor im Hotel bereits begonnen hatten: Wir lernen uns kennen. Neben dem Kennenlernen stehen auch Erfahrungsaustausch und Hospitationen im DaF-Unterricht des Goethe-Instituts auf unserem Seminarplan. Wir werden von Steffi Stadelmann, die am Goethe Institut PASCH-Projektleiterin und Expertin für Unterricht ist, durch das Seminarprogramm geleitet und starten bereits am Nachmittag mit den Präsentationen unserer Schulen, zu denen wir im Vorfeld des Seminars ein Poster vorbereitet hatten. Die Unterschiede zwischen den beiden Schulkulturen in China und Deutschland werden schnell zum großen Thema und unterstreichen den Austauschbedarf, den wir alle verspüren. Schlafende Schüler*innen im Unterricht, große Klassenzimmer, mangelndes Interesse am Fach Deutsch, Deutsch als Unterrichtssprache und eine gewisse Unsicherheit wie unsere Rolle an der chinesischen Schule nun wirklich aussieht, sind Themen, die uns miteinander verbinden.

Unsere China-SCHULWÄRTS!-Gruppe im Frühjahr 2018 Unsere China-SCHULWÄRTS!-Gruppe im Frühjahr 2018 | © Theresa Metzler Steffi ermutigt uns, Regeln im Klassenzimmer einzuführen, um das Schlafen zu unterbinden, unsere Vorzüge als deutsche Fremdsprachenlehrer zu nutzen und große Gruppen durch Gruppenarbeit zum Sprechen zu bewegen. Wir erhalten viel Hintergrundwissen zum chinesischen Schul- und Universitätssystem, mit dem es mir jetzt leichter fällt, verschiedene Verhaltensweisen zu verstehen. Mich überrascht, dass man sich Schulen in China fast ausschließlich nach ihrem „guten Ruf“ auswählt. Wenn dann zufällig Deutsch als erste Fremdsprache gelehrt wird, müssen manche Schüler*innen mit anderen Interessen in den sauren Apfel beißen. Das liefert uns eine Erklärung, warum keineswegs immer alle Lernenden in unseren Klassen motiviert sind, Deutsch zu lernen. Das große Ziel, das sich ans Ende dieser Logikkette einreiht heißt nämlich Gao Kao. Und da gibt es nur Gewinnen oder Verlieren.

Ausnahmezustand

Von einer jungen chinesischen Mitarbeiterin im Goethe-Institut Peking erhalten wir einen Erfahrungsbericht zum Gao Kao in China. Die Prüfung, die häufig mit dem Abitur verglichen wird, findet jedes Jahr am 7. und 8. Juni statt. Dann ist das Land im Ausnahmezustand. Bereits ein Jahr vorher geben Mütter teilweise ihre Jobs auf, um ihre Kinder zu unterstützen. Wochen vorher buchen Eltern Hotelzimmer in Schulnähe für ihre Kinder, damit sie einen kurzen Anreiseweg haben. Straßen werden gesperrt, damit die Schüler*innen sicher und pünktlich zur Schule gelangen. Baustellen werden lahm gelegt, damit sich alle gut konzentrieren können. Der Aufwand ist immens.
 
Als erstes lernen wir, dass man die Prüfung mit unserem deutschen Abitur eigentlich nicht vergleichen kann, denn beim Gao Kao geht es um „alles oder nichts“. Vorleistungen zählen nicht. Es handelt sich um die Aufnahmeprüfung für die Universitäten, in denen alle Schüler*innen in Mathe, Chinesisch, Englisch und drei anderen Fächern geprüft werden. Für Universitäten mit ausgezeichnetem Ruf braucht man eine gewisse Punktzahl, wird diese nicht an den ausgewählten Tagen erreicht, dann muss man sich mit niedriger gerankten Unis zufrieden geben oder bekommt ganz einfach gar keinen Platz. Hat man einen schlechten Tag, gibt es genug andere Konkurrenten, die einen guten Tag erwischt haben. Die Diskussion um das Gao Kao als extreme Härteprüfung ist in China brandaktuell, viele fordern Reformen. „Die Konkurrenz ist so groß“, erzählt uns die junge Mitarbeiterin im Goethe-Institut: „Es gibt einfach zu viele Menschen in China.“
 
Interessant finde ich auch, dass man sich in China nicht zuerst ein Fach aussucht und dann nach den passenden Unis Ausschau hält. Es funktioniert anders herum. Zuerst wählt man die Spitzenuniversität aus und erreicht man die geforderte Punktzahl, dann studiert man dort eben das, wofür man eingeteilt wird. Häufig kann man drei Fächer als Wunsch einreichen. Wenn man Glück hat, wird man dem Fach zugeteilt, das man sich gewünscht hat. Ich denke an meine Oberstufenzeit zurück, an all die Abi-Partys, an Freistunden im Park und an unsere vielseitigen Ideen, was wir mit dem Abitur alles machen können. Ich bin mir sicher, dass in den Köpfen der jungen Menschen in China ebenfalls Träume existieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Träume platzen, ist nur leider viel zu hoch.

K-TV

Am Abend essen wir alle zusammen in einem nahe gelegenen chinesischen Restaurant. Wir sitzen um einen großen Drehtisch, auf dem zahlreiche Schüsseln mit chinesischen Spezialitäten aneinandergereiht stehen. Alle greifen mit ihren Stäbchen zu, während sich der Tisch langsam weiter dreht und so entsteht eine unverwechselbare Atmosphäre. Sollte ich den Eindruck bisher nicht deutlich genug vermittelt haben, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass sich eine Reise nach China allein schon wegen der Essenskultur lohnt. Versprochen!
 
Während des Essens kommt uns die Idee, etwas typisch Chinesisches auszuprobieren. Die Chinesen lieben es, Möglichkeiten dazu gibt es an jeder Ecke in jeder Stadt. Es ist eine Freizeitbeschäftigung, die man meistens mit Freunden macht. Es heißt K-TV. Na, schon mal gehört? Wir kennen es unter Karaoke, aber das Karaoke, das wir kennen, ist mit der chinesischen Version nicht zu vergleichen. Man bezahlt am Eingang für eine oder mehrere Stunden, bekommt ein Snack-Packet und eine gewisse Anzahl an Getränken dazu und wird dann in ein privates Zimmer mit gedimmtem Licht, schicken Ledersofas und einem riesigen Flatscreen-TV geführt. Die private Wohnzimmer-Atmosphäre führt dazu, dass wir kurze Zeit später lauthals zu Liedern von Britney Spears, Michael Jackson und Green Day mitgrölen. Die mit Glitzersteinchen besetzten Mikros werden herumgereicht, jeder darf mal, keiner muss. Die Stimmung ist ausgezeichnet!

Revolution im Klassenzimmer

Auch der zweite Seminartag ist ein großer Erfolg, den wir abends zum Abschluss im größten Club Pekings feiern. Am nächsten Tag verabschieden wir uns schweren Herzens mit müden Augen und dem Gefühl, dass dieses Wochenende ein ganz besonderes war.
 
Am Montag entschließe ich mich kurzerhand meine bereits vorausgeplanten Englischstunden umzustürzen und einiges von dem auszuprobieren, was wir am vergangenen Wochenende in Peking besprochen und erarbeitet haben. Im Englischunterricht beschäftigt mich nach wie vor das Problem, dass Schüler*innen während des Unterrichts einschlafen, auf meine Fragen nicht immer reagieren, sich mit anderen Dingen beschäftigen und gefühlt gerne einfach über andere Dinge quatschen (natürlich auf Chinesisch!), sodass die Geräuschkulisse entschieden über meinem Stimmvolumen liegt. Dabei ist Englisch ja nun wirklich kein Nebenfach (wie Deutsch in einigen Fällen), sondern eins der Pflichtprüfungsfächer für das Gao Kao.
 
Es passt ganz gut, dass die begleitende Englischlehrerin der elften Klassen mich kurz vor meinen Stunden vorwarnt, dass einige Lernende sich vermutlich nicht mit dem Buch, dass wir ab dieser Woche behandeln wollen, auseinandergesetzt haben, geschweige denn, es gelesen haben. Dazu sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich dieses Buch selbst für meine Klassen nie ausgewählt hätte, doch ich wurde von der Fachschaft für Englisch gebeten, es zu unterrichten, also hatte ich den Unterricht dementsprechend vorbereitet. Ich beginne meine Stunde mit der Frage „Have you read the book?“, worauf ich – wie gewöhnlich – erst mal keine Reaktion erhalte. Ich halte die Stille aus... eine Minute, zwei Minuten. Ich frage erneut. Nach mehreren Minuten steigt die Unsicherheit zwischen den Jugendlichen, ich schreibe die Tafel an die Frage und erhalte kurze Zeit später Umfragewerte, die meine Befürchtungen bestätigen.
 
Es ist Zeit, die „pädagogische Schiene“ zu fahren. Ich möchte den Schüler*innen die Relevanz des Faches für ihre Zukunft aufzeigen und baue eine kleine Reflektionseinheit ein, indem ich jeden einzelnen bitte, folgende Fragen zu beantworten: Warum lernen wir Englisch als Fremdsprache in der Schule? Warum ist Englisch wichtig für mich? Die schlafenden Schüler*innen wecke ich auf, Gespräche unterbinde ich, indem ich permanent durch die Reihen gehe und mehr Präsenz im Klassenzimmer zeige, der Ton wird nun spürbar strenger. Für kommende Woche kündige ich einen benoteten Test an. Innerlich schmunzele ich über die leicht schockierten Gesichter. Irgendwie bin ich froh, dass die Situation mich zwingt, die strenge Rolle zu proben.
 
In der verbleibenden Zeit berichte ich den Jugendlichen von meinem Wochenende in Peking, signalisiere ihnen Entgegenkommen, wenn ich auf mehr Disziplin im Klassenzimmer stoße. In Gruppen erarbeiten die Schüler*innen danach Regeln für meinen Unterricht. Ich staune über die plötzlich vorhandene Mitarbeit, über ihre Ideen und ich verlasse das Klassenzimmer mit dem Gefühl, eine große Reise begonnen zu haben. Es wird eine Weile dauern, bis ich ankommen werde, aber die Sonne scheint und ich bin frohen Mutes.

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