Blogeintrag 9
90 Tage China: Woche 9
Fear the Huashan
Fear the Huashan: Dort wollen wir hin! | © Theresa Metzler Am Donnerstagmorgen treffen Joy und ich uns zum Frühstück im Café Sculpting in Time – es gibt „westliches Frühstück“ mit Rührei, Toast, Marmelade und Obstsalat, Waffeln mit Ahornsirup und richtigen Kaffee und wir freuen uns beide über die Abwechslung zur chinesischen Frühstückvariante, die vor allem herzhafter und nicht selten um einige Scoville schärfer ist. Joy und ich haben uns an einem Dienstagabend im English Corner kennen gelernt. Sie kommt aus den USA und ist für ein ganzes Jahr hier, als Englischlehrerin und Musikdozentin arbeitet sie an der nahe gelegenen Universität. Das Leben als Lehrerin in China verbindet uns auf Anhieb. Nebenbei ist es sehr interessant, sich mit ihr über die Unterschiede zwischen Uni und Schule in China zu unterhalten. Weil ich selbst für ein Jahr in den USA zur Schule gegangen bin und mir das amerikanische Bildungssystem nicht unbekannt ist, kann ich ihre Perspektive auf China und das Leben hier gut nachvollziehen. Joy ist schon seit acht Monaten hier und ich merke ihr an, dass sie froh ist, ein bisschen Zeit mit mir zu verbringen, einer „Nicht-Chinesin“, die ihren Blick versteht und teilen kann. Auch ich merke, dass sich mein Blick auf China wandelt. In meine anfängliche Euphorie über alles Neue, die stellenweise dafür gesorgt hat, dass ich über kulturelle Marotten leichtfertig hinweg sehe und alles in einem überschwänglich positiven Licht betrachte, schleichen sich an manchen Tagen nun immer mal wieder genervte Launen und Frustration. Nach neun Wochen in China sehne ich mich danach, wie eine „normale“ Person auf der Straße herumzulaufen ohne wie ein Zootier begafft und fotografiert zu werden. Das wiederrum kann auch Joy verstehen, die mit ihren blonden, langen Locken nicht weniger auffällt.Wegen des Frühstücks allein sind wir aber eigentlich nicht hier. Das erste Mai-Wochenende steht bevor, wir bekommen von Sonntag bis Dienstag frei und ich bekomme dazu noch Besuch von Paula, Isabel und Anna, drei Schulwärts!-Stipendiatinnen aus Zhuzhou, Yueyang und Hangzhou. Gemeinsam wollen wir einen der fünf heiligen Berge Chinas besteigt – den Hua Shan. Er wird im Netz als „tödlichster Klettersteigt der Welt“ gehypt. Und tatsächlich, auch die Google-Bilder-Suche zeigt uns Fotos von Touristen, die auf 30-Zentimeter-langen Holzbrettern an einer steilen Klippe stehen, dabei Selfies über dem Abgrund machen und mit einem lächerlich wirkenden Karabiner „gesichert“ sind.
Ich weiß nicht so recht, was ich von den Rechercheergebnissen halten soll. Wenn man sich in China als Tourist bewegt, dann tut man das stets nach dem Prinzip „Hören-Sagen“. Wirklich verlässliche Informationen, beispielsweise von einer offiziellen Webpage in gut übersetztem Englisch, gibt es nicht. Vielleicht hat man zuvor etwas in einem Reisebericht oder Forum im Internet gelesen, mit viel Glück stimmen die Infos. Auch renommierte Reiseführer wie die von „Lonely Planet“ halten sich oft mit vagen Informationen bedeckt. Ich bekomme immer wieder das Gefühl, dass China noch nicht so richtig auf internationalen Tourismus eingestellt ist.
Die Suchergebnisse stimmen mich skeptisch. Die Chinesen, die ich hier kennen gelernt habe, stellen sich lieber eine viertel Stunde für den Aufzug an, statt die Treppen zur Metro zu gehen, winken jegliche sportliche Aktivität als viiiiiiieeeel zu anstrengend ab, gehen mit Pfennigabsätzen im Park spazieren und im Hosenanzug joggen. Gleichzeitig wird hier alles kontrolliert, Sicherheit (zumindest dem Augenschein nach) steht immer an erster Priorität! So gefährlich und anstrengend kann diese Wanderung also doch eigentlich nicht sein, oder?
Xi’an neu entdecken
Am Freitagabend, es ist bereits nach 23.00 Uhr und das Tor zu meinem Apartmentkomplex ist bereits verschlossen, stehe ich gemeinsam mit Anna, die kurz vorher mit dem Zug aus Hangzhou angekommen ist, innerhalb der Anlage und wir versuchen den Sicherheitsmann möglichst sanft zu wecken. Auf der anderen Seite des Tores stehen Paula und Isabel, wir winken uns voll Vorfreude zu. Verschlafen und leise meckernd öffnet der Sicherheitsmann uns schließlich das Tor und wir können die beiden begrüßen. Ich freue mich, dass ich die Vorzüge meiner großen und geräumigen Wohnung mit Gästezimmer nun endlich einmal voll ausnutzen kann. Bevor wir alle müde ins Bett fallen, sitzen wir noch eine Weile in meinem Wohnzimmer, bringen uns auf den neuesten Stand was Schule & Co. betrifft und schmieden Pläne für die kommenden Tage.Willkommen in Xi’an – Mit Paula, Isabel und Anna am Glockenturm | © Theresa Metzler Während die Mädels sich am ersten Tag auf meine Empfehlung hin Fahrräder ausleihen, um die Stadtmauer Xi’ans zu erkunden, bereite ich noch etwas Unterricht für die kommende (kurze) Woche vor und mache ein paar Besorgungen für unsere anstehende Wanderung. Am späten Nachmittag treffen wir uns im muslimischen Viertel wieder, das an diesem Wochenende aufgrund des anstehenden Feiertags und der kurzen Ferien aus allen Nähten platzt. Wirklich menschleer ist die Huimin-Straße eigentlich nie, aber eine derartige Menschenmasse habe ich dort bisher auch noch nicht gesehen. Zum Glück kenne ich ja bereits die weniger touristischen Ecken des Viertels. Ich freue mich darüber, dass ich auch bei diesem Besuch im Viertel (vor allem kulinarisch) Neues entdecke und meine Freude über bereits Bekanntes teilen kann. Wir schlendern durch die Straßen, tauschen uns aus, snacken uns von Stand zu Stand. Das Wetter erlaubt es, dass wir uns am Ende der Snack-Tour mit einem cremigen Eisbecher von „Shaanxi 13“ belohnen. Im Anschluss besichtigen wir noch die Große Moschee, deren Eingang ich erst vor ein paar Wochen zufällig mit Carina entdeckt hatte, als wird den Fake-Market erkundet haben. Für die rund 60000 in Xi’an lebenden chinesischen Muslime gibt es mehrere Moscheen, diese jedoch, zu der man gegen ein kleines Eintrittsgeld auch Zugang erhält, ist die größte. Mit dem Beginn des Handels zwischen persischen, arabischen und chinesischen Kaufleuten kam während der Tang-Dynastie auch die Lehre Mohammeds nach Xi’an, das damals noch Chang’an hieß.
Ich bin fasziniert von der chinesischen Baukunst, die sich mit arabischem Flair vermischt. Wir schlendern durch die verschiedenen Höfe mit ihren chinesischen Pavillons, die als Minarett dienen, und werfen einen entfernten Blick in die Gebetshalle, wo fünf mal am Tag gebetet wird. Inmitten des muslimischen Viertels, das touristisch, immer voller Menschen und vor allem laut ist, wirkt dieser Ort wie eine malerische Ruhe-Oase, zu der sich kaum ein Tourist verirrt. Am nächsten Abend verabreden wir uns mit meiner Nachbarin zum Abendessen. Anita, die quirlige Spanierin, die eigentlich von allen auch Anna genannt wird, führt uns zu einem typisch chinesischen Hotpot-Restaurant am Ende unserer Straße, wo keine von uns ohne ihre perfekten Chinesischkünste je gelandet wäre. In diesem Hotpot-Restaurant bekommt man pro Tisch einen großen silbernen Eimer und bedient sich dann an einem großen Kühlschrank, wo verschiedenes Gemüse, Fleisch sowie Fischspezialitäten an dünnen Holzspießen aufgereiht liegen. Wir füllen den Eimer mit unzähligen Spießen und schon bald sieht unser Tisch wahrlich chinesisch aus – voller Essensreste, zerknüllten Servietten, Soßenspritzern und abgekauten Holzstäbchen, die überall verteilt und zum einsammeln bereit liegen. Denn am Ende unseres Festessens werden die Holzstäbchen einfach gewogen und man bezahlt einen Preis pro Gewicht. Ob man mehr Fleisch oder Gemüse verzehrt hat, ist dabei nicht entscheidend. Mit vollen Mägen und Vorfreude auf die bevorstehende Wanderung fallen wir ins Bett.
Mit Anita aka Anna beim Hotpot-Essen | © Theresa Metzler Abgründe
Am kommenden Morgen um 7.30 Uhr begegnen wir uns auf dem Bahnsteig der Metrohaltestelle am Nordbahnhof wieder. Joy lernt nun den Rest unserer sechsköpfigen Mädelsrunde kennen und es zeichnet sich schnell ab, dass wir eine harmonische Truppe sein werden. Joy und ich haben uns bei unserer Recherche für die Route zum Westgipfel entschieden, der einem Lotus gleichen soll und von dem eine Seilbahn Wandertouristen bergauf und –ab bringt. Unser Plan ist es, die über 2000 Meter bergauf zu wandern und die Seilbahn bergab zu nehmen. Dafür haben wir uns 12 Stunden eingeplant – tatsächlich wissen wir ja nicht genau, wo wir zuerst hinmüssen, was uns erwartet, wie lange wir für Tickets anstehen müssen und welchen Tempel wir auf dem Weg nach oben noch besichtigen möchten. Als ich die Menschenmassen am Ticketschalter sehe, bricht mir zum ersten mal an diesem Tag der Schweiß aus und ich ahne, dass der Plan nicht aufgehen wird. Das herrliche Bergpanorama im Hintergrund kann daran nichts ändern.Als wir nach knapp vierzig Minuten mit dem Schnellzug am Nordbahnhof des Huashan aussteigen, bin ich noch höchst optimistisch und fühle mich gut informiert. Auf dem Vorplatz des Bahnhofes erblicken wir zwei Schlangen, eine Taxi-Schlange und eine Bus-Schlange. Weil wir eine größere Gruppe sind und uns erhoffen, dass wir so schneller zum Ziel kommen, reihen wir uns in die Taxi-Schlange ein – in China Taxi zu fahren, ist sowieso recht günstig. So richtig wissen wir eigentlich nicht, wo wir hin wollen, als wir an der Reihe sind und uns der Taxifahrer fragend anblickt. „Einfach da, wo alle hinwollen“, denke ich laut, immerhin brauchen wir noch Tickets. „Walking?“, fragt uns der Taxifahrer. „Yes!“, stimmen wir zu. Für die Taxifahrt hatten wir uns aufgeteilt, drei Mädels pro Taxi. Isabel, Joy und ich sind zwar zuerst da, zahlen aber für die knapp zehnminütige Fahrt 30 Yuan, während die anderen Mädels nur 20 Yuan zahlen müssen. Keine von uns ist überrascht, das ist typisch für China.
Nach rund dreißig Minuten, die wir wie eingepferchte Tiere in Blocks aus Stahlzäunen wartend in der prallen Sonne verbringen, werden wir auf die Ticketschalter losgelassen. Kurze Zeit später halten wir endlich unsere Eintrittstickets für den Berg in den Händen. Jetzt gilt es, den Eingang ins Wanderparadies zu finden. Die Frau vom Ticketschalter verweist uns auf einen kostenfreien Bus, der angeblich auf Parkplatz 2 zu finden sei. Als wir am besagten Parkplatz ankommen, stehen dort zwar massenweise Busse, aber keiner scheint der richtige zu sein. Immer wieder fragen wir nach, zeigen auf eine Karte und gefühlt versteht keiner, weshalb wir überhaupt hier sind. Irgendwann laufen wir einfach einer Masse an Menschen hinterher, durch eine Art Dorf ohne befestigte Gehwege. Ständig will uns jemand Wasser, Snacks oder Luftballons andrehen. Unsere Gespräche sind bereits etwas verstummt, keine von uns hat das Gefühl, dass das ein erfolgreicher Tag werden wird. Es ist heiß und wir schwitzen, das Getümmel wird immer dichter und nachdem wir an einem mit Menschenmassen überlaufenen Tempel vorbeikommen, beginnt zwar ein Wanderweg, doch die Anzahl der Menschen verringert sich keineswegs. Ich beobachte die Menschen, während wir uns im Gänsemarsch aneinander vorbeipressen, und spiele das Szenario in meinem Kopf durch. „Nie im Leben wollen und können die alle auf diesen Berg hoch“, denke ich. Absurd ist auch, dass ich mir plötzlich völlig „overdressed“ vorkomme, in meiner sportlichen Funktionskleidung. Weit und breit sehe ich niemanden in Wanderschuhen, dafür einige Frauen in sommerlichen Kleidchen, High Heels, auffälligen Hüten und großen Sonnenbrillen. Als ich mich gerade beginne zu wundern, dass wir unsere Tickets noch gar nicht vorzeigen mussten, kommen wir endlich an einem Gate an, wo unsere Eintrittskarten und Fingerabdrücke gescannt werden. Vor dem Gate drängeln sich hunderte Chinesen, die versuchen ein perfektes Fotos für Weibo und WeChat vom Bergpanorama und dem beginnenden Wanderweg zu schießen. Mir fällt die Kinnlade nach unten und gleichzeitig tadele ich mich für meine Verwunderung, denn eigentlich war ich gedanklich ja schon auf dem richtigen Weg. Ich weiß, dass Erinnerungsfotos für die Chinesen eine große Rolle spielen und was im Internet steht, stimmt wirklich. An Feiertagen ist das Gebiet rund um den Huashan wirklich überlaufen. Gemeint sind damit vielleicht jedoch nicht die Wanderwege selbst, sondern die Orte im Tal des Berges. Denn sobald es körperlich etwas anstrengender wird, nehmen die Massen lieber die Seilbahn bergauf oder setzten sich in eins der unzähligen Restaurants im völlig menschenüberlaufenen Dorf. Das perfekte Bild vom Huashan ist hier unten schließlich auch viel schneller auf Weibo oder WeChat gepostet als oben.
Frauenpower auf 2000 Metern Höhe
Frauenpower! | © Theresa Metzler Nach der Kontrolle sind wir – zunächst – fast alleine auf dem Wanderweg und heilfroh, den Eingang gefunden zu haben. Endlich können wir die sagenhafte Natur und die Wanderung genießen. Auf befestigten Wanderwegen und über Stufen geht es stetig und steil nach oben. Rechts und links beeindruckt der Berg uns mit seinen steilen Klippen. Immer wieder kommen wir an gut ausgebauten Toilettenhäusern und verschiedenen Snackständen und Kioskläden vorbei, die dafür sorgen, dass kein Wanderer verhungern muss. An einem Gebirgsbach machen wir Rast und genießen unsere vorbereiteten Sandwiches. Nebenan entdecken wir ein Schild, dass das Schwimmen im nicht mal zwanzig Zentimeter tiefen Bach verbietet. Ich muss schmunzeln.Nach einigen Stunden, erreichen wir schweißgebadet den „Thousand Feet Zhuang Path“. Ich bin froh, dass ich uns noch ein paar Handschuhe besorgt habe, denn nun geht es im 90-Grad-Winkel über Treppenstufen steil bergauf. Rechts und links finden wir Halt an rostigen Eisenketten. Es geht nur schleppend voran. Weil der Pfad sehr eng ist, entsteht eine Art Stau. Dieser Teil ist gar nicht mal so ungefährlich, aber tapfer kämpfen wir uns weiter bergauf. „Wenn vor mir jetzt eine Person den Halt verliert, dann könnte das einen Dominoeffekt bergab auslösen“, denke ich. Ich verdränge den Gedanken und konzentriere mich auf einen sicheren Tritt. Oben angekommen werden wir mit einer noch viel spektakuläreren Aussicht belohnt, wir schießen Fotos, beglückwünschen uns zum erfolgreichen Aufstieg und genießen das Panorama auf fast 1700 Metern Höhe. Dass wir letztendlich nun auf dem Nordgipfel und nicht auf dem Westgipfel gelandet sind, macht uns nichts aus. Auch von der nördlichen Spitze führt eine Bergbahn ins Tal. Die Tickets für die Talfahrt sind schnell gekauft und so stehen wir bereits in der nächsten Schlange. Als ich beobachte, wie schnell und steil die Gondel nach unten rast, bekomme ich noch einmal ein bisschen Herzklopfen. Ich beruhige mich erst wieder, als ich ein Schild entdecke, das die Seilbahn als österreichische Fertigung auszeichnet. Nach einer guten Stunde Anstehzeit sitzen wir in einer Gondel auf dem Weg ins Tal. Mit schweren Beinen und glücklichen Gesichtern machen wir uns auf den Weg zurück in die Stadt, wo zahlreiche Menschen, dichter Verkehr und der gute alte Smog auf uns warten.