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Johannes Ebert am 11. März 2019
Wie ist es um die Freiheit in Europa bestellt?

Beitrag von Johannes Ebert im Berliner „Tagesspiegel“ zum Projekt „Freiraum“ des Goethe-Instituts

Junge Frauen und Männer in festlicher Kleidung spazieren angeregt plaudernd die Straße entlang, die von zweistöckigen Cottages und kleinen Backsteinkirchen gesäumt wird. Carlisle an einem Samstagabend im Dezember. Die Idylle ähnelt eher einem Klassenausflug Harry Potters als den Bildern von zerfallenden Industrielandschaften, die man selbst im Kopf herumträgt, wenn man an den Norden Englands denkt.

Carlisle hat eine Burg, ehemals Grenzfeste zu Schottland mit Maria Stuart als prominentester Gefangener, und liegt als The Great Border City unweit des Hadrian-Walls – römisches Urmuster dessen, was Donald Trump gerade an der mexikanischen Grenze zu bauen versucht. Und: Carlisle ist die Stadt in Großbritannien mit dem höchsten Anteil an Stimmen für einen Austritt aus der Europäischen Union. Mehr als 60 Prozent haben für den Brexit votiert.

Auftakttreffen in Warschau
Aftab Khan, der Leiter von AWAZ Cumbria, einer kommunalen Organisation, die sich für marginalisierte Gruppen in der Grafschaft einsetzt, unterhält sich angeregt mit Christos Savvidis aus Thessaloniki. „Als wir in Warschau als Tandem zusammengelost wurden, wussten wir zuerst gar nicht so recht, was wir miteinander anfangen sollten“, sagt Savvidis, Direktor eines Büros für innovative Kulturvorhaben. „Und jetzt haben wir einige wirklich fantastische gemeinsame Projekte geschaffen, die uns über die Grenzen Europas hinweg verbinden.“

Der markante Bau des „Museums für die Geschichte der polnischen Juden in Warschau“ ist ein Jahr zuvor Schauplatz des Auftakttreffens von „Freiraum“. Draußen die Dezemberkälte der polnischen Hauptstadt, drinnen lebhafte Diskussionen über Europas Zukunft. Die Vertreter von mehr als 50 Nichtregierungsorganisationen und Kulturinitiativen aus ganz Europa sind zusammengekommen: ein Anti-Mafia-Verein aus Rom, ein Kunst- und Wissenschaftszentrum aus Nikosia, eine Warschauer Stiftung die sich gegen Echokammern im Internet starkmacht, oder ein Brüsseler Theaterhaus. Ein Querschnitt der europäischen Zivilgesellschaft hat sich in direkter Nähe des Ortes versammelt, an dem Willy Brandt seinen berühmten Kniefall vollzog. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie es heute um die Freiheit in Europa bestellt ist.

52 Institute in 26 Ländern der EU
„Freiraum“ ist eines der Projekte, mit denen das Goethe-Institut angesichts der aktuellen Herausforderungen in Europa Position bezieht. Die „Ortsgespräche“, die den Kulturaustausch mit Polen und Ungarn jenseits der Hauptstädte aktivieren, „Collecting Europe“, eine Ausstellung, die im Londoner Victoria and Albert Museum den Impuls zum Nachdenken über die Zukunft Europas gab, oder die geplanten deutsch-französischen Kulturinstitute gehören ebenfalls dazu. Zugrunde liegt eine schonungslose Analyse: Schuldenkrise, Brexit, weltweite Migration und eine wachsende soziale Ungleichheit verunsichern die Bürgerinnen und Bürger der Union. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind Transformations- und Modernisierungsprozesse ins Stocken geraten. Gerade in der Peripherie fühlen sich viele abgehängt. Populistische Bewegungen und Parteien, die gegen Pluralismus und Offenheit das Nationale in den Mittelpunkt rücken, haben Zulauf. Werte und Haltungen, für die Europa steht und die trotz aller Schwächen seine Anziehungskraft ausmachen, geraten unter Druck: Vielfalt, Offenheit, Toleranz, und all dem zugrunde liegend der Wert der Freiheit. Hier muss und will eine Institution wie das Goethe-Institut Verantwortung übernehmen. Denn Europa ist mehr als ein politischer und ökonomischer Zusammenschluss, es ist ein kulturelles und gesellschaftliches Zukunftsprojekt.

Das Goethe-Institut aktiviert dabei sein europäisches Netzwerk: 52 Institute in 26 Ländern der EU und ein weitverzweigtes Kooperationsgeflecht aus zivilgesellschaftlichen und staatlichen Partnern der europäischen Kultur- und Bildungslandschaft. Mit spannungsreichen Dialogen und Kunstprojekten greifen sie die als krisenhaft empfundene Situation auf und wecken Emotionen für das europäische Projekt in zusehends emotional geführten Auseinandersetzungen.

Weniger Stereotype, mehr Zusammenhalt
Europa entsteht nicht allein durch politische Appelle und trockene Gesetzeswerke, sondern vor allem auch im Austausch von Menschen und der persönlichen Erfahrung. Nur durch ein stetes Einüben von Empathie und der Bereitschaft, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen, kann ein nachhaltiger und positiver Zusammenhalt entstehen. Ein bisschen weniger Stereotype wie „faules“ Griechenland und „Zuchtmeister“ Deutschland hätten in der Euro-Krise gutgetan.

Diese Grundsätze fließen ein in das Projekt „Freiraum“. Die Idee dazu wird im Sommer 2016 bei einem Strategietreffen des Goethe-Instituts unweit von München geboren. Die idyllische Landschaft am Starnberger See passt nicht zu den dunklen Wolken, die sich am politischen Himmel Europas zusammengebraut haben. Bei „Freiraum“ arbeiten zivilgesellschaftliche und kulturelle Akteure aus allen Ländern Europas als Paare in einem Netzwerk zusammen. Nicht nur die Hauptstädte wie Brüssel, Rom oder Kopenhagen sind dabei, sondern auch Dresden, Nancy oder Banska Bystrica. Die Partner werden nach dem Zufallsprinzip ausgelost. Einziges Kriterium: Sie müssen mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt sein.

So arbeiten Amsterdam und Neapel, Helsinki und Sofia, das Copenhagen Architecture Festival und die NGO Kontrapunkt, die in Skopje die unabhängige Kulturszene fördert, zusammen. Jede Organisation hat eine Frage zur Lage der Freiheit in ihrer Stadt formuliert, die der andere Partner bearbeiten soll.

Im März kommt "Freiraum" nach Berlin
Was ist Isolation und wie können wir sie überwinden? Was bedeuten Freiheit und europäische Identität für dich, fragt AWAZ Cumbria. Wie kann Stadt ein Diversität und Koexistenz sichernder Raum werden und bleiben, will Kopenhagen von Skopje wissen. In einem Dokumentarfilm wiederum schildern mazedonische Auswanderer ihre Vision vom Zusammenleben in Dänemark. Ein Wechsel der Perspektive kann dazu beitragen, die eigene Herausforderung zu teilen und besser zu verstehen.

Im März kommt „Freiraum“ nach Berlin. Aftab Khan und Christos Savvidis, Iskra Geshoska aus Skopje, Josephine Michau aus Kopenhagen und all die anderen Akteure tragen ihre Erfahrungen zusammen: Was bedeutet Freiheit in Europa heute und wie können wir sie schützen? Wie ist es uns gelungen, auf eine andere Perspektive zu reagieren? Wie arbeiten wir in Zukunft zusammen?

Das Projekt ist ein kleiner Baustein in dem großen Prozess, Europa für uns immer wieder neu zu erfinden. Viele müssen daran mitarbeiten und dieses Europa der Zukunft beleben und immer besser einüben. Zu einem integrierten Europa, das auf kultureller Vielfalt basiert, gibt es in einer sich rasend schnell verändernden Welt keine Alternative.

 

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