Johannes Ebert am 03. Juli 2023 in Berlin
Rede anlässlich des Sommerempfangs des Goethe-Instituts
Grußwort von Johannes Ebert zum Sommerempfang des Goethe-Instituts im Goethe-Institut Berlin in der Neuen Schönhauser Straße 20
Wer zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hier in Berlin Mitte in der Gegend des Hackeschen Markts unterwegs war, befand sich auf undefiniertem Terrain: Hinter verfallenen Fassaden drang Musik aus schwach beleuchteten Räumen. Improvisierte Bars und kleine Restaurants schossen aus dem Boden. Alles war im Fluss und offen. Aufbruch und Ausprobieren. Lust am Neuen und am Experiment. Hoffnung und Zukunftsangst. Es war eine Zeitenwende der anderen Art.
Die Neue Schönhauser Straße, in der sich heute das Goethe-Institut Berlin befindet, war mittendrin. Der Kellereingang im zweiten Hof war zwischen 1993 und 1997 der Eingang zum Tanzclub „toaster“. Ob da die Einstürzenden Neubauten liefen oder FM Einheit? Oder die leichtere Kost der neuen deutschen Welle? Der Kunstverein „Apparat“ organisierte Ausstellungen und Debatten, ein Möbelgeschäft, eine Boutique und 40 Künstlerateliers waren hier. Alternative Kunst und Subkultur in den Zeiten ungeklärter Besitzansprüche.
Dabei war unser Haus, als es entstand, ein Beispiel modernsten Gewerbebaus. 1911 errichtete der Architekt Kurt Berndt im Auftrag der Metropol Theater AG das Gebäude nach baulichen Grundsätzen der Zukunft: „Die Fassade des Hofes ist wie die Front an der Strasse zu behandeln. Schmale Pfeiler, die Fensteröffnungen so groß wie irgend möglich, Verblendung mit weißen, glasierten Steinen ist sehr zu empfehlen.“ (…) „Es sind thunlichst große ungetheilte Räume zu schaffen, die nach Bedarf durch Zwischenwände den sich ergebenden Ansprüchen gemäß untertheilt werden können. Hierbei sind Treppen und Fahrstühle so anzuordnen, daß bei Vertheilung eines Geschosses an verschiedene Mieter jeder von diesen die unmittelbare Verbindung mit den genannten Verkehrsmitteln erhält.“
Klingt ein bisschen wie Großraumbüro und New Work nach der Pandemie-Periode. So war das in jener Zeit, als Berlin so schnell wuchs wie heutige asiatische Metropolen wie Jakarta, Colombo oder Dhaka.
Was hat so ein Gebäude in über 110 Jahren gesehen? Stellen Sie sich die Ereignisse vor: Die ersten Mieter waren Textil- und Papierproduzenten, eine Kaffeerösterei und ein Gastwirt. Die wohlhabenden Viertel wanderten in der Zwischenkriegszeit nach Westen Richtung Kurfürstendamm. Der Alexanderplatz, die Rosenthaler Straße und die Münzstraße galten als Treffpunkte von Arbeitslosen, Kleinkriminellen und armen osteuropäischen Zuwanderern.
Denken Sie an Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, erschienen 1929. Ich stelle mir vor, wie Franz Biberkopf in der neuen Schönhauser Straße seinen Geschäften nachgeht. Joseph Roth saß 1914 im „Gasthaus Reese“ im Vorderhaus der Neuen Schönhauser 20 und verewigte die Szenerie dieses bunten Viertels in seinen „Nächten in Kaschemmen“.
1939 wurde das Haus verkauft – weit unter Wert: Der Eigentümer hatte sich vor der antisemitischen Verfolgung gerade noch in die Schweiz retten können. 1954 wurde das Gebäude Volkseigentum der Wohnungsbaugesellschaft Mitte. Die Humboldt-Universität wurde ein konstanter Mieter.
Ende der 90er Jahre verkauften die Alteigentümer aus der Schweiz das Haus. Es wurde modernisiert und hergerichtet. 1999 zog das Goethe-Institut ein. Jedes Jahr lernen hier 4000 Menschen Deutsch, manchmal trifft man im Fahrstuhl schwitzende Prüflinge, die im fünften Stock ihr Deutsch-Examen ablegen. Ich wünsche ihnen dann immer alles Gute und sie lächeln ein wenig verkrampft. Vielleicht sind es die Fachkräfte von morgen, die Deutschland so dringend braucht.
Das ist die Neue Schönhauser Straße 20.
Wir sind froh, dass wir Sie heute alle hier begrüßen dürfen.
Wir sind froh, dass das Wetter hält.
Wir sind Ihnen allen dankbar, dass Sie gekommen sind, dass Sie gemeinsam mit uns arbeiten am Zusammenhalt in einer unübersichtlichen Welt.
Wir stehen alle gemeinsam für die Kultur, denn es ist die Kultur, es ist die Debatte, es ist das Lernen voneinander, es ist der Austausch, der gerade in diesen Zeiten dazu beiträgt, dass die Welt nicht noch weiter auseinanderdriftet.
Wenn man im Ausland reist oder gelebt hat, dann bringt man immer auch etwas mit. Nicht nur Souvenirs, auch Gewohnheiten oder Gebräuche. Vielleicht kennen Sie das aus eigener Erfahrung. Lassen Sie sich einmal durch den Kopf gehen, was Sie in solchen Situationen unterwegs gelernt und erfahren haben.
In der Ukraine darf man sich beispielsweise nicht über die Türschwelle hinweg die Hand reichen. Das bringe Freundschaften auseinander. Meine deutschen Freundinnen und Freunde sind immer überrascht, wenn ich sie noch heute – obwohl meine Zeit in Kiew über 20 Jahre zurückliegt – vor dem Gruß über die Schwelle ziehe.
Noch Monate, nachdem ich aus Kairo zurück war, habe ich manche Sätze mit einem Insha-allah – so Gott will – abgeschlossen. Einfach aus Gewohnheit – und um mich gegen alle Eventualitäten und die Willkür höherer Mächte abzusichern.
Aus der Ukraine und Russland habe ich zwei Redensarten mitgebracht, die ganz gut zu heute passen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ und „Wso budit chorosho“ – „alles wird gut“.
Wenn ich auf die aktuellen Krisen der Welt blicke.
Wenn ich die Unsicherheit, den Zwist oder auch die bisweilen unsägliche Häme und Hetze in Deutschland sehe.
Wenn ich auf die aktuellen Herausforderungen für das Goethe-Institut und viele andere kulturelle Akteure in Deutschland blicke, deren Finanzen unter Druck stehen, und die Veränderungen vorantreiben in eine ungewisse Zukunft…
…dann tröstet mich dieses Haus in der Neuen Schönhauser Straße 20 in Berlin.
Seine lange Geschichte von dauernder Veränderung, von Schönheit und Abnutzung, von Verfall und Wiederaufbau, von Niedergang und Hoffnung, von Unternehmergeist und Tatkraft.
Dann macht es mir Mut, dass wir hier stehen, gemeinsam mit einem Glas Bier oder Wein in der Hand, dass wir keine Angst haben, dass wir gemeinsam an einer Sache arbeiten und zusammenstehen.
Und dann denke ich:
Wso budit chorosho – alles wird gut – Insha allah!