Johannes Ebert im Juli 2013
Laudatio von Johannes Ebert auf Richard Siegal

Lieber Richard Siegal,
Sehr geehrter Herr Offman,
Lieber Herr Dr. Küppers,
sehr geehrte Mitglieder der Jury,
meine sehr verehrten Damen und Herren,


NOISE – SIGNAL – SILENCE

SILENCE – Es gibt keine Stille in Richard Siegals neuester Choreographie „Unitxt”, die in der vergangenen Woche im Bayerischen Staatsballett uraufgeführt wurde. Sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer erschließen sich den Bühnenraum präzise, fordernd, in hohem Tempo und vielfältig wechselnden Konstellationen. Anklänge an William Forsythe, aber das Gesamtkunstwerk aus Choreographie, Graphik und der synthetisch treibenden Musik von Carsten Nicolai will abheben in eine Zukunft, in der es keine Stille gibt, sondern nur Dynamik und Bewegung. Und da ist – Richard Siegal ist Richard Siegal – doch dieser irritierende Moment in der Bewegung der Tänzerinnen, der die Konzentration herausfordert: Die elastischen Griffe, die Industriedesigner Konstantin Grcic in ihre Kostüme integriert hat, erweitern das Spektrum der Paare und forcieren neue, schnellere, direktere Bewegungen: Exakt, atemlos und von hoher Perfektion.

NOISE – SIGNAL – SILENCE und dann langer und intensiver Beifall in Münchens Prinzregententheater..

ACCELERATE
Einige Monate zuvor in der Münchner Muffathalle: Die Bühne liegt im Dunkeln. Der Tänzer mit schwarz geschminktem Gesicht ist kaum zu sehen, seine Bewegungen sind oft nur zu erahnen. Doch der Tänzer ist nicht nur Tänzer, er ist ein Sänger, ein Schamane, der mit seinen Bewegungen, den poetischen Texten, die fragmentiert und schnell wechselnd den Hintergrund ausleuchten, und mit seiner Stimme, die mal wimmernd, in großen Intervallen changierend, mal elektronisch verfremdet eine neue Welt erschafft. Eine bisweilen verstörende Welt, die auf Mythen, kollektiven Ängsten und Richard Siegals individuellem Umgang mit Poesie gründet. „Black Swan“ – so heißt dieses Stück – legt einen choreographischen Zugang in eine komplexe Welt und tut das, was wir auch von Kunst erwarten müssen: „Black Swan“ fordert uns heraus.

Diese zwei Stücke des Tänzers und Choreographen Richard Siegal, dem wir heute den Münchner Tanzpreis verleihen, geben uns eine Ahnung von seiner künstlerischen Bandbreite, von seiner schöpferischen Kraft, aber auch vom unbändigen Willen zu experimentieren, Dinge intellektuell zu durchdringen und immer wieder Neuland zu betreten.

„Eine starke Vergangenheit, eine starke Gegenwart“, bescheinigt die Jury dem Choreographen Richard Siegal. Begonnen hat alles – wie immer – ganz anders. Richard wuchs auf in einem kleinen Ort in New Hampshire an der amerikanischen Ostküste. Kein Ort, wo klassischer Tanzunterricht für Jungen Priorität hat. Er hat es trotzdem getan. Es sei so eine Art Billy Elliot-Geschichte gewesen, erinnert sich Richard, ein geheimes Kommandounternehmen, um möglichem Spott der Altersgenossen zu entgehen. Anders als der zielstrebige Nachwuchstänzer Billy Elliot im britischen Blockbuster hat Richard Siegal nach einiger Zeit den Unterricht jedoch wieder aufgegeben.

Und fing erst wieder Feuer, als er nach der Highschool für ein Jahr in New York bei seinem Bruder lebte, damals ein professioneller Tänzer mit Ausbildung an der Juilliard-School. Zwischenstation zwei Jahre am Bard Liberal Arts College im Norden von New York. Tanzunterricht und eine Vielzahl an Kursen von Französisch bis Film bezeugen Offenheit für Neues und die Begierde, möglichst breites Wissen und Erfahrungen zu sammeln. „Diese zwei Jahre waren wichtig für mich und haben mein Denken entscheidend geformt“, blickt Richard Siegal zurück. Aber Bard College wird schnell zu eng.

New York. 1990. „Immer noch ein guter Ort für Tanz und für mich eine wunderbare Zeit“, sagt Richard Siegal. – auch wenn die Umstände schwieriger werden, Einschnitte bei der Kulturförderung und die grassierende Aids-Epidemie die Kulturszene bedrohen. Richard Siegal beschließt, seine ganze Energie dem Tanz zu widmen. Er ist gereift, weiß, welche Lernumgebung ihn stimuliert und welche Lehrer ihm positive Energie vermitteln können. Ihn begeistern die Disziplin und die hohen ethischen Ansprüche, die das Tanzen fordert. Doch er will diese Disziplin aus sich selbst heraus erschaffen, ist froh darüber, dass es in seinem Leben mit dem Tanz etwas gibt, dem er sich obsessiv widmen kann, – jedoch selbstbestimmt.

Also keine Ausbildung aus einem Guss an einem Konservatorium, sondern ein eher eklektischer Ansatz: vielfältige Impulse und Experimente in unterschiedlichen privaten Klassen und bei seinen ersten Engagements. Wird so in den Jahren der Ausbildung bereits die Grundlage für das breite Spektrum in seiner zukünftigen Arbeit gelegt? „Ich lebte das klassische Leben eines Tänzers in New York. Ich kellnerte, arbeitete als Masseur, verteilte Flugblätter und tat buchstäblich alles, um Geld zu verdienen, damit ich mir den Unterricht leisten konnte“, erzählt Richard im Rückblick.

Nach einem kurzen Zwischenspiel in der Martha Graham School lernt er bei Igal Perry und Zvi Gotheiner. Aus der Ausbildung wird eine Karriere, er tanzt in unterschiedlichen Compagnien, absolviert Tourneen und Gastspiele. „Doch irgendwann stieß ich mit dem Kopf an die Decke, zumindest habe ich das sehr stark so empfunden. Ich fühlte die Grenzen dieses Lebens als Tänzer in New York“. .

Nach einem Gastspiel in Linz beschließt Richard Siegal, in Europa vorzutanzen. Er erinnert sich genau an den Moment, der sein Leben erneut verändert: Ein wunderbarer heller Frühlingstag, ein perfektes Studio, eine Tanzklasse mit William Forsythe. Als die Tänzer den Saal verlassen haben, tanzt er allein für sich, lässt sich von Stimmung und Bewegung mitreißen. Was er nicht weiß: William Forsythe sieht ihm unbemerkt zu. Sechs Monate später – Richard ist längst zurück in den USA – erhält er einen unerwarteten Telefonanruf: Forsythe holt ihn nach Frankfurt. Es sei ein Paradies für ihn gewesen. In Frankfurt habe er gemerkt, welch hohes Niveau erreicht werden kann, wenn außergewöhnlicher künstlerischer Anspruch und sinnvolle staatliche Förderung eine fruchtbare Symbiose eingehen.

Richard Siegal bleibt von 1997 bis zum Ende des Frankfurter Balletts 2004 bei William Forsythe, ist auch heute noch bisweilen bei ihm zu Gast. Man kann die Bedeutung dieser Zeit für seine Entwicklung nicht unterschätzen. Forsythe als Quelle der Inspiration, als künstlerischer Katalysator, der Choreographie als die tänzerische Aneignung von Weltwissen versteht. Ein weltberühmtes Ensemble mit hervorragenden Tänzern. Das erzeugt auch Druck, Erfolg zu haben; es gibt künstlerische Wettbewerb zwischen den Tänzern und auch Freundschaft und gemeinsames Erleben. Noch in New York hat Richard Siegal sich an kleineren Choreographien versucht und nimmt es dankbar an, dass Forsythe für seine Tänzer eine Plattform bietet, eigene Arbeiten zu entwickeln.

Das ist es, was ihn jetzt interessiert. Als das Frankfurter Ballett aufgelöst wird, trifft Richard Siegal die Entscheidung, sich in Zukunft vor allem auch auf die Choreographie zu konzentrieren.

Nach Forsythe beginnt Siegals „starke Gegenwart“.

Wenn man die Programme der Goethe-Institute weltweit betrachtet, so kristallisieren sich dort unterschiedliche Schwerpunktthemen heraus: Die Eroberung des öffentlichen Raums, das Vordringen der digitalen Medien in alle Lebensbereiche, die Entwicklung von urbanen Lebensräumen, das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, die Macht der Bilder oder der Versuch, strenge Grenzen zwischen den Kunstsparten aufzuheben, interdisziplinär zu arbeiten, um neue, multiple Zugänge zu gesellschaftlichen Phänomenen unserer Zeit zu schaffen.

Es hat mich von Anfang an beeindruckt, dass solche Zusammenhänge auch grundlegend sind für Richard Siegals Arbeit, dass er sich vom Tanz her kommend mit gesellschaftlicher Analyse, Tanztheorie und Medienforschung auseinandersetzt. „Wer wie er jahrelang mit William Forsythe arbeitet, der muss nicht nur tanzen, sondern auch denken können“, postuliert die Tanzpreis-Jury. – Und wird eindrucksvoll bestätigt durch die vergangenen neun Jahre in Richard Siegals Schaffen.

Etwas Entscheidendes geschieht gleich zu Beginn dieser Zeit: Das Duett „If/then“ für Janis Brenner und Jeanine Durning. „If/then hat die Grundlage gelegt für vieles, was in den folgenden Jahren passiert ist“, sagt Richard Siegal. Ein Einblick in sein Tagebuch jener Zeit: „Ich habe begonnen, kleine Spiele zwischen zwei Tänzern zu schaffen, die auf dem syntaktischen System „Wenn/dann“ basieren. Die Spiele setzen sich zusammen aus einfachen Gesten und Regeln, sehr dem binären Prinzip folgend: Wenn du x machst, mache ich y; wenn ich y mache, folgt bei dir z oder n, und so weiter.“ (Zitat Ende) Die einzelnen Spiele wiederum können sich an definierten Schnittstellen, vergleichbar mit Hyperlinks im weltweiten Netz, mit andern Spielen verbinden. Eine komplexe Struktur entsteht, die von den Tänzern selbst geschaffen und weiter entwickelt werden kann. „If/then“ geht hervor aus den Überlegungen Siegals zu Fragen der Struktur, der Improvisation, der Interaktion zwischen Tänzern, die wiederum grundsätzliche Fragen der menschlichen und gesellschaftlichen Kommunikation ins Spiel bringen.

Vielleicht ist es bezeichnend, dass Richard Siegal zur gleichen Zeit, in der er mit „If/then“ seine theoretischen Grundlagen legt, „The new 45“ choreographiert – ein ganz anderes, leichtes, virtuoses und zugängliches Stück, das heute zum Repertoire der Junior Company des Bayrischen Staatsballetts gehört. Offen und selbstbestimmt bleiben, sich nicht von anderen festlegen lassen, das ist weiterhin Richard Siegals Devise.

Das If/then-Prinzip mit seinen zahlreichen Schnittstellen öffnet die Choreographie auch für andere Disziplinen und die neuen Medien. 2005 gründet Richard Siegal „TheBakery“ als interdisziplinäre Plattform für die Erforschung und Produktion von visuellen Medien, Tanz und Performance. Im Dialog mit Software-Designern, Philosophen, Architekten, Klang- und Videokünstlern entstehen Arbeiten mit Elementen eines neuen kreativen Vokabulars. „Homo ludens“ beispielsweise, das Richard Siegal mit Frédéric Bevilacqua vom Pariser IRCAM 2009 realisiert, setzt die Bewegungen von Tänzern in Beziehung zu den Bewegungen einer digitalen Maschine.

Die Auseinandersetzung mit der digitalen Technologie, mit sozialen Medien, mit „crowds“ und online communities führt zu weitergehenden Fragen: Was sind die Mechanismen, die Kultur generieren? Wie werden Ideen von einem Körper zum andern weitergereicht? Wie dynamisch und durchlässig sind communities? Wie funktioniert menschliche Kooperation? Was bedeuten Ownership und geistiges Eigentum? Wie und warum kommen Menschen zusammen?

Als Reaktion auf diese Fragen entsteht 2010 „©oPirates“ zur Eröffnung der Münchner Tanzbiennale. Siegal bringt ganz unterschiedliche Gruppen zusammen: zeitgenössische Tänzer, eine ungarische Volkstanzgruppe, Parkour-Läufer bis hin zu schwulen Schuhplattlern und Anhängern der Piratenpartei. Diese Gruppen kommunizieren, lernen voneinander, und eine neue Gemeinschaft entsteht. Bei der Aufführung in Form einer philosophischen Party vermischt sich das Publikum mit den Akteuren, eine neue Kommunikation, eine neue „crowd“ bildet sich. Siegal choreographiert hier kein Stück, sondern mit dem Format der Clubparty eine möglichst geeignete Situation, um diese Interaktion, den tänzerischen Austausch, die Diskussion zwischen den Menschen anzuregen und so Fragestellungen einer modernen Gesellschaft zu reflektieren.

„©oPirates“ ist auch Richard Siegals Reaktion auf seinen Aufenthalt in München. Möglichst schnell will er sich als Bürger der Stadt integrieren, will – anders als in Frankfurt, wo die Compagnie auch oft eine geschlossene Umgebung darstellte, – mit vielen Menschen in Kontakt treten. Seit 2010 erhält er für drei Jahre die Optionsförderung für freie Tanzgruppen. „Ein Privileg. Die Stadt München hat mir ungeheuer viel ermöglicht“, sagt er. Sein Kontakt zur Stadt reicht aber weiter zurück. Seit 2008 ist er „Choreographer in Residence“ am Muffatwerk, das auch als Produzent vieler Siegal-Stücke auftritt. Für München ist Siegal ein Gewinn. Seine Produktionen erfahren überregionale Aufmerksamkeit und werden international koproduziert; er initiiert interdisziplinäre Workshops, nimmt an einem Think Tank teil, der Kunst und Wissenschaft zusammenbringt; seine Arbeiten werden vom Forschungszentrum „Sound and Movement“ der LMU wissenschaftlich begleitet. „In München ist Richard Siegal nicht nur als intellektueller ´spiritus rector`, sondern ganz real und sehr körperlich präsent“, erkennt die Preis-Jury an. Von München aus geht Richard Siegal als eigenständiger Künstler in die Welt.

Für das Goethe-Institut ist er als hervorragender Repräsentant der deutschen Tanzszene zu einem wichtigen Partner geworden. In „Logobi 5“ von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen, exerziert Richard Siegal mit dem ivorischen Tänzer Franck Edmond Yao Konkurrenz, Kooperation und interkulturellen Austausch ganz praktisch durch. Er wird für seine Rolle mit dem „Faust“ ausgezeichnet und tourt mit dem Stück – unterstützt vom Goethe-Institut – erfolgreich durch Afrika. Mit CIVIC MIMIC gastiert er Anfang 2012 am Goethe-Institut Bangalore.

Die Ansätze von „©oPirates“, mit großen, vor Ort ansässigen Gruppen zu arbeiten und lokale Akteure bewusst einzubeziehen, trifft sich mit dem Bestreben des Goethe-Instituts, in vielen Gastländern gemeinsam mit seinen Kultur-Partnern den öffentlichen Raum künstlerisch zu vermessen und neu zu deuten. Die Tanzperformance „Stadt und Tanz“ im sibirischen Nowosibirsk, die ich – damals noch als Regionalleiter des Goethe-Instituts in Moskau – aus der Ferne verfolgt habe, fand 2011 als Höhepunkt eines zweijährigen Projekts am Fluss Ob statt. Vor der Kulisse der sibirischen Metropole begegnen sich zeitgenössischer Tanz und sibirische Folklore, klassisches Ballett und Street Dance. Im postsowjetischen Kontext, wo der öffentliche Raum einem strengen Verhaltenskodex unterworfen ist, entsteht eine eigene, neue Wahrnehmung von urbaner Gemeinschaft.

Ein ähnliches Projekt im Rahmen des Tanzfestivals „Dancing Egyptian Spring“ im ägyptischen Alexandria stieß in der aufgeheizten politischen Situation an interkulturelle Grenzen. Und auch das gehört dazu: Die Erkenntnis, dass Kulturaustausch Lernbereitschaft erfordert, dass nicht alles geht, mit dem wir den anderen mit Offenheit und Demut entgegentreten. Auch das lebt Richard Siegal und dafür zolle ich ihm großen Respekt.

Zwischen „Black Swan“ und „Unitxt“, zwischen „Homo Ludens“ und „©oPirates“. „Ich möchte nicht, dass mein Territorium von anderen definiert wird. Ich möchte es selbst definieren“, sagt Richard Siegal.

Das klingt nach innovativen Ideen, künstlerischer Selbstbestimmung und einem Schuss kreativer Unberechenbarkeit.

Eben nach einer „starken Zukunft“.