Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

15. Dezember 2020
Als Deutscher steht man nicht überall im Zentrum

Interview mit der Präsidentin des Goethe-Instituts Prof. Dr. Carola Lentz in der "Berliner Zeitung" über ihren Blick auf Deutschland und ihre Adoptivfamilie aus Ghana

Seit Mitte November ist Carola Lentz (66) die neue Präsidentin des Goethe-Instituts, das neben den zwölf Häusern in Deutschland 157 Institute überall auf der Welt hat, in 98 Ländern. Wir sprechen per Skype. So können wir sehen, dass die roten Regale in ihrem Büro in der deutschen Zentrale in München noch ziemlich leer sind.

Frau Lentz, ich wollte Sie als erstes nach einem außergewöhnlichen Detail aus Ihrem Lebenslauf fragen. Sie sind von einer ghanaischen Familie adoptiert worden. Wie kam das?

So außergewöhnlich ist das für Ethnologen gar nicht. Bei meinem ersten Aufenthalt in Ghana 1987 habe ich durch die Vermittlung eines deutschen Afrikaforschers einen ghanaischen Linguisten getroffen. Ich wollte damals das ganze Land kennenlernen, auch wo es keine touristische Infrastruktur gab. Der ghanaische Kollege sagte, ich könne im Norden bei seiner Familie unterkommen. Bei dieser Familie, in einem Dorf auf einem Bauerngehöft, war ich dann eine ganze Woche. Der Vater meines Kollegen war Katechet. Also Christ. Von 1929 an hat die katholische Kirche in Gestalt der Weißen Väter im Nordwesten des heutigen Ghana missioniert. Allabendlich hat dieser Mann mit mir Gespräche geführt, wollte viel über die deutsche Kultur erfahren und erzählte mir von seiner Gesellschaft. Was mich sehr beeindruckt hat, war das Selbstbewusstsein, mit dem er seine Kultur mit unserer verglichen hat. Ende der Woche hatte er mich sozusagen geprüft. Er sagte, wenn ich nach Accra zurückkäme, sollte ich meinem Kollegen sagen: „Deine Schwester ist gekommen“. Für mich war die Frage: Wie sehr lasse ich mich darauf ein? Es hat sich dann ergeben, dass ich mit diesem Kollegen lange Jahre zusammengearbeitet habe. Für mich und alle Afrikaforscher meiner Generation war und ist es wichtig, „mit“ den Menschen vor Ort und nicht nur „über“ sie zu forschen. Mein ghanaischer Kollege war dann auch zwei Jahre lang Lektor an der Freien Universität Berlin, hat mit mir zusammen Studenten unterrichtet, und wir sind mit studentischen Gruppen nach Ghana gefahren.

Besteht die Beziehung zu Ihrer Adoptivfamilie noch?

Die besteht bis heute. Gerade ist eine der Frauen aus dem Haushalt gestorben, die sich besonders um mich gekümmert hat; wir haben mit den Verwandten in Ghana und in aller Welt per Zoom-Konferenz die Beerdigung organisiert, und ich habe dafür auch Geld nach Ghana geschickt.

Sie haben anders als Ihre Vorgänger keine Erfahrung im politischen Betrieb, in politischen Institutionen.

Es ist nicht so, als hätte ich mein ganzes Leben in Afrika verbracht. Ich war mehrere Jahre lang Vizepräsidentin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ich war vier Jahre lang Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie. Das sind nicht nur wissenschaftliche, das sind auch politische Ämter. Ich habe auch internationale Forschungsteams geleitet und fühle mich gut auf mein neues Amt vorbereitet. Wenn ich diese Erfahrung nicht hätte, wäre ich auch nicht gefragt worden.

Sie sind die erste Präsidentin des Goethe-Instituts, die lange im Ausland gelebt hat, die so viel Weltläufigkeit mitbringt. Wie wird sich das auf Ihre Arbeit auswirken?

Mir ist der Blick von außen sehr vertraut. Natürlich bin ich in Deutschland sozialisiert worden, ich bin kulturell hier viel unterwegs und finde, dass es sich im Vergleich zu vielen Orten auf dieser Welt hier sehr gut leben lässt, jedenfalls was mich angeht, meine relativ privilegierte Gruppe. Auslandserfahrungen bringen aber einfach mit sich, dass man lernt, mit fremden Augen auf die eigene Gesellschaft zu schauen. Und zum Beispiel auch das Privilegierte unserer Situation zu erkennen, jedenfalls im Großen und Ganzen. Als Ethnologe geht man oft weg von den Hauptstädten. Ich habe auf dem Dorf ohne Wasser und Strom gelebt und weiß, wie sich das anfühlt. Und man lernt einfach, dass man als Deutscher nicht überall im Zentrum der Welt steht. Das relativiert die Proportionen. Und das bringe ich mit, auch im Sinne einer selbstverständlichen Partnerschaftlichkeit, von der ich in Begegnungen mit „Fremden“ grundsätzlich ausgehe. Und meine Neugier habe ich in den vielen Jahrzehnten auch nicht verloren.

Sie haben in Ihrer Antrittsrede lange über „wax prints“ gesprochen, diese bunten Batikstoffe, die wir als typisch afrikanisch empfinden, die sich aber gar nicht so eindeutig einer Kultur zuordnen lassen. Sollte das auch eine Absage an alle sein, die auf Eindeutigkeit und Abgrenzung pochen?

Es geht in der Tat um vielfache Perspektiven. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch bestimme Werte vertreten: Demokratie, Gleichheit, Partizipation, kulturelle Vielfalt. Anhand der wax prints lässt sich gut zeigen, dass im historischen Verlauf immer andere Gruppen sagen: Das ist unseres. Und ich glaube, dieses Wechselspiel gibt es bei uns auch. Was wir heute für spezifisch europäische Werte halten, ist auch historisch geworden und nicht unwandelbar. Die Offenheit für Neues finde ich ganz wichtig. Zugleich brauchen wir Verständnis für das Bedürfnis von Menschen, sich zu verankern, Heimaten zu haben, vernetzt und verbunden zu sein und nicht ambivalent und vieldeutig. Je zugehöriger man sich fühlt, desto offener kann man wiederum dafür sein, was andere zu bieten haben. Mein ghanaischer Vater war ein gutes Beispiel dafür.

Das Goethe-Institut hat ja den Auftrag, ein aktuelles Deutschlandbild zu vermitteln. Wie sieht das aus?

Vielstimmigkeit gehört auf jeden Fall dazu. Wir sind ein föderales Land, und was das heißen kann, sieht man ja derzeit in Zusammenhang mit der Pandemie. Wir wollen auch einen Eindruck von Debatten und Positionen vermitteln, die hier in Deutschland stattfinden. Und wir wollen zeigen, dass Deutschland sehr viel diverser geworden ist. In der deutschen Gesellschaft ist ein Reichtum an Welterfahrung präsent. Auch das gehört zu dem Deutschlandbild, das es nach außen zu vermitteln gilt.

Das Goethe-Institut hat lange Zeit vor allem exportiert, aber Sie haben nun schon öfter betont, den Rückfluss stärken zu wollen. Was meinen Sie damit?

Obwohl unsere Gesellschaft so divers geworden ist, sind globale internationale Stimmen bei bestimmten Themen noch viel zu selten zu hören. Ich wünsche mir, dass sie stärker zu hören und zu sehen sind. Vor allem auch jenseits der kosmopolitischen Zentren, also den Großstädten, in denen Theaterproduktionen und Dichterlesungen mit Künstlern aus aller Welt stattfinden. Ich finde es wichtig, dass das – wie es so schön heißt – auch in der Fläche stattfindet. Und das Goethe-Institut hat durch seine Standorte in aller Welt die besten Voraussetzungen, das zu befördern.

Ihr Vorgänger Klaus-Dieter Lehmann ist einer der Gründungsväter des Humboldt-Forums in Berlin, in dem künftig auch die außereuropäischen Sammlungen präsentiert werden sollen. In dem Zusammenhang steht die Frage nach dem Umgang mit Objekten aus der Kolonialzeit im Raum. Wie ist da Ihre Haltung?

Wo es sich eindeutig um in Unrechtskontexten erworbene Objekte handelt, müssen sie zurückgegeben werden. Das gilt besonders für die menschlichen Überreste. Daneben gibt es eine große Anzahl von Objekten, wo das nicht eindeutig ist und keine Rückgabeforderungen bestehen. In Bezug auf diese gibt es beim Goethe-Institut ein Pilotprojekt, das Invisible-Inventory-Programm. Hier arbeiten das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln und das Weltkulturen-Museum in Frankfurt am Main mit den National Museums of Kenya sowie zwei Künstlerkollektiven zusammen. Es geht zunächst darum, die Tausenden Objekte aus Kenia, die in Sammlungen in Deutschland archiviert sind, digital zugänglich zu machen. Zudem sollen drei Ausstellungen, unterstützt auch von der Kulturstiftung des Bundes, entstehen. Wichtig ist mir, dass man die Debatte um diese Objekte mit der Rückgabe nicht abschließt, sondern Verbindungen stiftet und Netzwerke stärkt. Dann entsteht durch die Rückgabe nicht nur ein Mangel, sondern man bekommt auch etwas dafür, nämlich möglicherweise sehr interessante Formen der Kooperation, des Ko-Kuratierens.

In den Goethe-Instituten in aller Welt wird zwischen Ortskräften und aus Deutschland Entsandten unterschieden, wobei letztere wesentlich besser bezahlt werden. Ist das Goethe-Institut aus finanziellen Gründen auf diese Zweiklassengesellschaft angewiesen?

Das ist ein Thema, das ich wichtig finde. Dabei muss man wissen, dass die Bezahlung der Ortskräfte weltweit sehr unterschiedlich ist. In manchen Ländern gibt es starke Unterschiede zwischen Entsandten und Ortskräften, anderswo werden sie fast gleich bezahlt. Es orientiert sich dabei am lokalen Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht. Das Goethe-Institut kann das auch nicht frei entscheiden, sondern muss sich wegen des sogenannten Besserstellungsverbots mit den Botschaften abstimmen. Und es gibt die von Ihnen angesprochenen finanziellen Zwänge, die einfach nicht zu leugnen sind. Wir werden sicher auch darüber nachdenken, inwiefern der Begriff Ortskräfte angemessen ist. Denn es handelt sich nicht zwingend um Staatsbürger des Landes, in dem sie agieren. Das können auch Deutsche sein. Der Begriff suggeriert aber, dass die Ortskräfte keine kosmopolitischen Lebensläufe haben. Dabei haben sie das oft. Das sind Themen, die ich in meine Präsidentschaft mitnehme, die das Goethe-Institut selbstkritisch reflektiert.

Und die Bezahlung?

Dieses Thema betrifft nicht nur das Goethe-Institut, sondern auch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, also die GIZ, wir haben das beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), bei den Botschaften, eigentlich bei allen deutschen Institutionen, die mit Entsandten arbeiten. Mich interessiert auch, wie unsere Partnerorganisationen über das Thema denken. Und welche Möglichkeiten es gibt, Dinge da anders zu gestalten – auch im Sinne der Dekolonisierung der eigenen Institution. Denn das ist die große Überschrift über diesem Thema.

Es werden nächstes Jahr in Palermo und Rio de Janeiro Kulturinstitute eröffnet, die von Deutschland und Frankreich gemeinsam betrieben werden. Weitere sind geplant. Ist das die Zukunft?

Ein Teil unserer Zukunft wird es sein, im europäischen Rahmen multilateral Kulturarbeit zu betreiben. Das ist ein Trend, der Herausforderungen mit sich bringt, der aber auch Chancen bietet.

Nächstes Jahr wird das Goethe-Institut 70 Jahre alt. Was ist geplant?

Ich persönlich arbeite an einem Buch über die Geschichte und möchte zeigen, dass die innovativen Impulse für das Goethe-Institut und seine Antworten auf weltpolitische und innenpolitische Umbrüche häufig nicht unbedingt nur aus dem Zentrum gekommen sind, sondern aus dem weltweiten Netzwerk, durch die Kooperation von Mitarbeiterinnen. Ich möchte auch darstellen, wie es sich vom Kulturexporteur, der nach dem Krieg im Ausland ein Bild vom guten Deutschland vermitteln wollte, zu einem Institut entwickelt hat, das sich auf Netzwerke hin orientiert, das Begegnungen vermitteln will und Inhalte nicht schon präformiert hat.

Sie gendern beim Sprechen, oder?

Ich bin da ganz unorthodox. Wir versuchen im Goethe-Institut genderbewusst zu formulieren, und wir haben da viele Möglichkeiten. Manchmal hilft das mit dem Sternchen, manchmal ist es in Texten schrecklich zu lesen. Es kann auch sein, dass man manchmal einfach den weiblichen Plural nimmt. Ich finde das wichtig, und ich freue mich auch sehr, dass ich hier in einer Organisation arbeite, wo wir bis zur zweiten Führungsebene, also der Ebene unter dem Vorstand, in den Führungspositionen einen Frauenanteil von mindestens 50 Prozent haben. Wenn nicht mehr.

Das Gespräch führte Susanne Lenz.

Top