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1. September 2021
Eröffnung Deutsch-Israelische Literaturtage in Berlin

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Ich bin eine begeisterte Leserin von Literatur—und darum freut es mich besonders, dass ich Sie heute Abend zu der diesjährigen Ausgabe der Deutsch-Israelischen Literaturtage begrüßen darf. Zurzeit lese ich gerade mit großem Interesse von Zeruya Shalev „Schicksal“. Shalev verwebt die Lebensgeschichten und Traumata zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen mit der Geschichte Israels. Die biografische Spurensuche von Rachel und Atara, ihre bruchstückhaften Erinnerungen und Reflektionen, springen zwischen konfliktbeladener Staatsgründung und gesellschaftspolitischen Zerwürfnissen der Gegenwart hin und her. Es geht um Liebe und Verrat, politische Visionen und gescheiterte Illusionen. Und darum, dass es keine eindeutigen, klaren Interpretationen, keine letzten Bewertungen geben kann.
Mein intensivstes Leseerlebnis während des ersten Lockdowns letztes Jahr war Amos Oz, „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Ob man es nun als Roman oder als Autobiografie liest: auch diese Lebenserinnerungen bieten tiefe Einblicke in die israelische Geschichte, die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern und die vielfältigen europäischen Netzwerke, in die sie eingespannt sind. Vor allem erzählt Oz von der Anziehungskraft von Büchern—von Literatur und Wissenschaft—die der kleine Amos durch seinen Bibliothekars-Vater und seinen gelehrten Großonkel Joseph Klausner kennenlernt. Bücher, aber auch die magischen Geschichten, die die Mutter erzählt, werden dem Jungen zum Überlebensmittel. Und das eigene Schreiben wird zur Annäherung an die Geschichte der Eltern und besonders der depressiven Mutter.

Literatur hat diese großartige Fähigkeit, komplexe Realitäten zu beschreiben. Sie kann in den individuellen, unverwechselbaren Geschichten die große Geschichte sichtbar machen. Sie arbeitet nicht mit holzschnittartigem Schwarz-Weiß; wenn sie uns zu packen vermag, dann weil sie ihre Personen nicht auf ideologisierte, unversöhnliche, eindimensionale Positionen reduziert. Literatur ist dadurch auch fähig, Bestehendes in Frage zu stellen und scheinbar Unlösbares weiterzudenken. Sie lotet Verschiedenheit aus, verbindet aber auch. Sie bietet Raum für Reflexionen über Geschichte, Gegenwärtiges und Zukünftiges.

Wir brauchen diesen Resonanz- und Reflexionsraum, den Literatur bieten kann, gerade in Zeiten der Krise. Tagtäglich strömt eine Flut an Nachrichten über unsere Bildschirme. Im Moment sind es bedrückende Bilder aus Afghanistan; vor kurzem standen die Proteste und Repressionen in Belarus im Mittelpunkt. Vor drei Wochen war es die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, die auf dramatische Weise an die Realität der Klimakrise erinnerte. Dann gibt es bedrohliche schleichende Entwicklungen, die darüber fast in Vergessenheit geraten können: illiberale Diskurse und Verschwörungstheorien, die sich mit jeder Krise wie Corona verschärfen; der zunehmende Antisemitismus, der sich immer wieder auch in offener Gewalt manifestiert.

Diese Nachrichten treffen uns mit solcher Geschwindigkeit, dass wir sie kaum verarbeiten können. Wir sind in Gefahr, abzustumpfen, den Kanal zu wechseln, den Fernseher, Computer oder das Smartphone auszuschalten.

Ich glaube, gerade hier liegt eine besondere Chance von Literatur: Sie bietet uns an, einen Moment lang innezuhalten. Zu Lesen, zu Atmen, einen Text auf uns wirken zu lassen. Die Verhältnisse und Krisen anders zu beleuchten. Die Perspektiven zu vervielfältigen.

Die Texte und Gespräche der neun Autorinnen und Autoren aus Israel und Deutschland, die wir in den kommenden zwei Tagen erleben dürfen, können sicher keine einfachen Antworten auf die aktuellen Krisen geben. Aber sie können uns Wege eröffnen, um nicht nur die Welt, sondern auch unser Gegenüber—andere Gesellschaften—besser zu verstehen. Sie können uns Möglichkeiten aufzeigen für einen offenen, konstruktiven Umgang miteinander—etwas, was gerade für die deutsch-israelischen Beziehungen von großer Bedeutung ist.

Angesichts der rezenten Debatten über den israelisch-palästinensischen Konflikt, über Antisemitismus und wie damit umzugehen ist, über die aktuellen Verschiebungen im erinnerungspolitischen Diskurs müssen wir an offenem Dialog und lebendiger Begegnung festhalten. Die Deutsch-Israelischen Literaturtage—eine schon 15 Jahre alte Tradition—zeigen eindrücklich, dass ein kontinuierlicher, neugieriger und respektvoller Austausch zu komplexen Problemen möglich ist. Für solche offenen Dialogräume müssen und wollen wir uns stark machen!

Ich freue mich auf die kommenden Diskussionen—heute Abend hier im Deutschen Theater, mit Etgar Keret und Terezia Mora, und dann am Donnerstag und Sonnabend mit weiteren Autorinnen und Autoren im Literaturhaus.

Bevor wir nun in den Abend starten, möchte ich herzlich danken: der Heinrich-Böll-Stiftung für die immer wieder ausgezeichnete Zusammenarbeit; den Teams des Goethe-Instituts und der Böll-Stiftung, die diese Zusammenkunft geplant und realisiert haben; dem Deutschen Theater, wo wir heute zu Gast ein dürfen; dem Literaturhaus Berlin, das in diesem Jahr Kooperationspartner ist. Und natürlich: allen beteiligten Autorinnen und Autoren sowie ihren Übersetzerinnen und Übersetzern, ohne die dieser literarische Austausch nicht möglich wäre.

Ich wünsche uns allen einen anregenden Abend!

 

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