16. September 2023
Rede beim Sommerfest der Kulturakademie Tarabya
- Es gilt das gesprochene Wort -
Ich freue mich, heute mit Ihnen allen gemeinsam das Sommerfestival der Kulturakademie Tarabya feiern zu dürfen—für mich eine hochwillkommene Premiere, für viele von Ihnen eine liebgewordene Tradition!
Doch ehe ich mich Tarabya zuwende, möchte ich einen Moment innehalten und der Opfer des schrecklichen Erbebens Anfang Februar gedenken. Mein herzliches Beileid! Mit mindestens 50.000 Toten und unzähligen Verletzten, mit einer halben Million zerstörter oder beschädigter Gebäude, sind die Dimensionen dieser Katastrophe unfassbar groß. Das Goethe-Institut hat im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht zu helfen, wo es ging, und gemeinsam mit seinen Partnern in der betroffenen Region geschaut, wo es mittel- und langfristige Unterstützung anbieten kann. Dabei ging es insbesondere um kulturelle Bildungsangebote für Kinder- und Jugendliche und—mit den Projekten Culture Civic und Orte der Kultur—um die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen kulturelle Infrastruktur. Auch die Kulturakademie Tarabya leistet einen wichtigen Beitrag: sie stellt ihren Alumni-Fonds in diesem Jahr gezielt und ausschließlich für Projekte zur Verfügung, die betroffene Kunstschaffende und Institutionen fördern.
Vor zwei Jahren, im September 2021, durfte ich im Kunstraum Kreuzberg das „Festival Bosporus“ eröffnen, mit dem wir in Berlin das zehnjährige Bestehen der Kulturakademie Tarabya gefeiert haben. Die Kuratorinnen Çağla Ilk und Stéphane Bauer zeigten eine beeindruckende Auswahl von Arbeiten, die deutsche und türkische Stipendiatinnen in Tarabya geschaffen oder doch zumindest begonnen hatten. Besonders anrührend fand ich Mehtap Baydus filigrane Porzellanskulpturen, weibliche Körper, deren Fragilität die Verletzlichkeit und Bedrohtheit von Frauen evozierten. Fasziniert hat mich auch die Videoinstallation „Souvenirs“ von Hakan Savaş Mican: Seine Mutter hatte bei ihrer Rückkehr in die Türkei, nach einem Leben als Arbeitsmigrantin in Deutschland, ihr angesammeltes Geschirr in einem Berliner Keller deponiert, das der Sohn nun hochholte, um seine Mutter zur Geschichte einzelner Stücke zu befragen.
Das sind nur zwei Beispiele, in denen auch türkisch-deutsch Beziehungsgeschichten aufscheinen. Lassen Sie mich mit einem dritten Beispiel, einem Gedicht, die Magie anklingen lassen, mit der Tarabya und Istanbul seine künstlerischen Gäste in den Bann zieht. José F. A. Oliver—Präsident des PEN-Zentrums Deutschland und wie Mican ein Gastarbeiterkind, aber mit spanischen Eltern und nicht in Berlin, sondern im Schwarzwald aufgewachsen—verbrachte vor zehn Jahren, im Spätsommer und Herbst 2013, einige Monate in Tarabya. Eines seiner „21 Gedichte aus Istanbul“ (Matthes & Seitz, 2016) klingt so:
abendstimmung, august in T.
die kellner räumen die tischdecken ab
am kai sitzt ein liebespaar
aus kopftuch & kopftuch
in einem boot auf deck
schläft satt ein windmatrose
im schatten einer verstümmelten pappel
liegt schwer eine schwangere hündin, sie bellt nicht
daneben zerfallen villen wie träume
ein radfahrer schwimmt durch die luft
die toten angeln die zeit in die nacht.
Hier sind wir. Kein ich allein.
„Hier sind wir. Kein ich allein…“: Tatsächlich ist die Kulturakademie—2011 als gemeinsames Projekt des Auswärtigen Amts bzw. der Botschaft Ankara und des Goethe-Instituts gegründet—ein deutsch-türkischer Begegnungsort mit großer Strahlkraft. Sie erreicht mit ihren Veranstaltungen mehr als 15.000 Menschen diverser Zielgruppen in der Türkei und in Deutschland—etwa mit den Sommerfestivals in Tarabya, mit diversen Exkursionen und mit Kooperationen auch außerhalb Istanbuls, so zum Beispiel mit der Mardin Biennale oder mit dem schon erwähnten Bosporus-Festival in Berlin.
Die Kulturakademie Tarabya bietet einen geschützten Raum für kontemplatives Arbeiten, fernab vom Trubel der 18-Millionen-Stadt Istanbul, und ist zugleich ein idealer Ausgangspunkt, um dorthin aufzubrechen: zur Inspiration für die eigene künstlerische Arbeit, aber auch zu Begegnungen mit der ungemein lebendigen Kulturszene Istanbuls. Es herrscht keine Produktionspflicht, doch sind die Ergebnisse überzeugend—ich habe drei Beispiele erwähnt, und es gäbe unzählige mehr. Gerade die Kombination aus Abgeschiedenheit, Möglichkeiten zur Vernetzung und Ergebnisoffenheit scheint eine ideale Mischung zu ergeben. Und die künstlerischen Arbeiten der bisherigen und aktuellen Stipendiat:innen sind nicht nur für sich genommen beeindruckend, sie eröffnen auch neue Perspektiven auf das deutsch-türkische Verhältnis und thematisieren durchaus kritische Themen beider Gesellschaften.
Tarabya ist ein Ort der Freiheit und des ungebrochenen Austausches. Das Goethe-Institut sieht sich hier als glaubwürdiger Vermittler gefordert, der Dialog ermöglicht und künstlerische Freiheit garantiert. Solche Freiräume sind existentiell notwendig. Hier in Tarabya können Gespräche stattfinden, zwischen Künstlerinnen und Kulturmachern, Akademikern und zivilgesellschaftlichen Vertretern, in denen man voneinander lernt und sich gemeinsam weiterentwickelt. Die Kulturakademie—und insbesondere das türkisch-deutsche Koproduktionsstipendium—ermöglicht einen intensiven interdisziplinären und interkulturellen Austausch. Das schafft Raum für neue Perspektiven.
Intensiven Austausch ermöglicht auch das Sommerfestival, das nun schon zum vierten Mal stattfindet. Die Akademie öffnet ihre Türen für zahlreiche Gäste und präsentiert die Arbeiten der aktuellen Stipendiat:innen sowie Projekte von Alumni und ihren Koproduktionspartner:innen, die während ihres Stipendiums entstanden sind oder davon inspiriert wurden. Damit verwandelt sich die Parkanlage an verschiedenen Spielorten performativ, musikalisch und visuell in einen Schauplatz kreativen Schaffens. Ich wünsche Ihnen und uns allen beim Entdecken dieser Vielfalt Vergnügen und Inspirationen!
Ehe wir nun Musik hören, von Elisabetta Lanfredini und Uygur Vura, möchte ich noch herzlichen Dank aussprechen:
—an den deutschen Botschafter Jürgen Schulz als Hausherr
—an die ehemalige stellvertretende Beiratsvorsitzende Monika Grütters und das aktuelle Beiratsmitglied Susanne Hierl
—an die Jury: den Vorsitzenden Rainer Hermann, die stellvertretende Vorsitzende Esra Kücük sowie Cymin Samawatie, Yilmaz Dziewior und Ayse Polat
—an die Allianz Foundation und insbesondere ihrem Vorstand Esra Kücük für die Förderung der türkisch-deutschen Koproduktionsstipendien
—und last but not least an die Akademieleitung Lena Alpozan und Rüdiger Kappes sowie ihrem Team Cigdem Ikiisik, Tijen Togay, Sinem Tekel, Mirjam Weth und Gülsah Demir.
Herzlichen Dank an Sie alle!