24. April 2015
Russland und Deutschland als Kulturnation

Impulsreferat von Klaus-Dieter Lehmann zur Tagung „70 Jahre seit dem Ende des 2. Weltkrieges“ der Konrad-Adenauer-Stiftung
 
 

Am 9. November 2014 konnten wir das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls feiern. Nach Jahrzehnten der Teilung hatten die Deutschen wieder in Freiheit und Einheit zusammen gefunden.
 
Die Einzigartigkeit dieser friedlichen Revolution, die in der DDR entstand und zu einem gemeinsamen Erleben wurde, ist Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und beeinflusst unser Denken und Handeln. Realpolitisch wurde es durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag und den 1990 geschlossenen Friedens- und Nachbarschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und Deutschland sowie dem Kulturabkommen von 1992 zwischen Russland und Deutschland besiegelt. 1994 verließen die letzten russischen Truppen Deutschland. Nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges, mit dem Deutschland die Sowjetunion überzogen hatte, nach dem Kalten Krieg, der ein geteiltes Deutschland zum Frontstaat machte und die Sowjetunion einerseits zum Gegner und andrerseits zur Besatzungsmacht, begann ein neues Kapitel gemeinsamer Beziehungen, das nicht nur politisch und wirtschaftlich sondern auch kulturell lebhaftes Interesse auslöste.
 
Das Phänomen der Tabuisierung prägte lange den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte und der kulturellen Überlieferung und rückte die gesamte Vergangenheit in die Ferne, schnitt sie ab und zerbrach die Einheit der geschichtlichen Zeit. Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte haben neue Zugänge geschaffen und die Reflexion über die eigene Geschichte intensiviert, vielleicht eine „Identität in der Verantwortung“ ermöglicht. Es lohnt sich jedenfalls über die deutsche Kultur nachzudenken.
 
Sprache und Kultur waren für Deutschland der Kern der Gemeinsamkeit, bevor es im 19. Jahrhundert eine politische Nation wurde. Das hat Deutschlands lange historische Entwicklung geprägt.
 
Trotz dieses nationalen Ansatzes ist der geistige wie geographische Bezugsraum für den Umgang mit den kulturellen Zeugnissen auch noch heute weniger die Nation als vielmehr die Region oder die Stadt. Es macht durchaus auch den kulturellen Reichtum aus. Deutschland verfügt über eine reiche Infrastruktur von Theatern, Konzerthäusern, Museen und Bibliotheken.
 
Auch wenn die politischen und ökonomischen Aspekte die öffentliche Diskussion der Wiedervereinigung bestimmten, so war dieser Prozess doch in ganz entscheidendem Maß ein kulturelles Ereignis. Der Ausruf „Wir sind ein Volk“ macht deutlich, dass man sich der gemeinsamen Kultur, Geschichte und Sprache bewusst war, dass diese Bindung auch über die Jahrzehnte der Teilung Bestand hatte. So war die Präsenz von Thomas Mann im Goethe-Jahr 1949 in Frankfurt am Main und in Weimar und im Schillerjahr 1955 in Weimar von hoher Symbolkraft für die Einheit Deutschlands durch ihre Dichter.
 
Der Kultur-Artikel 35 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 beginnt mit dem Satz: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation.“
 
Wie war es mit der Gestaltung der Lebenswirklichkeiten und den Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur in der Bundesrepublik und der DDR?
 
In den Besatzungszonen der Westalliierten wurde konsequent auf der Grundlage eines Rechtsstaates ein Demokratisierungsprozess begonnen. Mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 waren die föderale Struktur des Landes und die Kulturhoheit der Länder fester Bestandteil der Verfassung. Kommunen finanzierten und förderten einen Großteil kultureller Einrichtungen, Theater, Museen, Bibliotheken; ebenso die Länder. Der Bund war subsidiär tätig. Ein hohes Gut war die Freiheit von Kunst und Kultur. Ebenso hatte die Meinungsfreiheit einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Politik setzte die Rahmenbedingungen, mischte sich aber nicht in Inhalt und Gestaltung ein. Das Kunsturteil von politischen oder staatlichen Funktionsinhabern sollte nicht maßgebend sein. Die Bundesrepublik definierte sich nach dem Grundgesetz nicht nur als Rechts- und Sozialstaat sondern auch als Kulturstaat. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes von 1974 enthält Art. 5 Abs. 3 GG, der die Kunstfreiheit garantiert, nicht nur den Schutz vor Eingriffen des Staates in den künstlerischen Bereich, sondern er definiert zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern. Die Selbstorganisation von Künstlern und Kulturakteuren erhielt einen gestaltenden Einfluss. Das private Stiftungswesen entwickelte sich wieder als bürgerschaftliches Handeln für Kunst und Kultur.
 
Ganz anders verlief die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone. Bereits im Juni 1945 wurde der Kulturbund von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) gegründet, mit Johannes Becher als erstem Präsidenten. Mit der Gründung der DDR wurde er strukturell in Staat und SED eingebunden. Die Parteikader der SED hatten das Sagen. Der Kulturbund wirkte mit staatlichen Mitteln und politischer Einflussnahme in alle Fachausschüsse, zentrale Kommissionen und Klubhäuser hinein. Für die Bildende Kunst war das wichtigste Instrument für die sozialistische Kulturpolitik der Verband Bildender Künstler (VBK der DDR). Er steuerte die Förderung der Künstler, vergab öffentliche Aufträge, organisierte Ausstellungen, ein straff organisiertes System. Ohne die Mitgliedschaft waren die Künstler faktisch ausgeschlossen. Die offizielle Aufgabe der Kultur in der DDR war die Förderung des Sozialismus. Artikel 18 der Verfassung der DDR erwähnt die Kultur nur als „sozialistische Kultur“. Nur Kunst im Dienst des Sozialismus erhält Schutz und Förderung durch den Staat. Diese Politik wurde konsequent unterstützt durch eine zentralistisch territoriale Neugliederung des Landes mit nachgeordneten Bezirken. Das öffentlich geförderte Kulturleben war bewusst groß und vielfältig, der Zugang durch niedrige Preise attraktiv. In der DDR gab es zuletzt 18.000 Bibliotheken, 3.000 Theater, 700 Museen und 850 Klubhäuser.
 
Bei aller Bevormundung und Einflussnahme gab es kritische Künstler und Subkulturen in der DDR. Immer wieder stifteten Künstler Unruhe, gab es Konflikte um die sozialistische Kunst. So wurde z.B. Bernhard Heisig 1964 als Rektor der Leipziger Kunsthochschule abberufen. Als Höhepunkt der Repressionen bleibt in Erinnerung die Ausbürgerung 1976 von Wolf Biermann. In der 1990 erschienen Dokumentation „Ausgebürgert“ führt Werner Schmidt (GD Staatliche Kunstsammlungen Dresden) insgesamt 655 ausgereiste bildende Künstler auf.
 
Es dauerte nach der Wiedervereinigung Jahre, bis eine gemeinsame öffentliche Wahrnehmung der Kunst aus den getrennten Zeiten entstand. 2003 gab es die erste umfassende Ausstellung „Kunst aus der DDR“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin mit einer beachtlichen Publikumsresonanz. Ein gelungenes Beispiel für die Zusammenführung der Künstler aus Ost und West war die künstlerische Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes mit zeitgenössischer Kunst von ostdeutschen Künstlern, von aus der DDR emigrierten Künstlern und von westdeutschen Künstlern.
 
Interessant ist ein Blick auf die Entwicklung der Literatur. Während man noch in den 50er Jahren von einer einheitlichen deutschen Literatur ausging, erkannte man in den späten 60er Jahren eine eigenständige DDR-Literatur mit Vertretern wie Christa Wolf, Johannes Bobrowski, Günter de Bruyn, Peter Hacks, Wolf Biermann oder Heiner Müller. Es gab keinen Zweifel an der verbindenden Funktion einer einheitlichen deutschen Sprache, aber die unterschiedlichen Erfahrungswelten begründeten eigene Themen. Das änderte sich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte, so dass ab den 80er Jahre kaum Differenzen zwischen ost- und westdeutscher Literatur erkennbar waren.
Der Buchmarkt selbst war reglementiert und unterlag der Kontrolle durch das Kulturministerium. Restriktionen wechselten mit Phasen einer gewissen Liberalisierung. Zensur blieb der ständige Begleiter.
 
Man kann heute feststellen, dass der Einigungsprozess bei den jungen Künstlern keine ideologischen Unterschiede mehr aufweist sondern wieder einen gemeinsamen Erlebnisraum und eine gemeinsam gestaltete Lebenswirklichkeit hat.
 
Inzwischen ist auch ein neues entspanntes Selbstbewusstsein zur eigenen Kultur entstanden, so gar eine neue Lust am Historischen ist bemerkbar. Daniel Kehlmann veröffentlichte einen Roman über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss „Die Vermessung der Welt“ und hatte damit nicht nur in Deutschland einen Riesenerfolg. Uwe Timm, Uwe Tellkamp (Deutscher Buchpreis 2008), Ingo Schulze, Julia Francke oder jetzt Lutz Seiler, der mit „Kruso“ den Deutschen Buchpreis 2014 erhielt, besetzen erfolgreich neue Themen aus der jüngeren deutschen Geschichte und begeistern Kritiker und Publikum.
 
Hanno Rautenberg beschrieb vor einiger Zeit den Einfluss von Zeitgeschichte auf deutsche Künstler in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ und damit über das Deutsche in der Kunst. Viele Künstler, die heute in der Welt überragende Beachtung finden, seien entweder durch die Folgen der nationalsozialistischen Barbarei oder durch die Überwindung des Systemwechsels der DDR geprägt worden. Und er nennt beispielhaft Gerhard Richter, Joseph Beuys, Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Georg Baselitz, A.R. Penck, Neo Rauch.
 
Die Kultureinrichtungen wie Museen, Archive oder Bibliotheken waren durch den Krieg erheblich zerstört, die Sammlungen teilweise verbrannt, geplündert oder verschleppt. Die Restaurierung und Rekonstruktion der schwer beschädigten Gebäude ging in Westdeutschland einigermaßen zügig voran, während die DDR nur das Allernötigste heilen konnte, besonders galt das für Dresden und Ostberlin. Durch die Luftangriffe 1943 und 1945 war beispielsweise die berühmte Berliner Museumsinsel zum Trümmerfeld geworden, deren Sanierung noch immer andauert.
 
Die im Einzugsbereich der sowjetischen Armee befindlichen Kulturgüter wurden millionenfach durch Trophäenkommissionen in die Sowjetunion verbracht, eine Kriegspraxis, die Hitler schon betrieben hatte. Nach Ende des Krieges lösten die Westalliierten alle Depots auf deutschem Gebiet auf und führten die geraubten Güter in die Herkunftsländer zurück, auch in die Sowjetunion.
 
In den 50er Jahren setzte unter Chrustschow eine überraschende Teil-Rückgabe der von der Roten Armee kriegsbedingt verbrachten Kulturgüter in die DDR ein. Zunächst kamen 1955 die Meisterwerke der Dresdner Gemäldegalerie zurück, unter anderem die Sixtinische Madonna von Raffael. 1958, am 10. Jahrestag der DDR, erfolgte die Rückgabe an die Berliner Museen, unter anderem auch der mächtige Pergamonfries. Es waren mehr als 1,5 Millionen Kunstwerke, mehr als 3 Millionen Bücher und Archiveinheiten. Ohne die Restitution an die DDR wären die Museen in Berlin und Dresden „leere Hüllen“. Heute befinden sich noch immer 1 Million Kunstwerke in Russland. Die Begeisterung und öffentliche Anteilnahme damals war riesengroß, die Menschenschlangen vor den Ausstellungen rissen nicht ab. Heute sind die Museumsinsel und die Dresdner Gemäldesammlungen die meist besuchten Orte überhaupt.
 
Auch die Kunstform des Theaters hat eine spezifische deutsche Ausprägung. Es gibt sicher nicht d a s deutsche Theater als homogene Einheit, aber auf internationalen Festivals ist es unverwechselbar. Was Kritiker und Befürworter dort vereint, ist die Bewunderung für die Vitalität und Expressivität der Schauspieler, aber auch die Fähigkeit, gesellschaftliche Realität auf die Bühne zu holen, nicht als Lehrstück sondern als offene Auseinandersetzung und mit allen Widersprüchen. Im Theater zeigt sich besonders die Diskursfähigkeit, die sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
 
In jedem Fall zählt die deutsche musikalische Landschaft zu den vielfältigsten und anspruchsvollsten Ausprägungen. Das hängt einerseits mit historischen Entwicklungen zusammen, der ehrgeizigen Kleinstaaterei im 18./19.Jahrhundert mit eigenen Orchestern und Theatern, dem Bildungsbürgertum besonders im 19. Jahrhundert, das sich mit dem kulturellen Engagement Freiräume der eigenen Gestaltung gegenüber der staatlichen Obrigkeit verschaffte und der bewussten Förderung der Neuen Musik in der Bundesrepublik bis in die 90er Jahre hinein. Hinzu kommt eine qualitativ hochwertige Ausbildung junger Musiker, die auch viele ausländische Talente nach Deutschland zieht.
 
Es geht bei diesem Thema nicht nur um die sogenannten Landeskinder, es geht um die Menschen, die heute in Deutschland leben und arbeiten, sich für Deutschland entschieden haben und sich kulturell positionieren. Deutschland ist nicht nur ein Zuwanderungsland von qualifizierten Fachkräften für die Industrie. 20 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln leben in Deutschland: Gastarbeiter und deren Kinder, Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge, Asylanten, freiwillige und unfreiwillige Migranten. Es gibt darunter längst Musiker, Schriftsteller, Filmemacher und Bildende Künstler nichtdeutscher Herkunft, die sich ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Kultur verstehen. Die große Attraktivität, die Deutschland so anziehend macht, ist seine Offenheit, sind seine Gestaltungsmöglichkeiten.
 
Beispielhaft will ich hier noch auf die Schriftsteller eingehen. Schon seit 1985 wird der Chamisso-Preis vergeben für Autoren, die einen Sprach- und Kulturwechsel vollzogen haben. Zu Beginn stand noch sehr der eigene biografische Bezug im Fokus. Heute geht diese Literatur immer mehr in Deutschland auf. Die Autoren selbst wollen sich weder ausgrenzen noch einen Sonderstatus haben. Einzig die literarische Qualität soll zählen. Ann Cotton, Sasa Stanisic, Terézia Mora oder Feridun Zaimoglu sind wichtige prominente Stimmen der deutschsprachigen Literatur, die die deutsche Sprache bereichern mit neuen Bildern, Metaphern und Themen.
 
Diese Vielseitigkeit, Offenheit und Neugier an anderen Kulturen, die uns nicht nur Goethe sondern auch Alexander von Humboldt vermittelt haben, sind eine gute Grundlage für den Dialog in einer globalisierten Welt. „Alles ist Wechselwirkung“ äußerte Alexander von Humboldt schon im 19. Jahrhundert.
 
Wir sprechen immer davon, dass Europa aus seiner kulturellen Verschiedenheit heraus lebte und auch künftig leben soll, dass es eine gemeinsame Verantwortung für den europäischen Kulturraum geben soll, dass nach all den früheren Katastrophen die europäischen Kulturen als schöpferische Variationen eines europäischen Grundthemas wirksam sein sollen.
 
Zum kulturellen Europa gehört selbstverständlich auch Russland. Die Literatur, die Musik, das Theater, die Bildenden Künste hatten immer großen Einfluss auf die europäische kulturelle Entwicklung und umgekehrt. Deutschland und Russland wiederum haben eine lange gemeinsame Geschichte, die auf einem starken wechselseitigen Interesse beruht, zum Teil auch auf schicksalhaften Verbindungen. Deutschland und Russland haben die Zeit nach der Wiedervereinigung genutzt, um die kulturellen Partnerschaften zu stärken.
 
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten Russland und Deutschland im kulturellen Austausch eine regelrechte Aufbruchsstimmung, die sich weniger aus der Fortsetzung der Beziehungen aus sozialistischen Zeiten als aus der Neugier auf die neuen künstlerischen Entwicklungen speiste. Es gab eine große Neugier, besonders auf der russischen Seite. Es kam zu Kooperationen und Koproduktionen. Die Verflechtung der Kulturen Deutschlands und Russlands fokussierten sich dabei stark auf die Hauptstädte Berlin und Moskau. In der Bildenden Kunst gab es unter anderem die große Ausstellung 1995 Moskau/Berlin – Berlin /Moskau 1900 – 1950, ein grandioser Erfolg. Die zeitgenössische Fortsetzung Berlin/Moskau – Moskau/Berlin 1950 - 2000 folgte 2003. 2007 konnte man in Moskau und St. Petersburg die faszinierende Merowinger Ausstellung sehen, gemeinsam erarbeitet von deutschen und russischen Kuratoren, die das frühmittelalterliche Europa als Thema hatte, in Deutschland aber wegen der 1945 dort auch gezeigten verschleppten Schätze nicht gezeigt werden konnte. Unter dem Titel „Aufruf zur Alternative“ zeigte das zeitgenössische Museum in Moskau (2012) eine Retrospektive von Joseph Beuys. Das Museum erlebte einen überwältigenden Besucherandrang, alle Künstler und Kunstwissenschaftler schienen versammelt zu sein. Die Beuys-Ausstellung war Teil des Deutschlandjahres in Russland mit rund 1000 Veranstaltungen an 50 verschiedenen Orten, koordiniert vom Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut 2012/2013. Eine Vielzahl von Partnerschaften von Städten und Bundesländern, von Hochschulen, Museen und anderen kulturellen Institutionen in Russland waren beteiligt. Die Zustimmung für Deutschland, zur deutschen Sprache und Kultur konnte deutlich gesteigert werden.
 
Es hat sich gezeigt, welch entscheidenden Beitrag kulturelle Beziehungen für das jeweilige Bild des Anderen beisteuern können, auch über politische Irritationen hinweg. 1000 Veranstaltungen bedeuten tausendfache persönliche und persönlich bereichernde Kontakte, aus denen Glaubwürdigkeit, Kenntnis und Neugier aufeinander entstehen, aus denen wiederum neue Ideen und neue Entwicklungen erwachsen. Diese Form des Dialogs ist wichtiger denn je. Aber es darf kein Dialog der Unverbindlichkeit sein, kein Dialog der abstrakten Prinzipien. Es muss ein Dialog sein, der wirklich Antworten gibt und damit Verantwortung eingeht und übernimmt, ein Dialog des praktischen Handelns, ein Dialog der Offenheit und ein Dialog der Nachhaltigkeit. Grundprinzipien sollten sein: Wertschätzung von Vielfalt, Gleichwertigkeit des Anderen, Interkulturelle Kompetenz der Akteure.
 
Die politischen Rahmenbedingungen sind dafür inzwischen deutlich schwieriger geworden. Die außenpolitischen Verwerfungen durch die Krim-Annexion und die Destabilisierung der Ostukraine wirken sich auch innenpolitisch aus. Zwar ist die Zustimmung für die derzeitige russische Politik im eigenen Land mit 86% sehr hoch, aber flankierend werden die Medien massiv kontrolliert, die politische Opposition marginalisiert und zivilgesellschaftliche Organisationen (NGOs) als ausländische Agenten registriert. 
 
Die beispielhaft aufgeführten Einschränkungen haben bereits Auswirkungen auf die Bereitschaft von ausländischen Künstlern und Autoren, zu Auftritten nach Russland zu gehen und auch auf das partnerschaftliche Arbeiten westlicher Kulturinstitutionen  mit russischen Kultureinrichtungen, die wiederum staatliche Eingriffe befürchten..
 
Trotz des schwierigen politischen Terrains wäre es falsch, einen kulturellen Boykott zu erwägen. Während die Politik sehr formalisierte Vorgehensweisen hat, die Wirtschaft ihre Interessen vertritt, kann die Kultur vielleicht Prozesse anstoßen, wo Stillstand herrscht, Alternativen anbieten, wo Blockaden sind – einfach auch überraschend sein. Den kulturellen Dialog zu nutzen ist in Zeiten von Verwerfungen und Konflikten eine Chance, die auf jeden Fall genutzt werden sollte.
 
Auffallend ist nach wie vor das große Interesse der Jugend an Europa, insbesondere gegenüber dem nicht-politischen Europa mit seinen Bildungs- und Berufschancen, und mit seiner kulturellen Vielfalt. 40% sprechen sich für eine Stärkung der Bindung zum westlichen Europa aus. Die konkreten Arbeitserfahrungen des Goethe-Instituts bestätigen das sehr eindrucksvoll.
 
Das Goethe-Institut verantwortet derzeit ein Jahr der deutschen Sprache und Literatur in Russland mit mehr als 200 Veranstaltungen im ganzen Land. Zur Eröffnung kamen mehr als 18.000 Jugendliche in den Gorki Park mit einem ausgeprägten Interesse für Europa. Es gibt derzeit in Russland rund 1,5 Millionen Deutschlerner. Bei der Eröffnung der Gesamtrussischen Deutschlehrertage in Moskau am 22. November 2014 kamen 1.600 Deutschlehrer zusammen. Ein sprachpolitischer Meilenstein war die Gründung des überregionalen russischen Deutschlehrerverbandes.
 
Der demographische Wandel trifft auch die Russische Föderation. Nachdem die Abwanderungsbewegung qualifizierter Fachkräfte anhält und die im hauptsächlich berufsschulisch ausgerichteten System ausgebildeten Jugendlichen nicht den Anforderungen der Wirtschaft entsprechen, sollen duale Elemente der Berufsausbildung nach deutschem Vorbild eingeführt werden. Das Goethe-Institut Moskau ist Partner im Projekt für das Segment "Berufssprache Deutsch".
 
Offene Gesprächsformen, Austauschprogramme mit jungen Leuten, Bildungsprogramme, deutsch-russische Koproduktionen in der Kultur, ja – aber dazu benötigt man Freiräume und einen entsprechenden Gestaltungsrahmen. Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut! Mit Kultur kann man Politik machen, aber mit Politik kann man keine Kultur machen!
 
Es gilt das gesprochene Wort.