15. November 2015
Vortrag: „Konzert für die Nationen“
Vortrag in der Universität der Künste Berlin von Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann
Die Deutschen haben sich immer wieder in Grundsatzdebatten über ihre eigene Kultur geübt: Kulturnation, Nationalkultur, Leitkultur, kulturelle Identität, Willkommenskultur. Schon Kurt Tucholsky stellte in der Weltbühne in den zwanziger Jahren fest: Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen. Aber inzwischen ist ein neues entspanntes Selbstbewusstsein zur eigenen Kultur entstanden.Zu diesem neuen Selbstbewusstsein tragen auch Veranstaltungen wie das heutige „Konzert für die Nationen“ bei. Hoch talentierte Musikstudentinnen und –studenten aus rund 20 verschiedenen Nationen richten das Konzert heute Abend aus. Die Konzertreihe, begonnen 2001, ist inzwischen nicht nur zu einer guten Tradition geworden, sie bildet auch einen qualitativen Höhepunkt im musikalischen Leben der Universität. Darüber hinaus vermittelt sie bewusst den internationalen Ansatz und Anspruch der Universität, der sich im hohen Anteil ausländischer Studierender dokumentiert. Es muss uns darum gehen, für unsere Kultur keine falsche Ausschließlichkeit zu postulieren, nicht Reservate zu schützen, sondern Entwicklungen aufzunehmen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Dafür sind Einrichtungen wie die Universität der Künste in besonderer Weise geeignet.
Ich empfinde es gerade deshalb als eine besondere Ehre und Freude, die Schirmherrschaft für das diesjährige Konzert übernehmen zu dürfen, zumal mir dieser Ort aus vielen früheren Begegnungen sehr vertraut ist. Als Präsident des weltweiten Goethe-Instituts mit 160 Instituten in fast 100 Ländern der Erde bin ich so etwas wie ein Kulturbotschafter, der versucht in beide Richtungen zu wirken – nach außen und nach innen. Innen und außen sind längst keine getrennten Welten mehr. Alexander von Humboldt hat schon frühzeitig erkannt, „Alles ist Wechselwirkung“! Unser menschliches Zusammenleben ist in erster Linie eine kulturelle Leistung. Ohne einen gleichwertigen kulturellen Dialog lässt sich das nicht bewerkstelligen. Der Musik kommt dabei eine besondere Rolle als Türöffner zu.
Mit rund 1000 Musikprojekten im Jahr initiiert das Goethe-Institut einen Austausch zwischen Künstlerinnen und Künstlern im In- und Ausland. Sowohl im Profi- als auch im Laien- und Nachwuchsbereich finden jährlich zahlreiche Musikprojekte statt, zunehmend auch Koproduktionen, die neue Klangräume öffnen. Dabei wird die gesamte Genre-Palette des Musiklebens abgedeckt – von Alter Musik und Klassik über Jazz, Rock und Pop, Elektronischer Musik bis hin zur Klangkunst und Neuer Musik. Eine nachhaltige Wirkung sehen wir auch bei thematisch orientierten Musikprojekten, die häufig in mehreren Modulen über einen längeren Zeitraum hinweg konzipiert sind. Das kann die Konzentration auf ein Instrument, auf ein Genre oder ein musikalisches Phänomen sein. Zudem spielt Wissenstransfer und Wissensaustausch in der Musikarbeit des Goethe-Instituts eine wichtige Rolle und in dem Zusammenhang Angebote wie Workshops, Meisterklassen, Vorträgen, Diskussionen, Symposien oder Konferenzen.
Kürzlich zitierte Newsweek aus einer Studie der Columbia University New York, bei der untersucht wurde, auf welchen Gebieten Länder am besten abschneiden. So sei es am einfachsten in USA Geld zu verdienen, in Schweden Biotechnologie zu erforschen und in der Türkei jung zu sein. In einer Hinsicht stand Deutschland ganz oben: als Paradies für Künstler, und hier besonders bei Musikern. Öffentliche Gelder ermöglichten eine herausragende Diversität und Qualität für das Publikum, und nirgendwo würden so viel Komponisten und Musiker ausgebildet wie in Deutschland. Die Qualität der Musikhochschulen in Deutschland bekamen ausgezeichnete Beurteilungen.
Das sehen offensichtlich auch viele Studierende aus dem Ausland so. Sie wählen dieses Land mit seiner vielfältigen Angebotssituation im Bereich der Lehre und Forschung, aber auch der Musikpraxis bewusst aus. Schon bei den Aufnahmeprüfungen machen sie eine gute Figur. Der Begriff „deutsche Musik“ ist zunächst auch keine Frage von deutscher Herkunft oder wie immer gearteter „Volksseele“ sondern von musikalischer und intellektueller Sozialisation im deutschen kulturellen Diskurs. In jedem Fall zählt die deutsche musikalische Landschaft zu den vielfältigsten und anspruchvollsten. Das hängt einerseits mit historischen Entwicklungen zusammen, der ehrgeizigen Kleinstaaterei im 18./19.Jahrhundert mit eigenen Orchestern und Theatern, dem Bildungsbürgertum besonders im 19. Jahrhundert, das sich mit dem kulturellen Engagement Freiräume der eigenen Gestaltung gegenüber der staatlichen Obrigkeit verschaffte und der bewussten Förderung der Neuen Musik bis in die 90er Jahre hinein. Musik muss sein, das ist gesellschaftliche Übereinkunft.
Aber was von außen so glanzvoll aussieht, im Vergleich zu anderen Ländern vielleicht auch besser da steht, hat strukturelle Schwächen in der kulturellen Bildung. Die musischen Fächer werden in der schulischen Ausbildung immer stärker reduziert, Musik und Kunsterziehung werden gegenüber den naturwissenschaftlichen Fächern marginalisiert. Das hat negative Auswirkungen bei der Persönlichkeitsbildung, aber auch ganz unmittelbare Defizite beim musikalischen Nachwuchs selbst. Ohne ein breites Reservoir kann es auch keine Auswahl an Spitzentalenten geben. Initiativen, wie „Jedem Kind ein Instrument“, sind Rettungsversuche, um auf die Misere in der Ausbildung aufmerksam zu machen. Deutschland muss dringend in die kulturelle Bildung investieren. Es hat viel zu verlieren.
Kultur und Bildung sind ein Begriffspaar. Nur wenn eine Wertschätzung für Bildung in der Gesellschaft besteht, wird es auch ein vitales öffentliches Interesse geben an der Stärkung der Kunst.
Es geht bei diesem Thema eben nicht nur um die sogenannten Landeskinder, es geht um die Menschen, die in Deutschland leben, studieren und arbeiten, sich für Deutschland temporär oder für immer entscheiden und sich kulturell positionieren. Deutschland ist nicht nur ein Zuwanderungsland von qualifizierten Fachkräften für die Industrie. 20 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln leben in Deutschland: Gastarbeiter und deren Kinder, Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge, Asylanten, freiwillige und unfreiwillige Migranten. Die derzeitige Situation, bedingt durch Flucht und Vertreibung aus Kriegs- und Krisengebieten, hat den Zustrom noch erheblich verstärkt.
Es gibt unter den hier lebenden Migranten längst Musiker, Schriftsteller, Filmemacher und Bildende Künstler nichtdeutscher Herkunft, die sich ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Kultur verstehen. Die große Attraktivität, die Deutschland so anziehend macht, ist seine Offenheit, seine Gestaltungsmöglichkeiten. Es ist das Land, in dem die meisten internationalen Künstler leben und arbeiten. Die künstlerische Freiheit ist ein hohes Gut, ebenso die persönliche Freiheit. Sie sind das entscheidende Ferment. Berlin mit seiner kosmopolitischen Lebensform, seiner Diskursfähigkeit und seiner kulturellen Ausstrahlung tut ein Übriges, diese Auffassung noch zu steigern.
Was für die Integration der vielen Flüchtlinge gilt, nämlich dass die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration ist, gilt übrigens auch für die Studierenden an den Musikhochschulen. Natürlich ermöglichen gute Sprachkenntnisse zunächst einen persönlichen Zugang zum Gastland, zu kulturellen Möglichkeiten, zu Freundschaften, sie schaffen Bindungen.
Aber auch die Weltsprache Musik richtet nicht alles. Sprachkenntnisse sind wichtig für die Integrierung der Studierenden und der Durchdringung des vermittelten Stoffs. Kenntnisse der deutschen Sprache spielen aktuell keine entscheidende Rolle bei der Zulassung, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich Studierende neben den neuen Studieninhalten auch mit Spracherwerb befassen müssten. Im Einzelfall kann der Austausch mit den Dozenten und Mitstudierenden stark eingeschränkt sein, das Erfassen von wesentlichen Studieninhalten erschwert werden und zu Studienabbrüchen führen. Gerade bei der Ausbildung kommt es auf Feinheiten des Verstehens an. Es gibt derzeit keine standardisierten Anforderungen.
Erste "Musikmodule" für Studierende und Musikpraktiker wurden mit der Musikhochschule Würzburg und dem Goethe-Institut Seoul entwickelt und eingesetzt. Eine mögliche Ausweitung und Anwendung auf möglichst alle Musikhochschulen in Deutschland wird derzeit mit der Musikhochschulkonferenz und ihrem Vorsitzendem, dem Präsidenten der Musikhochschule Nürnberg, abgestimmt. Sie vermitteln grundlegende Fachbegriffe und befähigen die Teilnehmer, das Bewerbungsverfahren bei einer Musikhochschule zu bewältigen und sich bei der Aufnahmeprüfung in Deutsch zu verständigen. Die positiven Erfahrungen haben uns ermutigt, das Konzept weiter auszubauen, digital anzubieten und spezifische studienvorbereitende Unterrichtsmaterialien für Studienbewerber aus Ostasien gemeinsam mit der Musikhochschulkonferenz zu entwickeln. Damit können Fachtexte erfasst werden, Gespräche über Interpretationen geführt werden und insgesamt die Kommunikation beim Musizieren gestärkt werden.
Es ist mit der Sprache ähnlich wie mit anderen Kulturgütern: mangelnde Aufmerksamkeit macht sie weniger attraktiv, macht sie weniger reich und ausdrucksstark. Ein wenig mehr Leidenschaft für unsere Sprache wäre angebracht, sie ist es wert. Insofern lasse ich mich hinreißen zu sagen: Auch in der Musik kann es sich auszahlen, Sprachen zu lernen!
Mehr denn je sind in der internationalen Wahrnehmung Kultur und Bildung entscheidende Indikatoren für Zusammenarbeit und Zusammenleben. Die Gefahr ist jedoch groß, dass sich durch die zunehmende Oberflächlichkeit die Lebenswelten unspezifisch vermischen, Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit verloren gehen. Die Gleichwertigkeit der Kulturen der Welt und die Bereitschaft, sich auf andere Kulturen einzulassen, sich zu ihnen ins Verhältnis setzen, das ist gegenüber der früheren Hierarchisierung der Kulturen der richtige Ansatz.
Auch deshalb sollte der Anspruch der Internationalisierung der Universität der Künste begrüßt werden, besonders auch der in der Musik. Ich halte nichts von der Diskussion, ob möglicherweise zu viel ausländische Studierende kommen, zumal etliche nach dem Studium das Land wieder verlassen. Es ist eine Bereicherung und ein gesunder Wettbewerb, der hier stattfindet. Die Studierenden nehmen viel von deutscher Kultur und Mentalität mit, von Sprache und Kontakten. Sie sind diejenigen, die zu potentiellen Partnern für uns werden. Umgekehrt gehen wir auch davon aus, dass unsere deutschen Studierenden in den Gastländern offen aufgenommen werden und zum kulturellen Dialog beitragen können.
Der Anschluss der Musikarbeit im Ausland, der die dortigen kulturellen Ausprägungen aufnimmt, kann auch für uns interessant sein, nicht so sehr im Sinn einer Vermischung als vielmehr einer Koexistenz, wie z.B. bei virtuoser und komplexer Monophonie oder anderer Intervallstrukturen oder anspruchsvoller rhythmischer Konzepte.
Wir leben in einer Zeit, in der die Ökonomisierung alle Lebensbereiche durchdringt. Die marktwirtschaftlichen Prozesse, die früher für das Produzieren von Waren und deren Vertrieb gedacht waren, lösen Übersprungeffekte aus, auch in der Kultur. Kunst als Event, als Spektakel und Lifestyle, als dekoratives Element. Gemessen werden die Quoten, erwartet werden die großen Zahlen.
Kultur, Kunst und Musik beliefern aber nicht in erster Linie die Showrooms unserer Zeit. Sie sind vielmehr die Grundlage unserer Gesellschaft, um offen zu sein, um Neues zu denken. Nicht nur das Nützliche und Rationale sondern auch das Unverhoffte, Überraschende, Kreative und Unnützliche sind für die Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft wichtig. Kultur ist ein entscheidendes Element für unser Zusammenleben, oder pathetisch ausgedrückt, für unser Überleben. Es bedarf deshalb dieser Haltepunkte zur Orientierung, dieser Beziehung in einer kulturell gestalteten Nähe und Erfahrung, auch der Erfahrung von Zeit, vor dem Hintergrund dessen, was Bestand hat. Und es bedarf einer ausgeprägten Weltneugier.
Den musikalischen Bogen werden wir auch heute Abend schlagen können. Die große Klammer bilden die Beethovenkompositionen. Jörg Widmann stellt sich mit seinem Stück auch in den Kontext von Beethoven, indem er musikalische Charakteristika von ihm aufgreift. Mit dem aus dem Iran stammenden Komponisten Ehsan Khatibi, der bis zu seiner Ausreise sehr engagiert im Bereich der zeitgenössischen Musik dort tätig war, erleben wir eine Uraufführung. Er hat schon mit einigen Werken Aufsehen erregt und Preise gewonnen. Entsprechend gespannt dürfen wir heute Abend sein.
Einen anregenden Musikabend wünsche ich uns mit dem Symphonieorchester der UdK beim Konzert für die Nationen.
Es gilt das gesprochene Wort.