27. April 2018
Rahmenprogramm Karlspreis in Aachen
Vortrag des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann
Anrede,Europas Werden als gemeinsamer Kulturraum, getragen von gemeinsamer Verantwortung, ist Teil meiner eigenen Biografie und damit meines Denkens und Handelns. Ich gehöre zur sogenannten „Nachkriegsgeneration". In Breslau geboren, heute zu Polen gehörend, musste ich meine Heimat verlassen, war Flüchtling im eigenen Land, aufgewachsen in Westdeutschland, konfrontiert mit der Hinterlassenschaft des NS- Deutschland, ein Land isoliert in der Welt. Deshalb mussten wir, die Nachkriegsgeneration, erst einmal unsere eigene Geschichte reflektieren und uns mit den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, bevor wir uns der Zukunft zuwenden konnten. Eines haben wir gelernt: Nie wieder!
Natürlich war in einer derart geschlossenen kleinen Welt die Neugier auf die große Welt besonders groß. Als fünfzehnjähriger Schüler überschritt ich das erste Mal die deutsch-französische Grenze. Empfangen wurde ich zunächst mit dem Schimpfwort „boche". Der Erbfeind Deutschland war in den Köpfen präsent – kein Wunder.
Es kam dann zu vielerlei persönlichen Begegnungen. Begegnungen, das war das Zauberwort. Die persönlichen Kontakte lösten die Klischees auf und erlaubten eine eigene Beurteilung. So lernte ich in den Schulferien Italien und Spanien, Skandinavien und Großbritannien, das damalige Jugoslawien und weitere europäische Länder kennen. Das Interesse beschränkte sich bald nicht mehr auf das Reisen. Wir beschäftigten uns mit der Literatur der Länder, mit der Bildenden Kunst, wir kannten die Filme und ihre Künstler. Europa wurde zu einem kulturellen Projekt, gerade wegen seines Reichtums und seiner Vielfalt der Kulturen. Wir gelangten zur Überzeugung: kein Europäer soll sich in einem europäischen Land als Fremder fühlen. Und mit dem Mauerfall und den offenen Grenzen wurde diese Auffassung auch politisch bestätigt.
Europa, so war unser Eindruck, kann aufgrund seiner Diskursfähigkeit, seiner gegenseitigen Anerkennung von Gleichwertigkeit und der Wertschätzung von Vielfalt ein Beispiel für Zukunft sein.
Radikalisierung in Europa
Inzwischen stehen wir vor Entwicklungen, die uns zum Teil fassungslos machen, Entwicklungen von Gewalt und Abschottung, von Angst und Radikalisierung, von Ressentiments und Feindbildern. Wo ist das Innovationspotential Europas? Kapitulieren wir vor der Zukunft aus Angst vor Verlusten, aus Angst vor der Welt, aus Angst vor Veränderungen?
Der Zulauf zu Europas neuen Rechten ist ungebrochen. Jüngst hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung in 28 Ländern untersucht, was die treibenden Kräfte sind. Es hat sich gezeigt: Der Erfolg der Populisten speist sich vor allem aus der Angst vor der Globalisierung. Die Studie hat auch gezeigt: Die Menschen, die am wenigsten persönliche Berührungspunkte mit „dem Fremden" haben, fürchten es am meisten. Globalisierungskritische Menschen fürchten in erster Linie die Einwanderung. Sie haben wenig Kontakt mit Ausländern, fürchten Migration und äußern häufiger ausländerfeindliche Gefühle. Sie sind skeptischer gegenüber der Politik und gegenüber der EU.
Sobald populistische Rhetorik Teil des öffentlichen Diskurses wird, sind die Folgen unvorhersehbar, wie das Referendum über Großbritanniens Austritt aus der EU gezeigt hat. Wenige Stunden nach dem Brexit wurde öffentlich, dass seine Befürworter mit gefälschten Zahlen gearbeitet hatten und bewusst Ängste geschürt haben. Die Analyse zeigte auch, dass es weniger die jungen Menschen waren, die sich verführen ließen. Leider haben zu wenig von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Ich glaube, die jungen Europäer haben gemerkt, dass das Versprechen Europas, die Pluralität, die Offenheit und die Freizügigkeit einer freien Berufswahl, des Wohnortes und der Niederlassungsmöglichkeiten nicht nur eine reizvolle Lebensperspektive ist, sondern genutzt werden kann, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, auch in Notzeiten Optionen zu haben. Dazu sollten sie sich auch äußern.
Die europäischen Werte
Ich bin überzeugt: Die europäischen Werte sind unsere Basis, um die es sich lohnt, argumentativ zu kämpfen.
Europa ist keine unverbindliche „Salatschüssel", sie ist auch kein „Schmelztiegel", bei dem Profile und Konturen der einzelnen Länder homogenisiert werden. Für mich ist Europa eher zu vergleichen mit einem „Mosaik", gefasst von einer gemeinsamen europäischen Verantwortung und getragen von einem Untergrund aus Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Vermittlungsprobleme der EU
Die Europäische Union hat offensichtlich noch immer Vermittlungsprobleme im Hinblick auf eine Gemeinschaft. Drei will ich kurz nennen:
- Die EU sieht sich selber zu technokratisch, zu sehr nur als Serviceeinrichtung. Jaques Delors hat in seiner oft zitierten Rede von 1992 „Europa eine Seele geben" die Notwendigkeit einer emotionalen und spirituellen Grundierung Europas zum Ausdruck gebracht, ohne die eine europäische Idee gefährdet sei. Dieses Narrativ steht noch immer aus.
- Die EU wird in erster Linie als ökonomisches Projekt gesehen Immer mehr Lebensbereiche werden marktwirtschaftlichen Prinzipien untergeordnet. Auch die Kultur gerät in Gefahr, zunehmend am Nützlichen und Gewinnbringenden gemessen zu werden. Kultur ist ein öffentliches Gut und der Markt kann nicht allein bestimmend sein.
- Die EU hat sträflich vernachlässigt zu thematisieren, dass wir in Europa nicht nur auf einer Insel der Glückseligkeit leben, sondern dass wir auch Verpflichtungen
gegenüber anderen Regionen in der Welt haben. Schon 2011 hat man die Augen vor den Toten im Mittelmeer verschlossen und auf die große Zahl von Geflüchteten 2015/2016 war man europäisch nicht eingestellt. Begriffe wie Solidarität, Humanität, Anerkennung und Respekt kommen im Diskurs über Migration im europäischen Maßstab nicht vor. Ohne eine solche europäische Neujustierung zur Eingliederung von Migranten, die eine Teilhabe ermöglicht, lassen sich die verändernden gesellschaftlichen Strukturen aber nicht gestalten. Es bedarf eines gemeinsamen Asylrechts und Einwanderungsgesetzes, die auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie formuliert sind und die europäischen Grundwerte beachten.
Integrationspolitik in Deutschland
Deutschland hat ein beeindruckendes Bild von Willkommenskultur 2015/2016 gegenüber den Migranten gegeben. Aber dabei kann es nicht bleiben. Dem Willkommen muss eine wirkliche Kultur der Teilhabe folgen. Geflüchtete wollen nicht Opfer bleiben sondern eine verlässliche Integration erleben. Parallelgesellschaften sind Gift für das Zusammenleben, wechselseitige Prozesse sind gefragt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Anteil von Migranten weiter wächst und unsere Gesellschaft dauerhaft verändern wird. Deshalb müssen wir sie aktiv ausgestalten!
Dazu gehören eine realistische Lagebeurteilung und eine qualifizierte und differenzierte Förderung durch Spracherwerb, Eingliederung in die Arbeitswelt und soziale Kontakte. Der Multikulturalismus mit seinem teilweise falsch verstandenen Toleranz-Verständnis kann nicht die Leitlinie sein. Er erklärt alle Kulturen und Haltungen als gleichwertig, auch wenn sie intolerant sind. Der demokratische Pluralismus, der für eine offene Gesellschaft steht und sich auf das Grundgesetz beruft, vertritt Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Religionsfreiheit und Gleichberechtigung. Ihn gilt es zu stärken und zu verteidigen. Deshalb kann es auch in einem Rechtsstaat wie Deutschland keine Existenzberechtigung für ein Clan-System geben. Integration erfolgt immer individuell. Clans bilden abgeschottete Parallelgesellschaften. Dies ist auch ein Problembereich auf europäischer Ebene, da Clan-Mitglieder europäisch zunehmend vernetzt sind.
Nachbarschaft
Die weitgehend ökonomische Ausrichtung der EU reicht offensichtlich nicht aus, um eine gemeinsame Verantwortung und ein solidarisches Bewusstsein zu entwickeln. Deutschland wird zum einen stellvertretend für die EU als starke Wirtschaftsmacht abgestraft und zum anderen als beliebtestes Land klassifiziert. Sicher ist, dass sich Deutschland als Mittelland mit neun Nachbarn besonders um die Ausgestaltung der Nachbarschaft kümmern muss. Die Politik kann sich um die Anbahnung gutnachbarschaftlicher Beziehungen bemühen, mit Leben erfüllt werden sie nicht durch politische Eliten sondern durch praktisches Handeln der Menschen. Erneut geht es um den Begriff Begegnung. Europa wird stärker, je besser sich seine Bewohner kennenlernen. Letztlich ist unser menschliches Zusammenleben eine kulturelle Leistung. Anfangen sollte man in den Grenzregionen, mit Zusammenarbeit in der Wirtschaft, im Tourismus, im Sport und in der Kultur. Die Erfahrungen von verlässlicher oder kreativer Zusammenarbeit liefern eine entscheidende Motivation. Ausstellungen, Festivals, Städtepartnerschaften, Jugendaustausch schaffen lebendige Beziehungen. Mehrsprachigkeit und Übersetzungsförderung unterstützen und Koproduktionen von Theatern und Orchestern organisieren, Journalistenaustausch anregen – all das belebt die kulturelle nachbarschaftliche Verständigung.
Europäisches Kulturerbe
Nachbarschaft ist ein pragmatischer Ansatz, der aufgrund nationaler Grenzen aktuell Übergänge und Austausch schafft. Das europäische Selbstverständnis beruht jedoch prinzipiell auf einem gemeinsamen Kulturerbe mit einer tiefen historischen Dimension: Antike, Renaissance und Aufklärung, verbunden mit einem umfassenden Wandel der Sozialstruktur, mit neuen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Perspektiven.
In einer Zeit, die so sehr durch ökonomische Denkweisen und erhebliche Veränderungen der Arbeitswelt geprägt ist, die durch Globalisierung und Digitalisierung eine enorme Beschleunigung erfährt und die durch Zuwanderung zu veränderten Gesellschaftsstrukturen kommt, ist es kein Zufall, dass die Europäische Kommission den Vorschlag für ein Europäisches Kulturerbejahr eingebracht hat, dem der EU-Ministerrat 2017 zugestimmt hat.
Im Mittelpunkt der Förderinitiative steht das Gemeinschaftliche und Verbindende europäischer Kultur, das wieder ins Bewusstsein gerückt werden soll und damit einen Beitrag zur Zukunft des Kontinents leisten soll. Europa braucht eine Rückbesinnung auf das, was uns zusammenhält und zugleich neue Impulse vermittelt. Kultur benötigt aber auch selbst Wissen, Geschichte und Tradition. Durch Wissen lernen wir verstehen und Zusammenhänge über Generationen begreifen. Mit der Bildung lernen wir, Maßstäbe zu setzen und uns zu orientieren – im Eigenen und im Fremden. Die Geschichte lehrt uns, dass wir auch hätten anders sein können und warum wir es nicht geworden sind, und die Tradition verbürgt, dass wir in bestimmten Lebensformen stehen und uns nicht täglich neu erfinden müssen. Gemeinsames kulturelles Erbe ist Vielfalt und Reichtum zugleich. Es steht nicht im Widerspruch zu Europa sondern kann die wechselseitigen kulturellen Beeinflussungen verdeutlichen.
Im Unterschied zu den westeuropäischen Gesellschaften gibt es für die ostmitteleuropäischen Gesellschaften eine Ungleichzeitigkeit beim Eintreten in die Europäische Gemeinschaft. Die Zäsur von 1989 wird als „Rückkehr nach Europa" begriffen, mit der weniger die EU-Integration gemeint war, als die Chance, die durch die NS- und Sowjetdiktaturen angegriffene Identität als demokratische Nationalstaaten wiederzugewinnen. Der Nationalstaat erhielt noch einmal den Status eines Fortschrittskonzeptes.
Derzeit erleben wir aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen und der nationalistischen Tendenzen ein Auseinanderdriften der ost- und westeuropäischen Staaten. Ein Zusammenhalt kann nur erreicht werden, wenn den unterschiedlichen Entwicklungsaspekten besser Rechnung getragen wird – im Sinn einer gemeinsamen Verantwortung für einen europäischen Kulturraum. Das Kulturerbejahr könnte hier Brücken schlagen. Denn eine der Prämissen ist: alle können mitmachen. Gerade junge Menschen sind besonders angesprochen. Das bürgerschaftliche Engagement ist gefragt und grenzüberschreitende Projekte werden bewusst gestärkt.
Die Europäische Union stellt für das Themenjahr 8 Millionen € zur Verfügung. Für die Umsetzung auf nationaler Ebene sind die jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten verantwortlich. Der Bund fördert ausgewählte Projekte im ersten Jahr mit 3,6 Millionen €. Weitere Mittel stellen Länder und Kommunen bereit.
Die europäischen Verknüpfungen stehen bei den deutschen Beiträgen zum Kulturerbejahr im Mittelpunkt. Die Grundidee ist, das Europäische im Lokalen entdecken. Bundesweit haben sich bereits jetzt mehr als 200 Projekte angemeldet. Themenschwerpunkte sind: Austausch und Bewegung; Grenzräume und Nachbarschaft; Die Europäische Stadt; Erinnern und Aufbruch; Gelebtes Erbe. Der Fokus liegt auf Orten und Landschaften, Denkmälern und Erinnerungsorten, Bräuche und Sprachen. Es geht nicht um das Konservieren sondern um die Relevanz für das heutige Zusammenleben. Von Bedeutung über das Jahr hinaus wird auch der European Cultural Heritage Summit „Sharing Heritage – Sharing Values" vom 18. – 24. Juni in Berlin sein. Im Rahmen von mehr als 30 Veranstaltungen wird dort über die Rolle des kulturellen Erbes und das Europa der Zukunft diskutiert werden.
Europa – das kulturelle Projekt
Europa ist nicht zuletzt ein kulturelles Projekt. Das ist inzwischen bewusster geworden. Es erlaubt einerseits Vielfalt und andrerseits Gemeinsamkeit. Blaise Pascal hat den Satz geprägt: „Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht zur Vielfalt gliedert, ist Tyrannei."
Es gilt das gesprochene Wort!