1. Oktober 2020
Überzeugungsarbeit

Beitrag von Klaus-Dieter Lehmann in der Publikation zum Vereinigungsjubiläum der Deutschen Nationalbibliothek

Von Mühen, Zweifeln und Hoffnungen, dem Schmieden von Allianzen und erfolgreichen Weichenstellungen: ein Blick in die Werkstatt der Wiedervereinigung

Im Mai 1988 wurde ich als Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main berufen. Im Juli des gleichen Jahres besuchte ich die Deutsche Bücherei in Leipzig in meiner neuen Funktion. Es ging mir um konkrete Schritte zum Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den beiden Bibliotheken. Sehr schnell einigte man sich auf den Austausch von Experten, um die bibliografische Erschließung effizienter zu gestalten und gemeinsame Normdateien zu erarbeiten. Schon im November 1988 wurde das Arbeitsprogramm begonnen. Für 1989 wurde nach den positiven Erfahrungen ein differenziertes Arbeitsprogramm vereinbart, auf der Basis eines gegenseitigen Personalaustausches.

Die Voraussetzungen für diese Annäherung waren bereits formal durch das Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. Mai 1986 geschaffen worden. Im Oktober 1987 feierte die Deutsche Bücherei ihr 75-jähriges Bestehen, zu dem auch Günter Pflug als damaliger Generaldirektor der Deutschen Bibliothek eingeladen war. Umgekehrt war Helmut Rötzsch, Generaldirektor der Deutschen Bücherei, Gast bei der Amtsübergabe 1988 in Frankfurt am Main. Die beginnende Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland war nicht zu übersehen. In den folgenden Monaten des Jahres 1989 überstürzten sich die Ereignisse. Die Leipziger Montagsdemonstrationen, die ab dem 4. September 1989 stattfanden, forderten die Veränderung der politischen Verhältnisse. Die friedlichen Massendemonstrationen breiteten sich über die ganze DDR aus, bis es schließlich am 9. November 1989 zum Berliner Mauerfall kam.

So wie viele 1989 nur eine bessere DDR wollten, so wollten viele nur eine bessere Deutsche Bücherei – ohne Fusion mit der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Auch bei den Frankfurter Kolleginnen und Kollegen gab es Zurückhaltung gegenüber solch tiefgreifenden Veränderungen und der Notwendigkeit zu teilen. Schließlich waren fast 45 Jahre vergangen, in denen sich die beiden Bibliotheken in Ost und West bei gleicher Aufgabenstellung getrennt entwickelt hatten, in unterschiedlichen politischen Kontexten und Denkstrukturen. Es war deshalb nur verständlich, dass die Auswirkungen der politischen Umwälzungen für die beiden Bibliotheken nicht nur ein organisatorisches oder juristisches Problem waren, sondern ein zutiefst menschlicher Prozess. Zu groß waren die Unterschiede, zu groß war die persönliche Verunsicherung, zu ungeklärt waren die Rahmenbedingungen, zu wenig kannte man sich untereinander. Würde ein Standort abgewickelt werden? Wenn ja, welcher? Würde ein kooperatives Arbeiten möglich sein? Kommt es zu einer feindlichen Übernahme? Fragen über Fragen und noch keine schlüssigen Antworten.

Bei den ersten Treffen im Jahr 1989 entstand sehr schnell in den gemeinsamen fachlichen Arbeitsgruppen eine konstruktive
Arbeitsatmosphäre, die sich auf die gleichwertige fachliche Expertise stützte. Es bestand die Bereitschaft, unterschiedliche Auffassungen auszuhalten und im Diskurs konsensfähig zu machen und so schrittweise zu einem Vereinigungsmodell zu kommen. Die Standorte Leipzig und Frankfurt sollten erhalten bleiben, zugleich wollte aber eine vertretbare wirtschaftliche und zukunftsfähige Lösung gefunden werden. Nur so konnte es gelingen, das Modell politisch und in der Öffentlichkeit zu legitimieren, aber auch nach innen glaubhaft zu vermitteln. Gerade die interne Überzeugungsarbeit war wichtig, denn man arbeitete nicht in einem geschützten Raum, immer wieder musste man sich gegenüber existenziellen Ängsten behaupten, die durch Desinformation und Ressentiments entstanden. Transparenz wurde durch wiederholte Belegschaftsversammlungen erreicht, durch die Informationsverfälschungen vermieden werden konnten.

Die Hauptaspekte waren: Beide Bibliotheken müssen in ihrer Funktionsfähigkeit und Fachkompetenz erhalten bleiben, die Beschaffung, Literaturerschließung und die nationalbibliografischen Dienste erfolgen arbeitsteilig ohne Doppelarbeit, jeder Standort vertritt einen spezifischen Schwerpunkt, Leipzig mit dem Buch- und Schriftmuseum und der Bestandserhaltung, Frankfurt mit der informationstechnischen Zuständigkeit und digitalen Anwendungen. Am 24. Januar 1990 konnte in einer Schlussredaktion, abgehalten auf halbem Weg zwischen Leipzig und Frankfurt am Main, das Konzept einer vereinten Nationalbibliothek verabschiedet werden. Die bibliothekarischen Fachleute hatten ihre Arbeit getan. Sie hatten ein Konzept entwickelt, das ökonomisch vertretbar, politisch sinnvoll und bibliothekarisch überzeugend war.

Jetzt galt es die Allianzen zu schmieden, die auf der Grundlage des bibliothekarischen Modells den Weg in eine gesellschaftliche Realität ebnen konnten. Sowohl die Deutsche Bücherei als auch die Deutsche Bibliothek verdanken ihre Existenz der Initiative des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, sowohl 1912 als auch 1946. Verleger und Buchhändler waren also die natürlichen Verbündeten. Am 5. April 1990 fanden in Wiesbaden die Buchhändlertage statt. Dort haben die beiden Generaldirektoren mit der Unterstützung der Verleger und ihrer Bereitschaft, künftig zwei Pflichtexemplare abzuliefern, eine „Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bibliothek und der Deutschen Bücherei zur Zusammenarbeit in einem künftig vereinten Deutschland“ unterzeichnet. In der Folge wurde ein Memorandum zur zukünftigen vereinten Bibliothek für Frankfurt dem Bundesinnenministerium und für Leipzig dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft in Berlin vorgelegt.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble äußerte sich am 2. Mai 1990 zustimmend zu den Vereinigungsplänen und sprach erstmals in der Öffentlichkeit von der Deutschen Nationalbibliothek. Damit war der Weg frei für die verbindliche Planungsgrundlage, die am 18. Juni 1990 Eingang in den Einigungsvertrag fand. Die traditionell dem Buch verbundenen Standorte Leipzig und Frankfurt hatten die Symbolkraft nutzen können, um die Zukunft zu gewinnen. Schon am 3. Januar 1991 erschien das erste Heft des wöchentlichen Verzeichnisses der Deutschen Nationalbibliografie als Ergebnis eines gemeinsamen Arbeitsprozesses.

Die Bibliotheksexperten in Leipzig und Frankfurt hatten damit entscheidend dazu beigetragen, den zerrütteten Zustand der Nachkriegszeit zu heilen und ein neues Kapitel für die deutsche Nationalbibliothek aufzuschlagen. Dies war ein guter Anlass nach all den Mühen, Zweifeln und Hoffnungen, nicht nur gemeinsam zu arbeiten, sondern auch gemeinsam zu feiern. Und so kam es am 15. Mai 1992 zum ersten gemeinsamen Bibliotheksfest in Sonneborn (Thüringen), in der Nähe von Gotha, mit einem Fußballmatch zwischen Leipzig und Frankfurt, mit Kabarett und Theater, mit Lesungen und Spaziergängen.

Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen. Das Konzept für die Deutsche Nationalbibliothek hat nicht nur seine Bewährungsprobe bestanden, es hat auch die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung geliefert. So konnte in Frankfurt am Main im Jahr 1997 ein Neubau mit einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur eröffnet werden. Und in Leipzig wurde nach der aufwändigen Restaurierung des Jugendstilgebäudes 2011 ein eindrucksvoller Erweiterungsbau für das Deutsche Buch- und Schriftmuseum und das Deutsche Musikarchiv errichtet. Die Benutzung vor Ort spricht in ihrer Intensität für sich. Längst sind auch die digitalen Publikationen integraler Bestandteil des Sammelauftrags. Eine entsprechende gesetzliche Vorschrift ist 2006 in Kraft getreten.

Im Kreis der Nationalbibliotheken dieser Welt bildet die Deutsche Nationalbibliothek einen wichtigen Netzknoten als kulturelles Gedächtnis. Der Zugang, den die beiden Häuser heute verarbeiten und verzeichnen, liegt täglich bei rund 8.000 Titeln, davon mehr als zwei Drittel in digitaler Form. Ohne die entsprechende Informationsinfrastruktur, ohne den international
erarbeiteten Standard und ohne die Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wäre diese Nachhaltigkeit nicht erreicht worden.

Klaus-Dieter Lehmann ist Präsident des Goethe-Instituts. 1990 war er Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main, nach der Wiedervereinigung führte er die Häuser in Frankfurt und Leipzig sowie das Deutsche Musikarchiv Berlin organisatorisch, zunächst unter dem Namen „Die Deutsche Bibliothek“, zusammen.